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II.

Ich weiß nicht, wie lange meine Krankheit gewährt hat. Es mögen Wochen gewesen sein; und als ich wieder ausstehen und auf dem Wall hinter dem Gärtchen spielen durfte, war ich ein ganz anderer, als der an jenem Abend mit Emil Israel in der dunklen Gasse gespielt hatte.

Auf dem Wall aber hinter dem Kärtchen brachte ich jetzt in der Zeit der Genesung manche Stunde zu, mit den durch die Krankheit und die Nachwirkung des Traumes verwandelten Sinnen in die Welt meiner Jugend blickend, die ich jetzt zum erstenmal wirklich gesehen haben kann, denn wie ich sie damals sah, so ist sie in meiner Erinnerung geblieben; und will ich sie mir in ihrem vollen Glanze zurückrufen, stehe ich sicherlich im Geist auf dem Walle hinter dem Gärtchen und blicke in die Zauberwelt hinein.

Ja, die Zauberwelt! Süßer können die Vögel im Paradiese nicht gesungen, heller kann der Himmel nicht geblaut, kann die Sonne nicht geglänzt haben!

Die Vögel aber sangen in der Wildnis der Erlen und Haselsträuche, mit denen der Wall überdeckt ist, hier dünner, dort dichter; und zwischen den Büschen nickte langes Gras, das niemals geschnitten wurde, und gelbe Butterblumen, über denen große weiße Schmetterlinge sich in der blauen Luft wiegten. Der Wall mochte in der Befestigung der Stadt einmal eine Rolle gespielt haben – in den Schwedenzeiten vielleicht, als es galt, diese Seite des Hafens vor einem Angriff von der See her zu schützen. Jedenfalls hatte er seit urvordenklicher Zeit jede fortifikatorische Bedeutung verloren und war herrenloses Terrain geworden, auf dem die Anwohner der Hafengasse als auf ihrem Eigenen schalteten, mit ihren Gärtchen bis auf die Höhe hinaufkletternd und oben auf den sonnigen Stellen ihre Wäsche trocknend, ihr Leinen bleichend, während die Kinder in den Büschen Räuber und Gensdarmen spielten.

Nach der Seeseite fiel der Wall steiler ab, so daß man nur auf einigen Stellen, wo das Erdreich über die Futtermauer unten bis an das Wasser gerutscht war, sicher hinab gelangen konnte. Das Wasser aber bildete hier eine Bucht, die früher wohl ein Stück vom Hafen gewesen, jetzt aber arg versandet und verschlammt war. Hatte der Wind ein paar Tage vom Lande geweht, saßen die paar kümmerlichen, den Anwohnern gehörigen Boote fest auf dem schwarzen Grunde, welcher alle möglichen merkwürdigen Dinge zur Schau bot: tote Fische, Muscheln, die das Meer zurückgelassen; dazu Tauenden, zersplitterte Ruder, Korkstöpsel, zerfetzte Bastkorbe, zerbrochene Zigarrenkästen und der Himmel weiß, was noch sonst von dem eigentlichen Hafen herübergetrieben war. Der Hafen lag zur Linken der eigentlichen Stadt, durch ein Stück freies Wasser, das für das Kinderauge außerordentlich breit schien, von uns getrennt: mit seinen großen und kleinen Schiffen, von deren Masten die bunten Wimpel flatterten, und den Booten, die zwischen den Schiffen hin und her fuhren, während von der Werft, je nach dem Stand des Windes, das Klopfen der Hämmer und Schlägel lauter oder dumpfer ertönte, und der Duft des Teeres mehr oder weniger scharf herüberkam. Zwischen uns und dem Hafen und weiter hinter dem Hafen weg die Stadt mit ihren Häusermassen und ragenden Türmen, alles umflossen von goldigem Morgensonnenschein.

