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IV.

Professor Willy gab unsern vor acht Tagen eingelieferten deutschen Aufsatz: »Lessings Humanismus und Nathan der Weise« kritisierend zurück. Der Ausfall der Arbeiten hatte ihn wenig befriedigt. Ich glaubte es gern, wenn er mit den anderen so unzufrieden war, wie ich in diesem kritischen Augenblick mit der meinigen. Noch gestern hatte ich Schlagododro, dessen Antipathie gegen das Judentum zu bekämpfen, mir als teure Pflicht erschien, ganze Stellen meines Aufsatzes aus dem Gedächtnis recitiert; hatte ihn mit dem Tempelherrn verglichen, dem Manne mit der bitteren Schale und dem süßen Herzenskern; Jettchen mit Recha und konsequenter Weise I. I. mit Nathan, mich bescheidentlich mit dem großdenkenden, vorurteilsfreien Saladin. Ich hatte freilich in meinem Aufsatz, den ich mit flammender Stirn und pochendem Herzen geschrieben, mein Allerbestes zu geben geglaubt; aber unser Allerbestes erscheint uns in schwachen Stunden als ein Allerschlechtestes. Dies aber war für mich eine jener schwachen Stunden – ich machte mich auf eine fürchterliche Blamage gefaßt.

Und der fatale Ausgang schien gewiß, als jetzt der Professor, nachdem alle übrigen Arbeiten zurückgegeben waren, als das letzte ein blaues Heft in die Hand nahm, das ich nur zu wohl kannte.

Eine kleine fürchterliche Pause, in welcher er seiner Gewohnheit gemäß, mit gesenkten Augen dastand, die er jetzt langsam auf mich richtete, während ich die meinen schloß und nur den einen Wunsch hatte, daß ich ebenso auch die Ohren möchte schließen können.

Und nun hob seine Stimme wieder an, seltsam weich und zitternd von einer Erregung, welche die ersten Worte fast unverständlich machte:

Ich habe hier noch einen Aufsatz, den ich mir bis zuletzt aufgespart. Aber es steht geschrieben, die Letzten sollen die Ersten werden. Und dieser letzte ist der erste, ist der beste, ist der einzige, der mich befriedigt, der mich so befriedigt hat, daß ich darüber das traurige Resultat im übrigen freilich nicht verschmerzen kann, aber doch weniger schmerzlich empfinde. Denn wenn auch nur in der Seele eines Jünglings von so vielen ein Funken des heiligen Feuers glimmt, welches Lessings große Seele ganz durchglühte, und das er ganz ausgeatmet hat in das Hohe Lied reinster Humanität, als welcher sein »Nathan« durch alle Zeiten klingen wird – nun so ist dieses Feuer trotz alledem, – trotz der banausisch-materialistischen Gesinnung, welche in unsern Tagen die Gemüter der Jugend selbst mit ihrem herzerkältenden Hauche streift, – noch nicht erloschen; so braucht man nicht zu verzweifeln, ob auch, wie der Dichter sagt, »in trübster Nacht der Hoffnung letzte Sterne schwinden«; so darf man, so muß man hoffen, daß, was in dem einen lebt, zum Leben wieder erwachen wird auch in den andern; ja, daß der eine berufen und auserwählt sein mag zum Erwecker dieses Lebens in den andern. Wie denn nicht umsonst geschrieben steht, man soll das Licht nicht unter den Scheffel stellen, damit es leuchte vor den Leuten, auf daß sie sich die Augen reiben und erkennen, wie viel schöner das Licht, denn die Finsternis. Ihm aber, der das Licht hat, – ihm, der es, – mit einem anderen neueren Dichter zu sprechen, – »als ein Leuchter durch die Welt tragen« soll, – ihm rufe ich zu: o, halte es! halte es fest und halte es heilig! Und nie komme in Deine Seele der Gedanke, daß, indem Du es thuest, Du etwas anderes thuest, als Deine heilige Pflicht! Denn mit der ersten Regung der Selbstgefälligkeit würde das Licht dunkler brennen und würde erlöschen, so Du dieser Regung Dich hingäbest. Und weil dem so ist, und das Ehrenkreuz eine Ehrenlast, eben deshalb, lieber Lothar, darf ich es Ihnen hier öffentlich geben, und nicht, wie ich zuerst thun zu sollen glaubte, unter vier Augen. Ihnen, den anderen, aber sage ich: ich habe diesem hier nichts gegeben, als was ich nicht jedem von Ihnen, wäre er an seiner Stelle gewesen, mit ebenso willigem, freudig erregtem Herzen gegeben hätte, oder geben würde, böte er mir dazu die Veranlassung. Und daß Sie, meine Lieben insgesamt, aus Ihren Reihen, mir eine solche Veranlassung recht bald und recht häufig bieten mögen – das ist der innige Wunsch, mit welchem ich für heute von Ihnen scheide.

