Friedrich Spielhagen
Quisisana
Friedrich Spielhagen

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

III.

Das mattere Licht des hereinbrechenden Abends drang nur spärlich durch das dichte Unterholz, das den Pfad auf beiden Seiten begrenzte, während die ineinandergreifenden Kronen der Buchen ihn oft genug gänzlich überdachten; an einer abschüssigen Stelle waren ein Paar rauhe Stufen eingefügt.

Willst du meinen Arm nehmen, Onkel Bertram? fragte Erna.

Es war das erste Wort, seitdem sie vor ein paar Minuten, die bleiern auf Bertram gelastet, die Bank verlassen hatten.

Ich wollte dieselbe Frage eben an dich richten, erwiderte er.

Ich danke, sagte Erna; – ich kenne hier jeden Schritt, aber du – und du bist krank gewesen.

Das mochte ja freundlich gemeint sein, nur daß es wieder so kühl herauskam – so almosenhaft, dachte Bertram.

Gewesen, entgegnete er, und längst hergestellt – völlig.

Ich denke, du gehst für den Winter nach Italien zu deiner Erholung?

Ich gehe nach Italien, weil ich hoffe, daß ich mich in Rom ein wenig weniger langweilen werde als in Berlin – das ist alles.

Und wenn du dich nun auch in Rom langweilst?

Du meinst, langweilige Leute langweilen sich überall?

Das meine ich nicht; es wäre auch recht häßlich gewesen, wenn ich es gemeint hätte; – ich wollte nur wissen, wohin man von Rom geht, wenn man noch weiter will – nach Neapel – nicht wahr?

Ja wohl: nach Neapel – Capri. Auf Capri steht mitten in Orangengärten mit herrlichstem Ausblick in die blaue Unendlichkeit des Meeres ein weißes, rosenübersponnenes Gasthaus: Quisisana. Ich war vor langen Jahren dort, und seitdem hat's mich immer dahin sehnlich gezogen, Qui si sana! Das klingt so tröstlich! so verheißend: Hier gesundet man! Auch wenn man sich leidlich gesund fühlt – zu gesunden hat man immer, zum Beispiel vom Leben, das im Grunde doch eine lange Krankheit ist, von der uns gründlich nur der Tod kuriert.

Wieder trat eine Pause ein. Er hatte die Unterhaltung nicht wieder ins Stocken kommen lassen wollen, und doch war, was er da eben noch unter dem Eindruck der krankhaften Verstimmung gesagt, wohl recht wenig geeignet, das schöne, wortkarge junge Mädchen an seiner Seite zum Sprechen zu bringen. Er hätte es gern getan; es fiel ihm nicht bei, ihre Schweigsamkeit auf Gedankenlosigkeit oder auch nur Befangenheit zurückzuführen. Im Gegenteil: sie interessierte ihn mit jedem Augenblicke mehr, und er hatte durchaus den Eindruck, daß er es mit einem höchst eigenartigen, in seiner Kraft sicher ruhenden Wesen zu tun habe, in dem er von dem Kinde, das er gekannt und geliebt, und dessen Bild er treu in der Erinnerung bewahrt, kaum einen Zug wieder zu entdecken vermochte.

Du weißt, Onkel Bertram, daß du Fräulein von Aschhof – Tante Lydie – heute abend sehen wirst? begann sie plötzlich.

Bertram zuckte zusammen; der Name hatte aus diesem schönen, keuschen Munde einen doppelt häßlichen Klang.

Ich weiß es – nicht von deinen Eltern – aber ich weiß es, erwiderte er.

Sie werden sich gescheut haben, es dir mitzuteilen, fuhr Erna fort; Mama hat sehr ungern ihre Erlaubnis gegeben, daß Tante kommen durfte; aber Tante hat so sehr gebeten, sie möchte dich nur noch einmal wiedersehen, und sie dachte, jetzt, wo du schwer krank gewesen bist und auf so lange Zeit verreist, wärest du vielleicht in einer milderen Stimmung. Und doch fürchtet sie sich, dir zu begegnen; sie war unterwegs so nervös, es fehlte, glaube ich, nicht viel, so wäre sie ausgestiegen und hätte uns allein weiterfahren lassen. Ich konnte ihre Unruhe kaum noch mit ansehen und fühlte mich ordentlich erleichtert, als ich selbst ausgestiegen war, um über den Berg zu gehen – von Fischbach aus, weißt du – und während ich herüberkam, fragte ich mich, ob ich dich, wenn ich vor ihnen nach Hause käme, nicht bitten dürfte, ein bißchen freundlich gegen die Tante zu sein; du bist – aber ich weiß nicht, ob ich weitersprechen darf –

Ich bitte dich darum.

