Friedrich Spielhagen
Quisisana
Friedrich Spielhagen

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XXIV.

In dem kleinen Garten unter breitkronigen Kastanien saßen um die vierte Nachmittagsstunde der Rechtsanwalt und Bertram an einem mit Büchern, Akten und Papieren bedeckten Tische. Aus dem kleinen Garten sah man über einen schmalen Hof in die Fenster der Expedition, wo man eben angefangen hatte, das nach langer Beratung festgestellte Testament ins reine zu schreiben.

Und nun, Sie Ernsthaftester und Gewissenhaftester aller Menschen, der Sie in die Wahlkampagne gehen wie in einen wirklichen Krieg, lassen Sie uns darauf anstoßen, daß der Sieg auf Ihrer, das heißt auf unserer, das heißt auf der Seite der Freiheit und des Rechtes ist, und daß dem Sieger als Dotation eine stattliche Reihe rühmlicher Jahre – mindestens so viele, als dieser Rüdesheimer Achtundsechziger zählt – zu den ihm sonst beschiedenen extra zugelegt werde.

Der Anwalt füllte aus einer ehrwürdigen Flasche von einem Nebentischchen die grünen Kelchgläser und hielt das seine Bertram entgegen.

Ich tue Ihnen Bescheid, erwiderte Bertram, obgleich ich, wie Sie wissen, gegründete Ursache habe, anzunehmen, daß Ihr freundlicher Wunsch nicht in Erfüllung gehen wird.

Ei was! rief der Anwalt, ich bin ebenfalls kein Riese, aber des guten Glaubens, daß ich sämtliche gleichalterige Riesen überleben werde. Es ist der Geist, der sich den Körper bauet, sagt Wallenstein, und ich sage: er ist's auch, der das Gebäude zusammenhält, kracht's gleich in allen Fugen, was denn doch bei Ihnen wahrhaftig noch lange nicht der Fall ist.

Bertram lächelte zerstreut. Sein Blick schweifte nach der Gartenpforte.

Wo nur Otto bleibt, sagte er. Ich hatte ihn auf das dringendste gebeten, bis spätestens vier Uhr hier zu sein.

Ich habe gar keine Eile, erwiderte der Anwalt; nachdem ich Sie den ganzen Vormittag warten lassen mußte, steht Ihnen dafür mein ganzer Abend zur Verfügung. Oder, wenn Sie durchaus um fünf aufbrechen wollen, nehmen wir einen anderen zweiten Zeugen, und Sie teilen dann unserem Freunde diejenigen Punkte, die sich speziell auf ihn beziehen, brieflich mit.

Es liegt mir viel daran, daß es mündlich geschehe.

Auf dem schlimmen Pflaster der schmalen Straße, welche hinter der Gartenmauer hinlief, donnerte ein eiliger Wagen heran.

Lubus in fabula, rief der Anwalt; von Rinstedt muß man durch diese hohle Gasse.

Und da erschien auch schon Ottos breite Gestalt auf dem kleinen Hofe.

Die beiden unter den Kastanien hatten sich erhoben und waren dem Kommenden entgegengegangen.

Was machst du für Streiche! rief dieser schon von weitem, bei Nacht und Nebel fortzufahren in einem Wagen, den man sich aus dem Dorfe requiriert! Was müssen die Leute von mir denken! doch wahrhaftig, daß ich meine Gäste aus dem Hause jage! Aber natürlich, ihr geistreichen Leute könnt nichts tun wie wir anderen Sterblichen. Das muß immer was Apartes sein. Gelt, alter Kerl?

Er schlug Bertram lachend auf die Schulter; aber das Lachen war gezwungen, wie denn auch sonst aus seinen Mienen und seinem Wesen eine peinliche Hast und Unruhe sprach.

Ich muß die Herren zu meinem Bedauern ein wenig allein lassen, sagte der Anwalt mit einem Blicke auf Bertram. Sie können mich aber jeden Augenblick aus der Expedition abrufen. Apropos! da steht noch ein leeres Glas, Bermer! Sie werden durstig sein nach dem heißen Wege, und einen besseren Rüdesheimer führen Sie selbst in Rinstedt nicht.