Die Stimme, die sich in der Mitte der Ansprache zu einem vollen, schönen Klang erhoben, war bei den letzten Worten wieder weich geworden und wie von zurückgehaltenen Thränen verschleiert. Ich aber hatte während der ganzen Zeit dagesessen, zitternd in einer Erregung, die mir einen Schauer nach dem andern durch die Glieder jagte. Ich wollte mehr als einmal dem Professor ins Wort fallen, ihn bitten, mich zu schonen, mich nicht dem Gespött meiner Mitschüler preiszugeben; ich fand die Kraft dazu nicht.

Er hatte das Zimmer verlassen; ich meinte, nun müsse die Flut des Spottes, die er entfesselt, über mich hereinbrechen; ich hatte mich geirrt. Man nahm schweigend seine Bücher zusammen oder sprach von gleichgültigen Dingen – keine leiseste Anspielung auf das, was eben geschehen war; es sollte eben nicht geschehen sein; man wollte es ignorieren. Selbst auf Schlagododros ehrlichem Gesicht lag eine leise Verlegenheit, als er jetzt an mich herantrat und, mir die Hand auf die Schulter legend, sagte:

Na, Kind, laß es Dir nicht zu Herzen gehen! Es war ein bißchen stark; aber Du kannst am Ende nichts dafür. Wir sprechen heute abend noch darüber; ich werde Dich abholen.

Auch er war davongegangen; außer mir war niemand mehr in der Klasse als Adalbert von Werin. Wir hatten seit jenem ersten Tage den Heimweg nicht wieder gemeinsam angetreten. Er hatte die Gewohnheit, seine Sachen bereits während der letzten Minuten des Unterrichts zu ordnen, und dann sofort die Klasse zu verlassen, in welcher er mit niemand verkehrte, kaum jemals mit diesem oder jenem ein gleichgültiges Wort wechselte. Mich hatte er sogar sichtlich gemieden, und ich war es zufrieden gewesen: meine Freundschaft für Schlagododro füllte mich ganz aus, während ich mich gegen den schweigsamen, sarkastischen Gesellen eines Gefühls nicht erwehren konnte, das aus Achtung vor seinem Fleiß, seinen Kenntnissen und aus einer Art von Scheu, die ich mir nicht weiter zu definieren suchte, seltsam gemischt war. Und dann hatte ich ein schlechtes Gewissen gegen ihn: ich war der einzige, dem er in seiner Weise entgegengekommen war, und ich hatte dies Entgegenkommen nicht erwidert, war nicht einmal seiner Aufforderung, ihn zu besuchen, gefolgt. So machte mich denn das tête-à-tête mit ihm, in das ich so unerwartet geraten war, verlegen und befangen, um so mehr, als ich zu bemerken glaubte, daß er dasselbe durch sein ungewöhnliches Zögern absichtlich herbeigeführt habe.