Ich wollte nur noch sagen: du bist es ihr schuldig.

Bin ich das?

Ich sollte meinen, denn sie hat doch nichts getan, als daß sie dich geliebt hat und noch liebt, während du –

Ich bitte dich, liebes Kind, sprich ohne Scheu weiter; es liegt mir viel, sehr viel daran.

Während du sie verlassen hast, nachdem ihr ein ganzes Jahr lang verlobt gewesen seid.

Und dann habe ich ihr einen Absagebrief geschrieben, nicht wahr? und die Verlassene hat sich in ihrer Verzweiflung vierundzwanzig Stunden später mit dem Grafen Finkenburg verlobt, der sich schon lange um ihre Hand beworben? und dem alten Herrn ist die Freude darüber so zu Kopfe gestiegen, daß er nach kaum einer Woche vom Schlage getroffen wird und stirbt, ohne nur die Zeit zu haben, die schöne Braut in seinem Testamente zu bedenken? Ist es nicht so?

Laß uns abbrechen, Onkel Bertram, erwiderte Erna, ich höre aus deinen Worten und aus deinem Tone, daß du erregt bist, und ich fühle jetzt doppelt die schwere Unschicklichkeit, die ich beging, als ich um der Tante willen die Rede auf eine Angelegenheit gebracht habe, von der ich freilich nicht einmal wissen, geschweige denn sprechen sollte.

Ich kann dich leider so nicht loslassen, liebes Kind, sagte Bertram; ich muß dich noch fragen, von wem du es weißt? von Fräulein von Aschhof natürlich.

Ich finde es wenigstens nicht unnatürlich, erwiderte Erna, wenn Tante Lydie in der Aufregung, in der sie seit dem Tage ist, wo dein Besuch angekündigt war, und sie den Entschluß gefaßt hatte, dich wiederzusehen – wenn sie da ihr übervolles Herz gegen mich ausgeschüttet und mir alles gesagt, was ich ja zum größten Teil schon wußte oder doch ahnte. Und sie hat mich auf das dringendste gebeten, dir kein Wort wiederzusagen, und ist auch gewiß überzeugt, daß ich es nicht tun würde; aber ich habe es ihr versprochen, denn ich – ich habe dich immer lieb gehabt, Onkel Bertram, sehr lieb; und es tat mir weh, daß du – daß ich dich nun nicht mehr lieb haben könnte. Ich habe immer in meinem Herzen für dich Partei genommen, wenn sie sagten, daß du kalt seiest und selbstsüchtig und niemand liebtest als dich selbst. Ich habe immer gedacht: er hat nur keine gefunden, die seiner wert gewesen wäre. Und jetzt, da ich alles weiß, möchte ich sagen: vielleicht ist es auch Tante Lydie nicht gewesen; sie hat viele Eigenschaften, die mir gar nicht gefallen – aber sie wäre gewiß anders geworden, wenn du Geduld mit ihr gehabt, wenn du sie nicht verrat – verlassen hättest. Wie kann ein Mädchen gut bleiben, das der Mann, den sie liebt, verläßt! wie kann sie, hat sie ein leicht bewegliches Herz, anders als gefallsüchtig und kokett werden und Manieren annehmen, über welche die Leute spotten und lachen, oder – wenn sie stolz ist und sich ihres Unglücks schämt – kalt und herzlos und voller Verachtung gegen alle Männer, ja gegen alle Menschen.

Die kühle, leise Stimme war bis zum letzten Worte dieselbe geblieben, aber mit dieser Ruhe und Selbstbeherrschung kontrastierte auf das eindringlichste der leidenschaftliche Glanz der großen, dunkeln Augen, die jetzt zu Bertram aufblickten mit einer wundersamen Festigkeit, wie sich die Alten den Blick der Götter gedacht haben mochten, die nicht wie die Sterblichen mit den Wimpern zucken.

Das schoß durch Bertrams Seele, während sie sich so für ein paar Momente auf der Lichtung, wozu sich der enge Waldpfad erweitert hatte, gegenüberstanden; und daß keine Rücksicht ihn verdammen könne, vor diesen Augen als ein Schacher dazustehen, und daß er das graue Gespinst, welches die Lüge zwischen ihr und ihm gewoben, zerreißen müsse, es koste, was es wolle.