Denn im Morgensonnenschein sehe ich, was ich hier zu schildern versuche, – nur im goldigsten Morgensonnenschein, als hätten die bösen Geister des mallen Heinrich gestern abend gar schlimm gegen den Nikolaiturm und die schöne Musik gewütet, und der liebe Gott lächle über die gerettete Erde mit seinem gütigsten Lächeln. Ueber die Erde und das Meer! Ueber das noch besonders! Wie blaut es in seiner stolzen Breite, zwischen dem Festlande und der Insel drüben sich westwärts in das Endlose dehnend! Wie glitzert und blinkt es in der Nähe, übersäet von Millionen hüpfender goldner Sternchen! Es erfordert die ganze Schärfe des Kinderauges, um die Möve wiederzufinden, deren schneeweiße Fittige eben noch durch die blaue Luft schwingten, und die sich jetzt in dem Meer von goldnen Sternchen niedergelassen hat. Auch von des mallen Heinrich schöner Musik ist noch ein gutes Stück übrig geblieben; ja, das ganze wonnige Erden- und Meeresrund ist von ihr erfüllt. Ist es nicht Musik, das dumpfe taktmäßige Geräusch der zwischen den Pricken sich reibenden Ruder von dem Boot, das da durch das glitzernde Wasser gleitet? Die Entfernung ist nicht gering – ich kann nur eben noch unterscheiden, daß ein Mann rudert und im Stern eine Frau mit einer hohen Kiepe sitzt, die sie vor sich gestellt hat; aber die Stille ringsumher ist so groß – ich höre deutlich, wenn sie von Zeit zu Zeit miteinander sprechen. Ist es nicht Musik, das leise Plätschern der Wellchen unten an der Futtermauer? Denn es ist heute Hochwasser, obgleich das Meer ganz ruhig ist; und ich habe nicht hinabgekonnt, sondern bin oben auf dem Wall, und kaure da auf meinem Lieblingsplatz im Schatten von ein paar besonders hohen und dichten Haselsträuchen, in denen zu meinen Häupten auf schwankem Zweig ein Vögelchen sitzt, und, ohne sich durch meine kleine, stille Gegenwart stören zu lassen, sein Liedchen singt; wenn es schweigt, antwortet sofort ein zweites aus einem etwas hinter mir stehenden Gebüsch. Das ist gewiß Musik; aber für mein empfängliches Kinderohr ist es auch das Gezwitscher der Spatzen, die sich durch die Büsche jagen; und gar das Gackern des Huhns, das eben, häufig den Kopf mit dem geröteten Kamm wendend, durch das nickende Gras herankommt. Es ist eines von Nachbar Hopps schwarzen Hühnern, (wir haben keine), und will gewiß ein Ei legen und hat sich dazu vermutlich meine Büsche ausgesucht, denn, wie es meiner gewahr wird (trotzdem ich mich ducke und den Atem anhalte), kräht es ordentlich vor Schrecken und Aerger, macht kehrt und läuft in der Richtung, aus der es gekommen, zurück, lauter und ängstlicher als zuvor gackernd. Ich folge ihm und sehe nur noch, wie es von dem Wall hinab in den Hoppschen Hof fliegt zum Schrecken der anderen Hühner, die auseinander rennen, und des Hahns, der einen durchdringenden Warnruf erschallen läßt; als er aber sieht, daß die Sache nichts zu bedeuten hat, richtet er sich auf und schlägt mit den Flügeln, wozu er mächtig kräht.

