Friedrich Spielhagen
Quisisana
Friedrich Spielhagen

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XII.

Er hatte bei früheren Besuchen in Rinstedt Agathen wiederholt gesehen und immer auf dem besten Fuße mit dem stets gleichmäßig freundlichen, liebenswürdigen Kinde gestanden. Nun war sie freilich, eben wie Erna, in den letzten Jahren zur Jungfrau herangereift, wenn man auch nicht sagen durfte, daß sie bei dieser Metamorphose gewonnen hätte. Das blonde Haar fiel jetzt stark ins Rötliche, die Sommersprossen drängten sich auf Stirn und Wangen zur Ungebühr hervor, und eine bedenkliche Neigung nach der einen Seite hatte sich in zweifellose Schiefheit verwandelt, so daß man, alles in allem, wohl versucht sein konnte, den Spitznamen »Großmütterchen«, welchen Erna ihrer Cousine und Busenfreundin gab, nicht bloß in moralischem Sinne zu nehmen. Aber die hellblauen Augen hatten den alten lieben Ausdruck treu bewahrt; ja noch offener als früher sprach aus ihnen eine Seele, die aller Welt wohlwollte, mit aller Welt in Frieden und Freundschaft zu leben wünschte und die bedenklichen und schlimmen Regungen und Leidenschaften der Menschenbrust weniger zu verabscheuen als nicht zu begreifen schien.

Ein so gutes, nur zur Mitfreude und zum Mitleid geschaffenes Wesen hätte wohl kaum den Mut gefunden, die banalen Illusionen eines Dutzendherzens grausam zu zerstören, und wäre wohl vor dem bloßen Versuche zurückgeschaudert, gewaltsam in ein Herz wie Ernas einzugreifen, mochten dessen Empfindungen auch noch so sehr von der alltäglichen Schablone abweichen. Wiederum mußte Bertram den Verdacht, der sich ihm in seiner Ratlosigkeit zuerst aufgedrängt: daß Agathe leichtsinnig oder gar absichtlich ausgeplaudert hatte, was ihr Erna etwa anvertraut, alsbald fallen lassen. Eine solche Handlungsweise widersprach völlig dem Charakter des ebenso klugen wie guten Mädchens; und daß er sich selbst den anderen gegenüber verraten haben sollte, war vollends unmöglich. Er war sich zu genau bewußt, von der ersten Stunde an sein Betragen auf das peinlichste überwacht, jedes Wort erwogen, jede seiner Mienen, jeden seiner Blicke kontrolliert zu haben. Schauderte er doch schon vor dem Gedanken zurück, daß Erna sein großes Geheimnis entdecken möchte, war er doch sicher, daß sie es nicht entdeckt hatte – wie sollte es jenen gelungen sein?

Aber weshalb sollten sie nicht mit Mißgunst, Neid und Schrecken gesehen haben, was zu sehen ihm die höchste Wonne war? Hatte er sich, im vollen Bewußtsein seiner Liebe, in dem angstvollen Zweifel, ob diese Liebe nicht eine Torheit, ein Verbrechen sei, den strengsten Zwang auferlegt – Erna war in dem Ausdrucke von Empfindungen, deren wahre Bedeutung sie vielleicht ahnte, aber sicherlich nicht ermessen konnte, keineswegs ebenso vorsichtig gewesen; und wie mochte man selbst das Harmloseste, Unschuldigste – die Aufmerksamkeiten, mit denen sie ihn verwöhnte, die kleinen Dienste, die sie ihm ohne Aufsehen, im Vorübergehen gleichsam, leistete – wie mochte man alles hämisch bekrittelt und gehässig ausgelegt haben, nachdem einmal – so oder so – der Verdacht erregt war?