Er nahm ihren Arm, wie um sich zu versichern, daß sie ihm nicht entfliehe, und sagte, indem er sie hastigen Schrittes fast mit sich fortzog:

Und nun höre auch mich und verachte mich, wenn du es noch kannst, nachdem du mich gehört. Verlassen, sagst du, verlassen und verraten! ja wohl! aber wer den Verrat geübt, das war sie – den schmählichsten, greulichsten Verrat, dem auch keine Spur einer Entschuldigung innewohnt, wenn anders irgend etwas den Verrat entschuldigt. Ich habe sie geliebt – ich sage nicht, wie nur ein Mensch lieben kann – ich weiß nicht, wie andere Menschen lieben – ich weiß nur, daß ich sie geliebt mit meines Herzens bester, reinster Kraft. Ich war kein Jüngling mehr, als ich die Jugendfreundin deiner Mutter auf deiner Eltern Hochzeit kennen lernte; ich war ein Mann von fast dreißig Jahren – ich lebte in Leipzig, wie du weißt, als Privatgelehrter, wie sie's nannten, denn ich hatte den Plan meiner Studien allzu groß angelegt, und da ich's mit der Wissenschaft und der Kunst ernsthaft nahm, wie mit allen übrigen Dingen, arbeitete ich jahrelang an Aufgaben, die Leute, die weniger Zeit oder mehr Genie haben, in ebenso vielen Monaten lösen. Auch hatte ich, was ich zum Leben gebrauchte, vielleicht etwas mehr – ich war nicht gewohnt, darauf zu achten. Das wurde nun mit einem Schlage anders, als ich sie liebte und mich wiedergeliebt glaubte – wir hatten uns hier bei deinen Eltern noch wiederholt gesehen und hatten uns verlobt, wenn auch nur in aller Heimlichkeit, um die ich selbst gebeten. Ich begriff, daß der Bräutigam, der Gatte eines so glänzenden, gefeierten Mädchens, wie Lydie von Aschhof, etwas Besseres sein mußte als ein obskurer Privatgelehrter; es kostete mich keine Mühe mehr, mich zusammenzuraffen, entschlossen auf meine Ziele loszugehen. Aber freilich, einige Zeit dauerte es denn doch, bis mein großes Werk vollendet. Ihr dauerte es zu lange; oder zweifelte sie an dem Erfolge, oder galt ihr ein derartiger Erfolg im Grunde nichts trotz der Schwärmerei, die sie für meine Bestrebungen affichierte, und trotzdem sie die Güte hatte, mir tausendmal zu sagen, daß mein Geist, mein Talent sie gefesselt habe und gefesselt halten werde, und wenn man ihr eine Krone zu Füßen legte? Es brauchte, wie sich dann erwies, noch keine Fürstenkrone zu sein, nur eine freiherrliche – auf einem eisgrauen, dekrepiten Haupte dazu – und da schrieb sie mir den großmütigsten Absagebrief: daß sie mein stolzes Streben nur hemme, daß der Künstler, der Gelehrte frei sein müsse, daß ihr mein Ruhm teurer sei als ihre Liebe, und so noch ein paar Seiten tönender Phrasen in der zierlichsten Handschrift mit dem selbstverständlichen Schluß der Verlobungsanzeige, durch die sie, als durch ein fait accompli, ihrem schwankenden Herzen zu Hilfe kommen müsse. Der Brief war hier von Rinstedt aus geschrieben; ich stürzte zur Eisenbahn, nahm auf der letzten Station einen Wagen – die armen abgetriebenen Gäule konnten nicht weiter, als wir in Fischbach waren; ich erklomm auf dem kürzesten, steilsten Pfade den Hirschstein, über den du eben heraufgekommen bist; ich stürzte hier oben zusammen, raffte mich wieder auf, wankte weiter, weiter – bis zum Hause. Sie mochte denn doch gefürchtet haben, daß ich es nicht so geduldig nehmen würde; sie war bereits seit einer Stunde fort – nach Fichtenau, den Weg, den ich – nicht kommen konnte. Ich bin ihr nachträglich recht dankbar gewesen für ihre Umsicht und Vorsicht: ich war einfach rasend, und es war für uns beide ein Glück, daß meine Kraft gebrochen war, daß ich der Entflohenen nicht weiter nachsetzen konnte und deinen Eltern hier zur Last liegen mußte, ein todkranker, aufgegebener Mann, der sich nach sechs oder acht Wochen doch wieder erholte, um weiter zu leben, wie man denn so mit einem wunden Herzen – und diesmal nicht bloß im moralischen Sinne – weiter lebt. Was war es mir, daß, während ich hier oben mit dem Tode rang und mich dann an zwei Stöcken durch die Gartenterrassen schleppte, mein Werk herauskam und mich mit einem Schlage zu dem machte, was man hyperbolisch einen berühmten Mann nennt? daß einem alten, kinderlosen Geizhals von Onkel in derselben Zeit das Sterben ankam und mir, in Ermangelung anderer Erben, das ganze große Vermögen zufiel? Ich hatte genug erfahren von dem Lug und Trug irdischer Herrlichkeit. Ruhm, Liebe – pah! ich wurde, wofür ich meinen Bekannten gelte, und wie sie mich auch dir gegenüber genannt haben: ein kalter Selbstling, der, wenn er trotzdem die Hände nicht in den Schoß legte und weiterarbeitete und ein freies Wort, wozu andere, weniger Unabhängige, nicht den Mut fanden, hineinrief in den Streit des Tages und zu gemeinnützigen Unternehmungen anregte oder nach Kräften beitrug und hier und da einem armen Schlucker über eine Dornenhecke seines Lebensweges half – das alles nicht tat um Gottes willen, sondern um vor sich selbst das bißchen Respekt nicht zu verlieren, das zu den notwendigen Requisiten eines anständigen Egoisten gehört. Und da ich gerade von Respekt spreche, fühle ich schmerzlich, daß ich das besagte Bißchen stark vermindere, indem ich dir dies alles sage. Denn ein Gentleman muß in einer Herzenssache der Dame das erste Wort abnehmen und das letzte lassen; und wenn sie behauptet, daß er der Don Juan und sie die Elvira sei, noch obendrein sich für die zugeteilte glänzende Rolle bedanken. So, liebes Kind, und nun sei deinem alten schwatzhaften Onkel wieder gut, wie du ihm vordem gewesen – willst du?

