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XI.

Meine Wanderschaft sollte länger dauern, als ich gedacht hatte, und anders enden, ach, so anders!

Ich war bereits zwei Stunden unterwegs und hatte, nach meiner Berechnung, etwa ein Drittel der Entfernung zurückgelegt, die mich von der Stadt trennte. Nur ein paarmal war ich über den Weg im Ungewissen gewesen und einmal war ich sogar von demselben abgekommen, hatte mich aber nach kurzer Zeit wieder zurechtgefunden. Einem Menschen, den ich hätte fragen können, begegnete ich nicht. Die Landschaft war wie ausgestorben. Endlos breiteten sich die Kornfelder, in denen sich kaum ein längerer Halm an der Wegseite rührte, und die Grillen rastlos schwirrten. In einer gelegentlichen Koppel ein paar Füllen oder Kälber, die sich in dem schmalen Schatten der kurzstämmigen verkrüppelten Weiden zusammengedrängt hatten; auf dem Dresch, in scheuer Entfernung vom Wege, ein paar glänzende Kolkraben; über dem Rande des nahen Waldes ein Habicht, der in der blauen Luft seine Kreise zog – sonst kein lebendes Geschöpf in der weiten Runde.

Der Schweiß rann mir von der glühenden Stirn, die Zunge klebte mir am Gaumen – ich achtete es nicht. Mir war, als ob eine unwiderstehliche Kraft mich vorwärts zöge; an das, was hinter mir lag, dachte ich nicht mehr.

Und jetzt mußte ich doch hinter mich blicken.

Es war in dem Walde, den ich jetzt erreicht hatte, und durch welchen der Weg führte, dessen ich mich von der Hinfahrt deutlich erinnerte. Er hatte uns damals kühlenden Schatten gewährt, als wir auf schnellem Gefährt desselben kaum bedurften. Nun war mir die Labung doppelt willkommen, und ich wanderte ein wenig langsamer durch das Gras und den Lattig der Wegseite, als ich das Geräusch eines Wagens vernahm, der hinter mir herkam. In großer Eile, wie ich aus der schnell zunehmenden Deutlichkeit des Geräusches schließen mußte. Sollte es ein Wagen von Nonnendorf sein? Die Familie war inzwischen längst wieder zu Hause, Ulrich hatte meinen Brief gelesen – es war ja äußerst unwahrscheinlich, – dennoch, wenn sie hinter mir herkamen, mich zurückzuholen –

Ich hatte den Gedanken kaum gedacht, als ich bereits über den Graben gesprungen war und das Unterholz über mir zusammenschlug. Eben noch zur rechten Zeit. In der nächsten Minute war der Wagen, welchen mir eine scharfe Biegung des Weges verborgen hatte, auf derselben Stelle: derselbe offene Wagen, der mich und Ulrich nach Nonnendorf gefahren hatte; und Ulrich saß auf dem Rücksitz, vornüber gebeugt, eifrig nach vorwärts blickend, dem Kutscher, wie ich zu vernehmen glaubte, zurufend: er solle schneller fahren, während die Pferde doch schon in vollem Galopp ausgriffen, den leichten Wagen hinter sich durch die Löcher des schlecht gehaltenen Weges schleudernd, daß es aussah, als ob derselbe im nächsten Augenblick umstürzen und zerschellen müsse.

Ulrich!

Ich hatte es laut gerufen; der Lärm der Räder, das Stampfen der Rosse hatte es übertönt. Schon war der Wagen hinter einer anderen Biegung des Weges verschwunden. Es war gut so. Ihm wäre ich gern um den Hals gefallen; und wenn er mich zornig mit seiner starken Faust da auf den moosigen Grund gestreckt hätte – von ihm hätte ich es gern erduldet. Aber die anderen! das Nasenrümpfen, das Hohnlächeln oder, schlimmer noch, die eisigglatte Höflichkeit, für die nichts vorgefallen war! Nein, es war gut so. Und er, wenn er auf dem Wege wieder umkehrte, da er mich noch immer nicht eingeholt, der ich doch einen so bedeutenden Vorsprung gar nicht hatte – er sollte mich auch dann nicht finden.

Und wie ein gejagtes Wild drängte ich mich weiter durch das dichte Gehölz und eilte nun auf glatterer Bahn zwischen den ragenden Stämmen tiefer in den Hochwald.

Es war meine Absicht gewesen, nach einem größeren Bogen durch den Wald auf die Landstraße zurückzukehren; aber der Wald, der doch in meiner Erinnerung gar nicht so groß war, wollte kein Ende nehmen, und die Landstraße sich nicht wieder finden lassen. Dafür eine Menge Pfade, welche die Kreuz und die Quere zu laufen und mich, indem ich unsicher den einen oder den anderen verfolgte, immer tiefer in die Irre zu locken schienen, denn es waren so bereits wieder zwei Stunden vergangen, ohne daß ich einen Ausweg gefunden hätte. Ich wußte nicht mehr, wohin ich mich wenden, ja, was ich in dieser sonderbaren Lage beginnen sollte.