Der Anwalt hatte den Rücken gewandt, und sofort war auch die letzte Spur der forcierten Lustigkeit aus Ottos Gesicht verschwunden. Er hatte sich in einen der Gartenstühle geworfen und saß da, mit den Ellbogen auf den Knien, die vollen Wangen in die Hände drückend, starren Auges vor sich niederblickend.

Das war ein Tag, sagte er, an den werde ich denken!

Du hast mit deiner Frau gesprochen?

Otto nickte.

Ausführlich?

Nun ja; das heißt –

Daß du ausführlicher hättest sein können. Indessen darauf kommt es nicht an, wenn du sie nur im ganzen und großen von deiner Lage unterrichtet hast. Das ist doch geschehen?

Ob es geschehen ist! rief Otto; großer Gott, es war furchtbar. Sie meinte wohl anfangs, ich sei verrückt geworden; wenigstens sah sie mich so an – so scheu, weißt du – und wollte klingeln. Ich sagte aber, ich sei noch leider ganz gut bei Sinnen und völlig nüchtern, wenn ich auch gestern vielleicht in meiner Verzweiflung ein wenig zu viel getrunken hätte. Und nun weiß ich nicht mehr, wie es kam: ein Wort gab das andere; und als sie mir sagte, das sei alles einzig und allein meine Schuld und die Folge meiner schlechten Wirtschaft und meiner vornehmen Passionen – womit sie doch höchstens sagen wollte, daß ich gern ein gutes Glas Wein trinke und eine anständige Zigarre rauche – höre, du, da ging etwas in mir vor, was ich nicht beschreiben kann: als wenn sich mir das Herz im Leibe umdrehte, und als ob ich sie in meinem Leben nicht geliebt hätte. Und da brauchte ich nicht länger nach Worten zu suchen; es kamen mehr und härtere, als mir schließlich lieb war. Es war grauenhaft.

Otto seufzte tief und leerte sein Glas.

Es ist wirklich ein guter Wein, sagte er, die Flasche zur Hand nehmend und nach der halb vermoderten Etikette sehend; wo mag er den nur her haben? Aber, was geht's mich an! für mich sind die Trauben von jetzt an sauer geworden.

Ich hoffe nein, sagte Bertram; jedenfalls danke ich dir, daß du, was ich dir heute nacht geschrieben, so beherzigt und so treulich befolgt hast. Es war in der Tat der erste notwendige Schritt, sollte die Ausführung meines Planes, von dem ich dir gleich die Details mitteilen werde, möglich sein. Vorher noch eine Frage: du hast nichts von dem Inhalt der Unterredung zwischen dir und deiner Frau gegen Erna verlauten lassen? und wie ich deine Frau kenne, wird sie, solange es möglich ist, vor Erna geheimhalten, was sie weniger für ein Unglück, als für eine Schande ansieht?

Darauf kannst du dich verlassen, erwiderte Otto; sie würde sich eher die Zunge abbeißen. Aber wie lange kann es denn dauern, so muß Erna doch alles erfahren.