Und daß dies der Fall sein mußte, darüber konnte er kaum noch zweifeln, indem er jetzt das Verhalten der anderen ihm gegenüber während der letzten Tage einer nachträglichen Prüfung unterwarf. Da trat denn in dem neugewonnenen Lichte so manches hervor, was er entweder nicht beachtet oder doch anders gedeutet hatte. Die schöne Frau, die sonst jedes Tête-à-tête benutzte, das Gespräch auf Erna und den Baron zu bringen, war nicht wieder auf ihr Lieblingsthema gekommen, während umgekehrt Lydie plötzlich ein unendliches Interesse für Erna zur Schau trug und nicht müde wurde, über die Eigenschaften ihres Zöglings Betrachtungen anzustellen, und wie man sich wohl die Zukunft eines so eigenartigen Wesens zu denken habe. Der Baron war noch immer, so oft er mit ihm zusammen gewesen, von Höflichkeiten übergeflossen, aber hatte ihn doch seltener als sonst mit Aufforderungen zu Billardpartien und zum Pistolenschießen nach der Scheibe heimgesucht, dafür seine einsamen Jagdausflüge – auch Otto war kein Jäger – immer häufiger unternommen und immer weiter ausgedehnt. Otto endlich war ihm ersichtlich aus dem Wege gegangen, wie er anfangs geglaubt hatte, um neue peinliche Erörterungen über seine Lage zu vermeiden; wie er jetzt annahm, um ihn nicht merken zu lassen, daß er ihm um Ernas willen gram sei oder – was ja bei dem Schwachen auf eins hinauskam – auf Befehl der Gebieterin gram sein müsse.

Es waren seltsam gemischte Gefühle, welche die Erkenntnis der neuen Lage, in die er sich so plötzlich versetzt sah, in seiner Brust wachriefen. Er sagte sich, daß das, was seinen Widersachern Sorge und Schrecken bereite, für ihn ein Gegenstand der Freude und des Triumphes und der klarste Beweis sei, daß er nicht einen wonnevollen Traum geträumt habe. Und seine Liebe konnte doch nicht immer in der Sternenhöhe bleiben; sie mußte einmal in Erdennähe kommen, für die Maulwurfsaugen dieser Menschen sichtbar werden. Aber indem er sich nun auf den Standpunkt dieser Menschen versetzte, mit sich, seiner Liebe ins Gericht ging, wie jene es unzweifelhaft tun würden und taten, hörte er aufs neue, und jetzt aus dem Munde wütender Ankläger, die alten, bösen Fragen, die er längst abgetan glaubte: ist dein Sehnen, dein Wollen wirklich rein von jeder Selbstsucht, jeder frivolen Beimischung? hat die Befriedigung der Eitelkeit, daß du, der Fünfzigjährige, die Liebe eines so jungen, in jeder Hinsicht bevorzugten Mädchens erringen kannst – gegen den Willen der Eltern, vor den Augen derer, die dich einst verschmäht, in Gegenwart und zur Scham und Schande eines so viel stattlicheren Nebenbuhlers – nichts, gar nichts zu tun mit deiner Liebe?

Und wenn er sich durch das Drängen seiner Widersacher zu einer Erklärung zwingen ließ vor der Zeit, oder diese Zeit nicht jetzt war und nie sein würde, wenn er und sie alle sich geirrt hatten, Ernas Herz nichts von Liebe wußte, sie seine Liebe verwundert, erschrocken, beleidigt zurückwies – was dann? großer Gott, was dann? wo war auch nur die Rückzugslinie, die Goethe seinem Helden so klug zugesichert?

Er empfand es als einen jener schauerlich häßlichen Widersprüche des menschlichen Lebens, daß, während sich so vor seinem inneren Blicke die Möglichkeiten seines Schicksals wie in einem Brennpunkte konzentrierten, er eifrig vor dem Spiegel beschäftigt war, die Krawatte, welche Konski ihm für die Mittagstafel zurechtgelegt – die Glocke hatte schon zum ersten Male geläutet – mit einer anderen zu vertauschen, von der Erna einmal gesagt, daß sie ihn besonders gut kleide.

Unwillig trat er von dem Spiegel an das offene Fenster. Durch die blaue, sonnige Luft schwebte ein Sommerfaden heran und heftete sich an seine Schulter. Eine tiefe Traurigkeit überkam ihn.

Eine Rückzugslinie gab's immer: das war der Tod. Hing sein Leben vielleicht an einem Faden so schwach wie dieser hier? Aber war nicht eben deshalb seine Liebe ein Wahnsinn und ein Frevel? War das Liebe, die im Grunde doch immer nur an sich dachte, und nicht zuerst und zuletzt daran, ob nach menschlichem Ermessen man auch die Bürgschaft für das Wohl derer übernehmen konnte, die man zu lieben vorgab? ob für sie nicht Wohl in Wehe sich allzubald verwandeln werde, aus dem ihr, wenn die Zeit und wenn die Jugendkraft, die sich nicht brechen ließ, auch die Wunde heilte, ein ganzes, volles Glück nun und nimmer wieder blühen konnte? Und so den Tod, dem er doch schon ein und das andere Mal in die hohlen Augen gesehen, von Stund' an fürchten zu müssen wie die Dutzendseelen!