Dennoch hatten wir bereits draußen auf der Straße eine Strecke schweigend nebeneinander zurückgelegt, bevor er, ohne mich anzublicken, in seiner gelassenen Weise begann:

Ich weiß nicht, ob Du etwas auf mein Urteil gibst –

Doch! sagte ich schnell, innerlich froh, daß das Eis endlich gebrochen war.

Ich sollte eigentlich das Gegenteil vermuten, fuhr er ruhig fort. Indessen, da Du es sagst – und, offen gestanden, ich glaube nicht, daß es bloße Höflichkeitsphrase Deinerseits ist. Welche Veranlassung hättest Du dazu, mir zu schmeicheln? Du hast Freunde oder kannst so viel haben, wie Du willst; ich habe keine und will auch keine – außer einem, den ich leider nicht haben kann, wenigstens nicht zur Zeit. Später vielleicht – wenn es dann nicht zu spät ist.

Ich verstehe Dich nicht; sagte ich.

Glaub' ich Dir; erwiderte er; ich habe mich auch etwas dunkel ausgedrückt. Ich will versuchen, ob ich etwas klarer reden kann, ohne indiskret zu werden, was mir sehr verhaßt ist. Wenn ich gesagt habe: Du könntest so viel Freunde haben, wie Du willst, so ist das eigentlich nicht ganz richtig. Oder war doch nur richtig bis heute. Von heute an bist Du – dank der Unvorsichtigkeit des Herrn Professors – ein Gezeichneter, vor dem man sich bekanntlich hüten soll, und sich die Spatzenköpfe sicher hüten werden. Es ist damit im Grunde nichts geschehen, als daß die Kluft zwischen Dir und den Spatzenköpfen, die immer bestanden hat, offenbar geworden ist. Aber das ist von entscheidender Bedeutung. Du wirst von heute ab Deine Freunde diesseits der Kluft suchen müssen, da, wo Du stehst. Du wirst sehen, wie verzweifelt schwer das hält: Diogenes mit der Laterne am hellen Tage!

Ich habe nicht die geringste Anlage zum Diogenes; sagte ich.

Du verwechselst Anlage mit Neigung; erwiderte er; Anlage zum Diogenes hat jeder, der eben kein Spatzenkopf ist. Ursprüngliche Neigung dazu haben die wenigsten, weil das Leben in der Herde das bei weitem Bequemere scheint, bis man hinreichend getreten und gestoßen ist und zur Einsicht kommt, es möchte sich doch wohl außerhalb der Herde besser leben. Und das möchte eben der Unterschied sein, der zwischen uns besteht: ich bin bereits zur Einsicht gekommen; Du wirst Dich noch einige Zeit mit dem Aberglauben, daß man in der Herde und für die Herde leben müsse, herumschlagen und darüber möchte es dann, wie ich schon vorhin sagte, zu spät werden – ich denke, Du wirst jetzt wissen, wozu. Im übrigen: nichts für ungut, was ich hier so herausgeplaudert habe. Man fällt manchmal gegen seinen Willen in die alte Gewohnheit zurück. Da sind wir an meiner Ecke. Und was ich noch sagen wollte? – ja: Du hast mich meiner Mama und meiner Schwester gegenüber in einige Verlegenheit gesetzt. Ich hatte ihnen Deinen Besuch angekündigt, und muß mich jetzt mit allerlei Ausflüchten herumdrücken. Du könntest wohl die Höflichkeit aufwenden, mich wenigstens aus dieser Situation zu erlösen; es soll weitere Konsequenzen für Dich nicht haben.

Ich werde mit Vergnügen kommen; sagte ich.

Lassen wir vorläufig das Vergnügen auf sich beruhen; erwiderte er, ich bin schon zufrieden, wenn Du kommst.

Er lächelte flüchtig, nickte mit dem kleinen feinen Kopfe und schlenderte in seine Straße hinein, welche wieder von spielenden, sich balgenden, schreienden Kindern erfüllt war. Er schritt durch sie hindurch, auch über ein paar kleine, die auf der Erde lagen, hinweg, ohne ihrer mehr zu achten, als wären es Steine gewesen.


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