Ich hoffe, das wird nie der Fall sein, erwiderte Bertram; und nun zur Sache. Ich habe dich gebeten, dich heute hier einzufinden, um mir als Zeuge bei Abfassung meines Testamentes zur Seite zu stehen. Ich hätte dir gestern schon den Inhalt des Testamentes mitteilen können. Ich habe es nicht getan, weil ich – ganz offengestanden – fürchtete, du würdest nicht reinen Mund halten, und so möchte der Eindruck der ganzen Wahrheit auf deine Frau bedenklich abgeschwächt werden. Wenn sich nun doch alles zum besseren wendet, wird sich – sie ist ja nicht bös, deine Frau, nur verwöhnt und ohne tiefere Einsicht – etwas von Dankbarkeit in ihrer Seele regen. Und wäre es wirklich nicht der Fall, beherrsche ich ein wenig sozusagen die Situation, und ihr werdet euch fügen, du gutwillig, sie, weil sie muß. Also: in meinem Testament, welches sie da eben in der Expedition mundieren, habe ich, abgesehen von einigen kleineren Legaten, unter denen sich auch eine auskömmliche Rente auf Lebenszeit für Lydie befindet, Erna zur Universalerbin eingesetzt. Von ihrer dereinstigen Erbschaft wird sofort die Summe abgezweigt und flüssig gemacht, deren du bedarfst, um, unter Assistenz unseres Rechtsfreundes, völlige Ordnung in deine Angelegenheiten zu bringen. Er garantiert dafür, daß, wenn du dich seinen Anordnungen, vor allem hinsichtlich der Fabriken, fügst, der größte Teil deines Vermögens noch zu retten sei. Jene Summe wird zu sicherer Hypothek – unser Freund soll dir sagen, wie das trotz alledem zu ermöglichen ist – auf deine Güter eingetragen zu einem mäßigen Zinssatz, dessen Gesamtbetrag Erna zufließt von dem Tage ihrer Verheiratung. Hinsichtlich dieser etwaigen Verheiratung hat Erna selbstverständlich absolut freie Wahl, obgleich ich für mein Teil hoffe, daß sie den Wünschen, die ich ihr nach dieser Seite ans Herz gelegt, nachkommen wird. Und nun gib mir die Hand, lieber Otto, und verzeihe, wenn ich zu der schlimmen Stunde, die ich dir heute schon bereitet, eine zweite fügen mußte. Tu l'as voulu! Von mir wolltest du nichts nehmen; ich hoffe, mit deinem eigenen Kinde wirst du weniger Umstände machen.

Es bleibt doch immer dein Geld, murmelte Otto.

Solange ich lebe; wer weiß, wie lange das ist. Und da kommt unser Freund mit dem ausgefertigten Dokument, das du dir nun vorlesen lassen und mit deiner Unterschrift, als einer der zwei Zeugen, verzieren sollst.

Der andere wird hier mein Herr Casper sein, sagte der Anwalt, der eben mit seinem Bureauvorsteher herantrat. Nehmen Sie Platz, Casper, und lesen Sie!

Während der Lektüre des ziemlich umfangreichen Aktenstückes wechselte auf Ottos Gesicht die Farbe fortwährend; die geröteten Augen hielten nur mit Mühe die Tränen zurück. Als ihm der Anwalt dann zur Unterschrift die Feder reichte, zitterte die mächtige Hand; kaum daß er ein paar Züge zustande brachte, die seinen Namen bedeuten sollten.

Das Dokument war in allen Formen Rechtens hergestellt; der Anwalt war selbst gegangen, es an sicherem Orte in Verwahrung zu tun, kam aber sogleich zurück. Die Herren möchten entschuldigen: der Oberhofmarschall, Exzellenz Dirnitz, sei eben im Bureau erschienen und wünsche ihn in einer wichtigen Angelegenheit zu sprechen.

Es wird wohl nicht so wichtig sein, sagte der Anwalt; ich hoffe, es ist in wenigen Minuten abgemacht; wir plaudern dann noch gemütlich.

Die Freunde waren abermals allein. Otto schien das Kommen und Gehen des Anwaltes gar nicht beachtet zu haben; er saß noch an dem Tische, den Kopf aufgestützt, düsteren Blicks vor sich hinstarrend; Bertram bog sich zu ihm hin und legte ihm die Hand auf die Schulter.

Otto, du darfst die Sache nicht so tragisch nehmen.

Man soll es wohl noch lustig nehmen, wenn man sein Todesurteil selbst unterschrieben hat, murmelte Otto, ohne sich aus seiner Stellung zu rühren.