Er fuhr von einem Geräusch hinter ihm erschrocken zusammen. Konski war wieder eingetreten mit einem Briefe. Die Post, die heute morgen ausgeblieben, sei nun eben doch noch gekommen; auch für die Herrschaften wären Briefe eingelaufen, die wohl von Wichtigkeit sein müßten, denn die gnädige Frau habe befohlen, das Mittagessen eine Viertelstunde zu verschieben: jedenfalls könne der Herr Doktor seinen Brief in aller Ruhe lesen.

Konski hatte sich wieder entfernt; Bertram hielt den Brief noch immer uneröffnet in der Hand. Wie wunderlich, daß sein Arzt und Freund ihm gerade jetzt schrieb! der Überbeschäftigte ihm so schnell antwortete auf einen Brief, in dem er am zweiten Tage seines Aufenthaltes die gewünschte Nachricht über sein Befinden gegeben, und der gar keiner Antwort bedurfte! Kündigte er ihm sein Todesurteil an? Nun, dann kam es gerade zur rechten Zeit!

Und er erbrach den Brief mit zitternder Hand und las:

»Liebster Freund!

Lachen Sie mich meinetwegen aus, soviel Sie wollen. Aber wie ich eben Ihren Brief – ich pflege Briefe von Ihnen nicht in den Papierkorb zu werfen – zum zweiten Male lese, kommt mir, und in verstärktem Maße, derselbe Gedanke, den ich schon bei der ersten Lektüre hatte, nämlich: daß, Ihnen vielleicht selbst unbewußt, zwischen Ihren Zeilen eine Frage steht, welche außer dem allwissenden Schicksale nur der ergebenst Endesunterschriebene beantworten kann, und die er, weil auf das Schicksal in dieser Beziehung kein rechter Verlaß ist, hiermit zu beantworten sich die Ehre gibt und nebenbei das spezielle Vergnügen macht. Die Frage aber lautet, auf die einfachste Formel reduziert: Darf ich heiraten? Da Sie, wie ich sehe, nicht lachen, im Gegenteil ein sehr ernsthaftes Gesicht machen, will ich zum Lohne dafür mit meiner Antwort nicht zurückhalten und sie ebenfalls gleich auf den kürzesten Ausdruck bringen: Ja, liebster Freund, Sie dürfen heiraten, trotz Ihrer letzten schweren Attacke, ja, seltsamerweise: nun gerade erst recht. Denn wenn ich auch schon vorher nicht daran zweifelte, es werde Ihre selten kräftige Natur noch jahrelang dem schweren Schaden, der ja leider nicht wegzuleugnen war, Widerstand leisten, so habe ich jetzt nach dieser Seite kaum noch eine Sorge. Ihre letzte Krankheit war nichts als ein überaus energischer Versuch der Natur, sich selbst zu helfen, und dieser Versuch ist so gut wie gelungen. Was ihr zu tun übrig bleibt, ist wenig, und daß dieses Wenige möglichst schnell und gründlich getan werde – dazu können Sie selbst sehr viel beitragen. Wie das möglich ist? Nun eben dadurch, daß Sie heiraten, daß Sie, der ewig Bedenkliche, übertrieben Gewissenhafte, der immer nur für seine idealen Zwecke und für andere gelebt, endlich einmal sich selbst leben, endlich einmal ein ruhiges Glück finden, das Sie in so reichem Maße verdienen, und – in diesem Glücke glücklich sind! zu welchem letzteren freilich mehr Verstand gehört, als die meisten Menschen aufzuwenden haben. Sie, lieber Freund, haben diesen Verstand; ergo: heiraten Sie, in Gottes Namen, zu Ihrem eigenen Heile, zum Heile derer, die Sie lieben, und schließlich mit meinem Konsens, ohne den Sie es ja doch nicht tun würden.