Die erwartete Antwort blieb aus; das Gefühl der Beschämung, das über Bertram schon während seiner Erzählung gekommen war und das er durch die humoristische Wendung zuletzt vergeblich hatte abschwächen wollen, wurde durch Ernas Schweigen auf das peinlichste gesteigert. Wie hatte er sich nur so weit vergessen, sich so viel vergeben können: das tiefste Geheimnis seiner Brust, an dem er selbst abgewandten Antlitzes vorüberzugehen sich gewöhnt, einem jungen Mädchen zu enthüllen, das noch ein halbes Kind war, ohne Verständnis für so traurige, schmerzliche, häßliche Erfahrungen! und das überdies mit ihr, die er so leidenschaftlich angeklagt, in dem intimen und zarten Verhältnis der Schülerin zur Erzieherin stand! – Es war abscheulich, unwürdig! wie ein unreifer Knabe hatte er gehandelt! er wünschte sich tausend Meilen weit fort; er verwünschte seinen Mangel an Entschlossenheit, daß er nicht vor einer Stunde Knall und Fall aufgebrochen und so all diesem Wirrsal entronnen war. Jetzt wollte er, mußte er noch heute abend auf der Stelle abreisen, ohne womöglich jemand zu sehen, zu sprechen; ohne sich jedenfalls auf eine Erklärung einzulassen. Was bei den Erklärungen herauskam, er hatte es eben gekostet! er würde den bitteren Nachgeschmack sobald nicht von der Zunge verlieren!

Sie waren aus dem Walde heraus und schritten über einen Wiesenplan dem Pförtchen zu, das hier durch die dicke alte Mauer auf den Schloßhof führte.

Und du hast das alles bisher niemand gesagt? fragte Erna plötzlich.

Nein, antwortete er; – es kostete ihn Mühe, das kurze Wort herauszubringen.

Sie traten in das Pförtchen; auf dem schon von dichter Dämmerung erfüllten Hofe, in der Nähe der Rampe vor der Haustür, stand ein großer offener Reisewagen, aus welchem Diener die Sachen der abgestiegenen Herrschaften räumten; ein mit Koffern beladener kleiner Leiterwagen kam eben durch das Haupttor auf der anderen Seite, dem Pförtchen gegenüber.

Onkel Bertram! sagte Erna.

Sie hatte, gerade als sie die Schwelle des Pförtchens überschreiten wollten, mit leichtem Druck seine Hand gefaßt; er blieb unwillkürlich stehen. Sie blickte wieder zu ihm empor, aber nicht mit dem strengen Ausdruck wie vorhin im Walde. War es das Licht der Mondsichel, die drüben im Abenddämmer über den Häusern schwebte, waren es Tränen, was in den großen Augen schimmerte?

Du willst fort, Onkel Bertram?

Wer hat dir das gesagt?

Gleichviel! du willst fort?

Ja!

Bleib! ich bitte dich! um meinetwillen!

Sie ließ die Hand los, die sie bis dahin festgehalten, und eilte über den Hof nach dem Schlosse, während er das Treppchen zu dem Seitenflügel, wo seine Zimmer lagen, emporstieg, die Seele erfüllt von dem Bilde des wundersamen Mädchens, dessen Worte, dessen Blicke so zauberkräftig waren, daß er gegen ihren Willen einen eigenen Willen nicht mehr zu haben schien.


 << zurück weiter >>