Das hast du nicht getan, erwiderte Bertram; ich möchte sagen: im Gegenteil, es beginnt für dich von heute ein neues Leben, ein Leben der Klarheit, der Nüchternheit, der Energie, der Selbständigkeit, so wunderlich dir auch gerade das letztere klingen mag. Aber bis heute lebtest du kein selbständiges Leben; nur ein Scheinleben, nur eines, das in dem sklavischen Dienste der Launen deiner Frau stand, der du dein Vermögen und, was schlimmer ist, deine bessere Einsicht zum Opfer brachtest. Jetzt, da du zur Einsicht gekommen, kannst du mit einer Unterstützung, die doch wahrlich kein Almosen, sondern ein Darlehn ist, für das du in jeder Beziehung verantwortlich und haftbar bist, dein Vermögen oder doch den größten Teil desselben zurückerobern; und wer weiß, ob nicht dazu, was du nie besessen: die Liebe, mindestens die Achtung deiner Frau, die sie nur dem Willenlosen vorenthielt, dem tätigen, selbstbewußten, willenskräftigen Manne aber nicht versagen wird.

Ja, ja, sagte Otto, das klingt alles sehr schön, und ich will gewiß versuchen, wieder gutzumachen, was ich so mordsmäßig schlecht gemacht habe; aber das weiß ich heute schon: es wird doch nichts – ich meine, ich werde die Energie, von der du sprichst, nicht haben, ja, ich werde mir wie ein ganzer Lump vorkommen und nicht meiner Frau und keinem Menschen in die Augen zu blicken, geschweige denn fest entgegenzutreten wagen, solange ich keine Möglichkeit sehe, dir meine ungeheure Schuld abzutragen. Nicht bei Heller und Pfennig – das mag ja möglich sein – sondern in meinem Herzen – ich weiß es nicht so recht auszudrücken, du wirst mich schon verstehen – dadurch, daß ich dir etwas als Entgelt gebe, was dir kein anderer geben kann.

Er hob die Augen mit ängstlicher Frage zu Bertram auf. Bertram schüttelte den Kopf.

Ich glaubte, wir wollten nicht wieder davon sprechen, sagte er.

Auch hätt' ich's sicher nicht getan, erwiderte Otto; denn, wenn man jemand noch so lieb hat und ihm noch so sehr verpflichtet ist – das einzige Kind bleibt das einzige Kind, und gar jetzt – mich von ihr trennen zu sollen – in dem großen Hause allein zu leben mit – aber ich kann den Gedanken nicht los werden, wenn nun auch auf einmal gar nichts daran sein soll, nachdem sie – meine Frau und Lydie – mir erst schwarz auf weiß zu beweisen suchten, daß ihr einander liebtet, oder wenigstens Erna dich –

Ich weiß kaum, wovon du sprichst, unterbrach Bertram ungeduldig den Freund; und was heißt das: schwarz auf weiß?

Eine dumme Geschichte, erwiderte Otto verlegen, in die mich die Frauenzimmer hineingerudert haben, und von der ich dir auch gestern noch nichts sagen mochte, weil ich Hildegard schonen wollte. Aber jetzt mag das so mit dem anderen in eines weg gehen. Also höre!

Und Otto erzählte von dem Briefe, den Erna an Agathe geschrieben und Lydie auf einige Stunden entwendet hatte. Der Brief war ihm von Hildegard vorgelesen worden, und er vermochte mit seinem vortrefflichen Gedächtnis wenn nicht den Wortlaut, so doch den Inhalt zu reproduzieren. Auch die Stelle, die sich auf ein gewisses Verhältnis bezog, das Erna gehabt zu haben schien, und der die Damen keine weitere Bedeutung beigemessen, hatte er wohl behalten.