Nun aber, da Sie der Leiden gewohnt sind, um ohne sie mit ruhigem Gewissen leben zu können, bin ich Ihnen für die, von denen ich Sie fürder dispensiere, andere schuldig; und so sollen Sie denn gleich eins der allerschlimmsten auf sich nehmen, mit welchem ein freier Mann in dieser schweren Not der Zeit behaftet werden kann: Sie müssen sich in den Reichstag wählen lassen. Es geht nicht anders. Unser braver S. kann die Last nicht länger tragen; er wird sein Mandat niederlegen; ich würde jetzt peremptorisch darauf bestehen, wenn er nicht schließlich selbst zur Einsicht gekommen wäre. Für ihn, der dem sicheren Tode zuwankt, haben Sie, der mit kräftigen Schritten der völligen Gesundung entgegengeht, einzutreten – par ordre unseres Komitees, das gestern noch in später Abendstunde zusammengetreten ist und sich zuletzt einstimmig für Sie entschieden hat. Ich will Ihnen nicht verhehlen, daß anfangs O. und B. und einige andere dagegen waren, die behaupteten, Sie könnten der guten Sache draußen mehr nützen, als drinnen. Gerade die völlige Unabhängigkeit Ihrer Stellung in der Partei habe es Ihnen bisher möglich gemacht und werde es Ihnen fürder möglich machen, gewisse Dinge zur Sprache zu bringen, die ausgesprochen werden müssen, und aus Rücksichten, die innerhalb des Hauses zu nehmen sind, von uns nicht ausgesprochen werden können. Die große, ja unschätzbare Wirksamkeit, die Sie auf diese Weise entfaltet, würde durch ihren Eintritt in die geschlossene Phalanx der Fraktion brach gelegt. Nun bin ich ja immer dieser Ansicht gewesen; aber, Herr, die Not ist groß! Wir haben außer Ihnen faktisch niemand. So drangen wir denn durch, und die Bitte, die ich im Auftrage der Partei nun an Sie richte, ist, wie gesagt, eine einstimmige. Da ich Sie so genau kenne und weiß, daß Sie sich schwer entschließen, um an dem einmal gefaßten Entschlüsse unverrückbar festzuhalten, gebe ich Ihnen drei Tage Bedenkzeit. Vielleicht überlegen Sie die Sache mit Freund G. in W., dessen Bekanntschaft Sie gewiß mittlerweile gemacht haben, nicht damit er Ihnen das Gewissen schärfe – bei Ihnen ist vielleicht das Gegenteil besser am Platze – sondern weil er Ihnen, als ein alter Veteran, mit seiner unendlichen Erfahrung doch vielleicht einen und den anderen Wink geben kann, der Ihnen bei Ihrer Kandidatur von Nutzen ist. Daß Sie bald auf den Kampfplatz treten müssen, ist sehr wahrscheinlich; die Regierung, die ihrer Sache in B. sicher zu sein glaubt, wird nicht zögern, die Wahl anzusetzen. Binnen vier Wochen kann alles abgetan sein; Sie behalten dann bis zum Wiederzusammentritt des Reichstages noch immer vielleicht ebenso lange Zeit, sich von den Strapazen der Kampagne zu erholen; mit Italien ist es freilich für diesmal nichts. Indessen kann man nicht zween Herren dienen; und die Eifersucht der Herrin – wenn mein obiges Aperçu ebenso richtig wie geistreich ist – fürchte ich nicht. Und wäre der Zweifel erlaubt, daß Sie sich in Ihrer Wahl geirrt haben, oder bedürfte es noch eines Prüfsteins – hier ist der feinste, den es geben kann. Das Gold echter Frauenliebe glänzt niemals heller, als wenn es gilt, ein Opfer zu bringen, auf daß der Wert des Mannes klar hervortrete. Empfehlen Sie mich der holden Unbekannten angelegentlichst und seien Sie selbst aufs herzlichste gegrüßt.«

Die Tischglocke hatte bereits zum zweiten Male geläutet, und noch immer starrte Bertram in den Brief. Ging dies mit rechten Dingen zu? Durch welchen wunderbaren Scharfsinn hatte der Freund aus Andeutungen, die gar keine hatten sein sollen, den Zustand seines Herzens richtig gedeutet? Nun, war's ein Wunder, so war es doch ein gutes, so doch eines, das nur der hohen Kraft echter Freundschaft möglich ist; der Versucher konnte sich nicht in die Gestalt des Besten, Edelsten der Menschen kleiden!

Er drückte den Brief des Freundes an seine Lippen. Als er aufschaute, sah er den Sommerfaden, der sich bei der Bewegung, die er machte, losgelöst hatte, zum Fenster hinausschweben in die blaue Himmelsluft.

Mit leuchtenden Augen blickte er ihm nach. – So ist's recht! und zieht und flieht mit ihm, ihr feigen Rückzugsgedanken! Wer den Tod nicht fürchtet, hat schon halb gesiegt!


 << zurück weiter >>