Meine Aufmerksamkeit ist bereits von den Hühnern weg nach dem Leichenwagen gerichtet, der aus dem Schuppen gezogen ist, und von Karl Brinkmann, dem Fuhrknecht, abgewaschen wird. Die schwarzen Tücher, die sonst von dem Verdeck herab gardinenmäßig nach den Seiten zusammengenommen sind, hat Karl Brinkmann, um sie nicht naß zu machen, über das Verdeck hinaus geschlagen, so daß man nur die nackten vier Säulen sieht. Dazu pfeift Karl Brinkmann, während er mit dem leeren Eimer nach der nahen Pumpe geht, den kreischenden Schwengel schwingt, mit dem gefüllten nach dem Wagen zurückkehrt und das Wasser durch die Räder gießt, daß es klatscht. Ich wundere mich, ob das wirklich derselbe Wagen ist, in welchem sie vor meiner Krankheit Gustav, eines der vielen Kinder des Fuhrherrn, auf den St. Johanneskirchhof gefahren haben. Karl Brinkmann selbst hat ihn gefahren, und hinterher kamen sämtliche vier Hoppsche Kutschen mit Vater und Mutter Hopp in der ersten und den Verwandten und Befreundeten, zu deren letzteren auch mein Vater gehörte, in den anderen. Und Karl Brinkmann, der jetzt in bloßem Kopf und in Hemdsärmeln ist, hatte einen großen Zweispitz auf, von dessen Ecken Trauerflore herabhingen, und einen großen schwarzen Mantel mit vielen Kragen an, und hatte ein so feierliches Gesicht gemacht! Denn Gustav war sein Liebling gewesen und unter seiner Anleitung schon fast ein richtiger Kutscher geworden, der die Pferde an- und abspannen konnte und mit ihm zu dem Schmied Papendiek unten in der Hafengasse, oder in die Schwemme draußen vor dem Schwedenthore ritt. Das ist alles so kurze Zeit her – als wäre es gestern gewesen – und Karl Brinkmann ist in Hemdsärmeln und kann pfeifen, während er den Wagen wäscht, auf dem er meinen Freund Gustav nach dem Kirchhof gefahren vor dem Schwedenthore!

Der kleine Träumer da oben auf dem Wall bringt das nicht recht zusammen, aber eine Ahnung der Vergänglichkeit des Irdischen mag ihn doch wohl durchschauert haben, erklärlich und begreiflich bei dem Zehnjährigen, der eben erst aus einer schweren Krankheit erstanden ist, in welcher er so wunderliche Dinge geträumt, und dem die Großmutter in ihrer häßlichen Weise erst gestern gesagt hat: der kleine gelbe Sarg, der eben fertig in der Ecke von Vaters Werkstatt stand, sei für ihn gewesen; und es sei schade, daß er nun leer bleiben solle.

Ich habe dem Vater die bösen Worte der Großmutter weinend wiedererzählt, und er hat mich in seiner milden Weise beruhigt: die Großmutter meine es nicht so schlimm; sie meine überhaupt gar nichts, denn sie habe einen schwachen Kopf und rede nur, um zu reden. Den kleinen gelben Sarg aber habe er auf Vorrat gearbeitet, und leer werde derselbe wohl nicht lange bleiben: es stürben heuer gar viele Kinder.

Ist es der Gedanke an den immer Gütigen und Liebevollen, den ich in der Werkstatt zu finden sicher bin; oder bin ich des Umherschweifens oben auf dem sonnigen Wall müde – ich gehe den schmalen, abschüssigen Pfad durch unser Gärtchen, in welchem es süß nach Reseda duftet, hinab in den Hof, mich der schattigen Kühle freuend, die mich da umfängt. Es ist in meiner Erinnerung immer schattig und kühl in dem schmalen Hof, denn auf der einen Seite ragt die kahle hohe Hinterwand von Nachbar Hopps Wagenremise mit dem steilen Dach darüber und auf der anderen steigt über des Vaters Werkstatt und dem Holzschuppen die Mauer von Nachbar Israels Kornspeicher noch viel höher, kahler und steiler empor. In Wirklichkeit ist der so eingeschlossene Raum wohl etwas dumpf und feucht gewesen und erfüllt von einem leichten Modergeruch, der aus dem mit Gras und Lattich hier und da übersponnenen Pflaster, den frisch geschnittenen Brettern, den verrottenden Spänen und den Oelfarbetöpfen ausstieg. Aber ich weiß nichts davon, vielmehr ich atme den Duft mit Behagen ein, und ich brauche nur die Augen zu schließen und mir den Duft zurückzurufen, um mich im Geiste an den Ort zu versetzen und in die wohlige Empfindung, mit der ich an jenem Morgen aus der Sonnenhelle oben in den kühlen Schatten des Hofes trete.


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