Nun siehst du, schloß er seinen Bericht, weshalb dir meine Frau, die doch partout Lotter zum Schwiegersohne haben wollte, in den letzten Tagen so gram und aufsässig war, und ich weiß auch nicht, was daraus geworden wäre, wenn die Fürstin sie nicht gestern zur Räson gebracht hätte. Wie die es angefangen, ist mir ein Rätsel; aber das Faktum steht fest: Lotter ist ein für allemal abgetan. Hildegard ging heute morgen sogar so weit, zu behaupten, ich wäre es gewesen, der Lotter protegiert hat«, und – um dir doch alles zu sagen – du erschienst ihr plötzlich, als Gatte Ernas, nicht nur akzeptabel – sie sah vielmehr in eurer Verbindung die einzige Möglichkeit, wenn wir auch durch meinen Leichtsinn zugrunde gerichtet wären, wenigstens Erna zu salvieren und ihr eine Position in der Gesellschaft zu erhalten, für die sie nun einmal geboren sei. Na, alter Kerl, nun habe ich es vom Herzen herunter; und es wäre trotz alledem und alledem der schönste Tag meines Lebens, wenn du mir sagen könntest: es kommt das freilich ein bißchen spät, aber doch noch nicht zu spät.

Es kommt zu spät! erwiderte Bertram.

Er hatte es in heftiger Bewegung herausgestoßen, indem er zugleich von seinem Stuhle aufsprang und mit ungleichen Schritten unter den Kastanien hin und her zu gehen begann. Aber er kam alsbald zu Otto, der erschrocken sitzengeblieben war, zurück und sagte in seinem gewöhnlichen ruhigen Tone:

Es würde zu spät sein, auch wenn alles wäre, wie es nun eben nicht ist. Ich wollte nicht davon sprechen, weil ich keinen Auftrag dazu habe, und es mir also die Beteiligten mit Fug und Recht verübeln könnten, hätte ich euch davon benachrichtigt, bevor sie selbst den Zeitpunkt für gekommen hielten. Ich wollte mich damit begnügen, alles so weit herzurichten, daß der Erfüllung ihrer Wünsche nichts im Wege stehe. Nun aber, da du von der wunderlichen Idee einer Verbindung mit mir und Erna nicht loskommen zu können scheinst, deine Frau selbst seltsamerweise daran Gefallen findet, und ihr am Ende gar in dem Umstände, daß ich Erna zu meiner Erbin mache, eine indirekte Bestätigung eurer Meinungen seht, so sage ich dir: ich weiß, daß Erna ihr Herz bereits vergeben hat, daß sie seit einem Jahre den Leutnant Ringberg liebt und von ihm geliebt wird. Es ist mein innigster Wunsch, es mögen sich der Verbindung der Liebenden keine Hindernisse in den Weg stellen, und mein fester Glaube, es werde diese Verbindung zu Ernas höchstem Glücke ausschlagen. Und nun, damit auch ich dir gegenüber nichts auf dem Herzen behalte: ich habe mich nicht umsonst so beeilt, meine und hoffentlich auch deine Angelegenheiten zu ordnen und Ernas Zukunft zu sichern; ich habe schon in der nächsten Stunde einen Gang zu tun, von dem ich nach menschlicher Voraussicht nicht mit heilen Gliedern und möglicherweise nicht einmal mit dem Leben davonkomme.

Und Bertram erzählte nun dem Freunde in möglichster Kürze seinen Wortwechsel mit dem Baron gestern abend und dessen Folgen. Die eigentliche Veranlassung verschwieg er auch jetzt, wie er sie heute nacht Kurt verschwiegen.

Otto geriet über diese Mitteilung völlig außer sich.

Das darf nicht sein, das soll nicht sein! rief er ein Mal über das andere; das ist ja absoluter Wahnsinn! wie kannst du auf Pistolen losgehen, du, der kaum weiß, wie er eine Pistole abdrücken soll! und mit Lotter, der jedes Pare annimmt und auf zwanzig Schritt das As aus der Karte rein herausschießt! das ist kein Duell, das ist Mord und Totschlag – das gebe ich nimmermehr zu!

Ich bitte dich, sprich wenigstens weniger laut, sagte Bertram; sie können es ja dort in dem Bureau hören.