Verzweifelt warf ich mich in das Moos, ein wenig zu verschnaufen. Aber schlimmer als die Müdigkeit plagte mich der Durst, und schlimmer als der Durst eine seltsame Bangigkeit, die ich mir, der ich sonst nicht furchtsam war, und mich auch jetzt durchaus nicht fürchtete, gar nicht zu erklären vermochte, und die mich doch von Minute zu Minute heftiger ergriff, einer Schlange gleich, welche sich fester und fester um ihr Opfer schnürt. Ich hatte gelesen, daß so Menschen zu Mute sei, die sich, ohne es zu wissen, in der unmittelbaren Nähe einer Leiche befinden. War hier ein Mord geschehen? lag da in dem Gebüsch, aus dessen spärlichen Oeffnungen bereits schwarze Schatten blickten, der blutige, verstümmelte Körper?

Entsetzt sprang ich wieder auf, nun wieder in der entgegengesetzten Richtung davonstürzend, und mußte lächeln, als ich nach wenigen hundert Schritten den Rand des Waldes erreichte, an welchem eine Landstraße hinlief, ob die rechte, von mir gesuchte, oder eine andere, wußte ich freilich nicht.

Aber ich mußte es wissen; und da, in einiger Entfernung am Wegrande im Schatten eines einzelnen Baumes, saß jemand, den ich fragen konnte. Ein Landbriefträger, wie ich, näher kommend, sah, ein alter Mann in kurzen, bestaubten Stulpenstiefeln, der seine Tasche neben sich liegen hatte und sich mit einem blauen baumwollenen Tuch den Schweiß von der kahlen Stirn wischte. Er hatte meine Fragen gutmütig bereitwillig beantwortet: ich war auf der Straße nach Neuenfähr – nicht der, welche ich verlassen, einer anderen, aber auf der ich nicht fehlgehen könne; habe bis Neuenfähr noch gute drei Meilen.

So hatte ich mich während der letzten zwei Stunden, anstatt mich meinem Ziel zu nähern, eine Meile von demselben entfernt.

Ich mochte wohl ein recht verdutztes Gesicht machen; der alte Mann sagte:

Ja, es ist ein tüchtiges Ende, und Sie sehen auch nicht mehr zum frischesten aus. Wo kommen Sie denn eigentlich her?

Ich sagte es; er schüttelte den Kopf.

Wie ist das möglich? Nonnendorf liegt ja auf einem ganz anderen Flach. Ja so, da muß ich wieder an den verdammten Brief denken, den ich nun schon seit drei Tagen mit mir durch die ganze Insel schleppe und kann ihn nicht los werden. Wo ist der Racker denn?

Er kramte in seiner Tasche und brummte dabei weiter:

Ronnendorf! dummes Zeug! gibt es nicht. Und wenn es auch zur Not Nonnendorf heißen könnte, auf Nonnendorf wohnt Herr von Vogtriz und nicht ein Herr L. Lorenz, das muß ich doch wohl wissen! Da ist er! Herrn L. Lorenz auf Ronnendorf oder meinswegen Nonnendorf! Sehen Sie!

Er hatte den zerknitterten Brief aus der Tasche genommen, nach welchem ich hastig griff mit dem Bedeuten, daß ich Lorenz heiße und in Nonnendorf zu Besuch gewesen sei.

Der Alte schien von dieser plötzlichen Lösung seines Rätsels nicht sehr erbaut. Er kraute sich den grauen Kopf und murmelte etwas von Briefgeheimnis und Amtseid. Ich aber hatte schon den Brief aufgerissen, der von einer schwerfälligen Hand, die ich zu kennen glaubte, fast unleserlich geschrieben war:

»Lieber Lothar!

Es thut mir und meiner lieben Frau und auch meiner Christine sehr leid aber wir können es nicht ändern und meine liebe Frau und auch meine Christine sagen ich soll es Ihnen schreiben wenn auch ihr lieber Vater es nicht will. Lieber Lothar. Ihre liebe Mutter ist gestern ganz auf einmal und ohne einem Menschen etwas zu sagen fortgereist und es sieht so aus als ob sie nicht wiederkommen will sagt meine Frau und auch meine Christine. Ihr lieber Vater sagt gar nichts aber ich glaube es hat ihn höllisch angegriffen und er ist sehr herunter und meine liebe Frau und auch Christine sagen ich soll es Ihnen schreiben denn sagen sie es wird wohl nicht mehr lange währen dann geht es zu Ende womit ich bin Ihr Nachbar und guter Freund

H. Hopp.

Nachschrift! Erschrecken Sie man nicht!«

Herr Gott, Herr Gott, wie werden Sie denn auf einmal aussehen! rief der alte Mann, als ich den Brief aus meinen zitternden Händen fallen ließ und in halber Ohnmacht an den Stamm des Baumes zurücksank. Er hatte mir seine Flasche an den Mund gesetzt, aus der ich instinktiv gierig trank. Dann sprang ich auf die Füße.