Desto besser, rief Otto, alle Welt soll hören, daß du dich mit dem Menschen nicht schießen darfst. Da ist doch, weiß es Gott, der Ringberg vernünftiger, der gestern abend getan hat, als ob er die Impertinenz des Menschen nicht bemerkte und, ohne ein Wort zu erwidern, vom Spieltische weggegangen ist.

Von wem hast du das? rief Bertram erschrocken.

Vom Oberförster, erwiderte Otto; er war heute morgen zum Frühstück gekommen; die Ereignisse von gestern wurden durchsprochen – ich war nicht recht bei der Sache, denn die Szene, die ich mit Hildegard haben würde, lag mir auf der Seele, aber jetzt fällt es mir wieder ein. Die Damen stritten sich, ob Ringberg recht getan, Lotters Unverschämtheit zu ignorieren. Lydie meinte: ja, aber die Fürstin behauptete, es könne sich nicht so verhalten, weil – ich weiß nicht mehr, warum nicht; es interessierte mich nicht; wenn ich hatte ahnen können, daß Ringberg und Erna – daß du –

War Erna zugegen?

Erna? nein, das heißt, ich weiß nicht – ich war sehr zerstreut – sie ist nachher mit der Fürstin ausgeritten, die mir sagen ließ, ich möchte nur allein zur Stadt fahren. Der verdammte Kerl! mit aller Welt anzubinden! und wir sind schuld – ich bin schuld, daß du – großer Gott! ich dachte, schlimmer könne es nicht kommen; dies ist schlimmer als alles. Aber ich geb' es nicht zu – nimmermehr. Wann, sagst du, daß es vor sich gehen soll? und wo?

Ich sage dir gar nichts mehr, und es tut mir leid, dir überhaupt etwas gesagt zu haben.

Bertram erhob sich rasch, Otto sprang ebenfalls auf: Ich gehe mit dir! rief er.

Die Herren sind im Begriff, aufzubrechen? fragte eine dünne Stimme hinter ihnen.

Beide hatten in ihrer Aufregung nicht bemerkt, daß der Anwalt und der Oberhofmarschall in den Garten getreten waren und sich ihnen bereits bis auf wenige Schritte genähert hatten.

Wollen Sie die Güte haben, mich mit dem Herrn Doktor bekannt zu machen, fugte der Oberhofmarschall, nachdem er verbindlich Otto die Hand gereicht.

Der Anwalt stellte vor.

Es ist eigentlich unrecht, daß ich so spät die Ehre habe, sagte der Oberhofmarschall. Ich höre, Sie sind bereits über acht Tage auf Rinstedt bei unserem Herrn Amtsrat zu Besuch und haben keine Minute für uns gehabt? nicht für unser Theater, nicht für unsere Kunstschule, unser Museum? von meiner Wenigkeit gar nicht zu sprechen, obgleich ich seit Jahren gewöhnt bin, daß distinguierte Fremde nicht achtlos an meiner Schwelle vorübergehen. Sie müssen das nachholen, wahrhaftig, das müssen Sie!

Bertram erwiderte dem alten Herrn ein paar höfliche Worte, indem er zugleich dem Anwalt einen bittenden Blick zuwarf.

Exzellenz wollen entschuldigen, sagte der Anwalt, wenn ich mir erlaube – bei der knapp bemessenen Zeit des Herrn Doktors –

Ganz recht, ganz recht! sagte der alte Herr; ich bemerkte ja bereits selbst, daß die Herren im Begriffe seien, aufzubrechen. Kommen wir zur Sache – einer leidigen, leidigen Sache, in der ich auf den Rat unseres gemeinschaftlichen Rechtsfreundes, mit dem ich ursprünglich nur die juridische Seite des Falles in Betracht ziehen wollte, Ihre Beihilfe, mein lieber Herr Amtsrat, in Anspruch zu nehmen mir verstatten möchte.

Ich darf dann wohl um die Erlaubnis bitten, mich entfernen zu dürfen, sagte Bertram, dem der Boden unter den Füßen brannte, und der so die günstigste Gelegenheit sah, von Otto loszukommen.

Ich bitte, bitte dringend, verehrter Herr Doktor, bleiben Sie! rief der Oberhofmarschall lebhaft. – Ganz abgesehen von dem schmerzlichen Interesse, das einem so tiefen Menschenkenner die Sache vom rein psychologischen Standpunkte gewähren wird, so ist es mir ein moralisches Bedürfnis, eine Angelegenheit, die dem Richter entzogen werden soll, von einem Forum erleuchteter Intelligenzen und ehrenwerter Charaktere abgeurteilt und – leider, leider! – verurteilt zu sehen. Die Sache ist –

Wenn Exzellenz mir verstatten wollen, sagte der Anwalt auf einen zweiten, dringenderen Blick Bertrams.

Bitte, bitte sehr! erwiderte der Oberhofmarschall, indem er die Priese, die er eben aus der Dose genommen, etwas schnell an die Nase führte.

Die Sache ist, fuhr der Anwalt fort, ohne sich an die Empfindlichkeit des alten Herrn zu kehren, Ihr Bekannter, lieber Bermer, der Baron Lotter, hat sich eine Handlung zuschulden kommen lassen, die sich als Betrug und Urkundenfälschung qualifiziert. Er hat ein paar Rassepferde, mit deren Ankauf er im Laufe des Sommers – in Bayern irgendwo – von unserem Hofe betraut war, und wozu er das Geld – dreitausend Taler nebenbei – auf eine Anweisung von Exzellenz aus der Privatkasse Seiner Hoheit enthoben, nicht mit diesem Gelde, sondern mit einem Wechsel bezahlt, auf dem er das Akzept des Hofmarschallamtes, respektive Seiner Exzellenz, gefälscht hatte.

Ist es nicht unerhört? rief der alte Herr; als ob das Oberhofmarschallamt jemals mit Wechseln bezahlte!

Die Frechheit ist in der Tat ganz kolossal, fuhr der Anwalt fort, in Anbetracht des Faktums, das Exzellenz soeben konstatiert hat, und das auch dem Herrn Baron bekannt war. Er hatte denn auch wirklich die Vorsicht gebraucht, den Rendanten, in dessen Hände der präsentierte Wechsel notwendig zuerst kommen mußte, zu avisieren, indem er dem Dinge einen möglichst unverfänglichen Anstrich zu geben suchte; der Rendant dürfe ganz unbesorgt sein: noch acht Tage vor der Verfallzeit werde er ihm das Geld einhändigen; der kleine Dienst solle ihm – dem Rendanten – nicht unbelohnt bleiben, sobald er – der Baron – erst einmal den Fuß im Bügel habe, auf deutsch, sobald er Kammerherr sei. Der arme Mensch war schwach genug –

Es ist unglaublich, murmelte der Oberhofmarschall, völlig unglaublich.

Gewiß, Exzellenz, sagte der Anwalt; nichtsdestoweniger war er schwach genug, auf den offenbaren Betrug einzugehen, bis ihn denn heute, zwei Tage vor der Verfallzeit, als noch immer das vom Baron versprochene Geld nicht eingelaufen, die Angst getrieben hat, sich Seiner Exzellenz zu entdecken. Unterdessen war der Wechsel bereits gestern abend an einen hiesigen Bankier zur Einkassierung geschickt worden. Der Mann, dem so etwas selbstverständlich in seiner Praxis noch nie vorgekommen war, hielt es für geraten, sich bei Exzellenz melden zu lassen, um bei Exzellenz, vorläufig vertraulich und privatim, anzufragen, wie es sich wohl damit verhalten möge. Das war in derselben Stunde, als der Rendant sein Bekenntnis abgelegt, und so hatte denn Exzellenz den Beweis in Händen.