Gott lohne es Ihnen! nach dieser Seite, sagten Sie?

Er rief etwas hinter mir her, ich weiß nicht was. Ich weiß auch nicht mehr, wie ich den Weg nach Neuenfähr zurückgelegt habe. Es ist mir nur eine dunkle Erinnerung geblieben von zischelnden Kornfeldern, die endlos sind, und über denen eine blendende Sonne mit seltsamer Schnelligkeit gen Westen sinkt; und von rotglühenden Wiesen; und einer Frau, die mit einem Kinde auf dem Arme vor mir steht und immerfort: armer Mensch! und dann wieder: willst Du still sein! sagt, während ich aus einem irdenen Kruge trinke und vor Erschöpfung weine und das Kind jämmerlich schreit; und wieder von zischelnden Kornfeldern, über denen aber keine Sonne mehr glüht; und von Wiesen, über denen grauer Abenddunst in Streifen zieht; und von einem großen Fährboot, das mit Menschen und Pferden überfüllt ist und nicht aus der Stelle zu rücken und den Türmen nicht näher zu kommen scheint, die vor uns gespenstisch in den schwarzgrünen Himmel ragen, über welchen ungeheure Wolken von Krähen ziehen, während hier und da ein Stern zu flimmern beginnt.

Dann stößt das Boot an die Landungsbrücke, daß es einen Krach gibt, und Weiberkreischen und Pferdestampfen und fluchende Männerstimmen – aber alles schon hinter mir. Das dunkle Hafenthor, die Hafengasse mit den Matrosenkneipen, in denen bereits die Lichter brennen in den tiefen niederen Zimmern, aus deren offenen Fenstern wüster Lärm schallt – Schuster Pahnks Haus, Zimmermann Schröders – Hopps – endlich des Vaters Haus – gelobt sei Gott!

Ich will die vier Thürstufen mit einem Satze hinauf, und plötzlich ist meine Kraft zu Ende; ich ziehe mich mühsam an dem eisernen Geländer von Stufe zu Stufe. Die Schelle klappert, als ich die Thür aufdrücke; die alte Christel muß es nicht gehört haben; ich tappe durch den dunklen Flur nach der Thür zum Hof. Auf dem Hof ist es wieder etwas heller; in der Werkstatt brennt Licht, aber der Vater arbeitet nicht – wie kann er arbeiten, wenn er so krank ist!

Ich stehe vor der Thür zur Werkstatt und habe den Griff in der Hand. Aber ich drücke nicht auf. Dasselbe Grauen, das ich im Walde empfunden, will mich wieder überkommen – mit einem letzten Aufgebot meiner Kraft schüttele ich es ab und öffne die Thür.

Mitten in der Werkstatt steht ein fertiger Sarg; ich sehe auf den ersten Blick, daß er nicht von des Vaters Hand ist, mit dem zweiten, daß ein Toter im Sarge liegt.

Ich bin zu spät gekommen!

Ich sage es ganz laut, und es ist auch das einzige, was ich empfinde. Keine Spur mehr von dem Grauen, das mich eben noch geschüttelt. Ich bin ja bei ihm, dem Besten, Gütigsten, der keine Todesfurcht kannte! Wie dürfte ich mich in seiner Gegenwart fürchten, obschon er nun tot ist!

Vor dem Toten fürchten, der so friedlich lächelt, wie ein schlafendes Kind.

So sehe ich ihn im sanften Schein der Lampe, der von oben auf seine lieben Züge fällt.

Ich küsse die lieben Züge und dann küsse ich die Hand, die sie ihm auf die Brust gelegt haben, die liebe linke Hand, die nur vier Finger hat.

Und dann ruht meine Linke auf dieser Hand, und ich hebe die Rechte empor und spreche, abermals ganz laut, als ob ich zu ihm spräche:

Nie wieder will ich Dein vergessen, Du Armer, Verlassener! und will der Sache der Armen und Verlassenen treu bleiben, bis mein Herz stillsteht, wie Deines!

Ich will am Sarge niederknieen und komme auch auf die Kniee. Dann aber saust es mir in den Ohren; vor meinen Augen wird es Nacht; ohnmächtig sinke ich zusammen am Sarge des Vaters.

Da hat mich denn Nachbar Hopp gefunden, als er eine Stunde später kam, zu sehen, ob das Oel auch wohl noch reiche für die Totenlampe nebenan bei Nachbar Lorenz.


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