Der kleine alte Herr, der den Bericht des Anwalts mit manchem Kopfnicken und lebhaftem Mienenspiel begleitete, öffnete den Mund, der Anwalt fuhr schnell fort:

Exzellenz begab sich sogleich zu Seiner Hoheit –

Verzeihung! rief der Oberhofmarschall; ich habe eine Stunde lang gekämpft, ob ich unserem gnädigsten Herrn nicht den Schmerz ersparen könnte. Überdies, der Vater des jungen Mannes war mein alter, lieber Freund, der sich im Grabe umdrehen würde, könnte er hören, daß ein Lotter, daß sein eigener Sohn – es ist entsetzlich! Und seien die Herren versichert, wenn ich der reiche Mann wäre, der ich, wie alle Welt weiß, nicht bin, so –

Würde sich Exzellenz nicht zu Serenissimus begeben haben, fuhr der Anwalt fort, was nun freilich nicht zu vermeiden stand. Der hohe Herr, großmütig wie immer, resolvierte unverzüglich –

Das heißt, unterbrach der Oberhofmarschall – auf meinen dahin zugespitzten Vortrag –

Natürlich! auf Exzellenz' dahin zugespitzten Vortrag, daß der Wechsel bezahlt werden solle, als ob alles in bester Ordnung wäre, unter der Bedingung, daß ihm der Herr Baron nie wieder unter die Augen komme und ohne Verzug abreise. Den letzteren Punkt erklärte Serenissimus mit sehr begreiflicher Erregung –

Bitte dringend, sagte der Oberhofmarschall ablehnend.

Mit sehr entschiedenem Nachdruck als die conditio sine qua non der Gnade, die er ergehen lassen wolle, anstatt des Rechtes, das denn freilich kurzen Prozeß mit dem Schuldigen machen würde. Und hier nun ist der Punkt, wo –

Ich Ihre guten Dienste in Anspruch nehmen muß, fiel der Oberhofmarschall ein, indem er sich zu Otto wandte. Sie haben, verehrter Herr Amtsrat, das – ich kann ja leider nur sagen: große Unglück, mit dem Herrn Baron befreun– wollte sagen, bekannt zu sein – er ist in diesem Augenblicke ein Gast Ihres Hauses. Mein Erscheinen dort, wie hoch ich auch eine lange ersehnte Ehre zu schätzen wüßte, würde vielleicht ein Aufsehen erregen, das gerade Serenissimus um jeden Preis zu vermeiden wünscht. Schon Serenissimus deutete an – und unser gemeinschaftlicher Freund hier verstattet sich, direkt vorzuschlagen, ob –

Sie, lieber Bermer, fuhr der Anwalt fort, nicht dem jungen Herrn den betreffenden deutlichen Wink geben möchten, der durch einen Brief, den Exzellenz eben in meinem Bureau aufgesetzt –

Und den ich hiermit zu produzieren mir verstatte, sagte der Oberhofmarschall –

Noch einen besonderen, allerdings nur im moralischen Sinne, sehr wünschenswerten Nachdruck erhalten würde, schloß der Anwalt.

Ich bitte, vertrauen Sie mir den Brief an, Exzellenz, sagte Bertram. Zufällig weiß ich, wo der Herr Baron, der schon seit gestern abend meines Freundes Haus verlassen hat, eben jetzt zu finden ist. Ich muß freilich, um den Augenblick nicht zu versäumen, unverzüglich aufbrechen. Ich denke, du begleitest mich, Otto?

Versteht sich, rief Otto; mein Wagen hält noch vor der Tür.

Und deine Pferde sind schneller, als es die Mietsgäule sein würden, die ich zu fünf Uhr hierher bestellt habe. Es ist bereits dreiviertel. Wir haben keinen Augenblick zu verlieren.

Aber mit möglichster Schonung, ich flehe Sie an! rief der Oberhofmarschall den Freunden nach, als sie bereits über den kleinen Hof schritten.

Bertram winkte und grüßte zurück.

Eine Minute später rasselte der Wagen durch die schmale Gasse hinter dem Garten des Rechtsanwaltes der breiteren Straße und dem Tore zu.


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