Friedrich Spielhagen
Quisisana
Friedrich Spielhagen

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XXII.

Konski hatte auch an diesem bewegten Abend seiner Pflicht nicht vergessen. Er wußte aus Erfahrung, daß sein Herr aus einer Festlichkeit sich gern vor dem Schlusse zurückzog, und so fand Bertram, als er die Zimmer betrat, die Lichter bereits angezündet und die Vorbereitungen für die Nacht getroffen. Er lobte den Getreuen wegen seiner Sorgfalt, sagte aber, es habe heute mit dem Zubettegehen keine Eile; er erwarte noch den Besuch des Leutnant Ringberg; Konski möge immerhin dem Zuge seines Herzens folgen und wieder zu seinem Schatze eilen.

Er hatte es in seinem gewöhnlichen scherzhaften Tone gesagt, zu Konskis wahrhafter Freude, der daraus entnahm, daß seine Befürchtung, es möchte dem Herrn der Trubel wieder einmal schlecht bekommen sein, unnötig gewesen war. Er erlaubte sich eine Bemerkung in diesem Sinne.

Ich wundere mich selbst darüber, erwiderte Bertram; es scheint, daß Sie recht haben: wir hatten uns zu früh ins Altenregister geschrieben.

Er lächelte, und Konski meinte nicht anders, als daß seine Mahnung von heute mittag auf fruchtbaren Boden gefallen sei und sein Lieblingswunsch trotz alledem noch in Erfüllung gehen werde. Vielleicht wußte Aurora etwas Näheres. Die Frau Amtsrätin hatte zwar strengen Befehl gegeben, daß zehn Minuten, nachdem der letzte Wagen fortgefahren, niemand im Schlosse sich noch regen dürfe, damit die Herren Offiziere nicht im Schlafe gestört würden. Aber Aurora würde schon für ein verschwiegenes Plätzchen Rat wissen.

Der Getreue hatte das Zimmer verlassen, und sofort war Bertrams heitere Miene in eine ernste, angstvolle verwandelt. Er stand da, lauschend, ob der Schritt des Erwarteten sich nicht bereits mit dem des sich Entfernenden kreuze; dann, als das letzte Geräusch auf dem Korridor und der Treppe nach dem Hofe verschwunden war und alles stillblieb, fing er an, mit leisen Schritten hin und her zu gehen und blieb dann wieder lauschend stehen. Wenn Kurt erführe, daß das Duell um seinethalben stattfand? so war alles gegen nichts zu wetten: er würde die Priorität für sich beanspruchen und den Baron fordern. Mußte er sich doch schon ein Gewissen daraus machen, den jungen Mann über den wahren Sachverhalt nicht aufgeklärt zu haben und ihn so der Möglichkeit auszusetzen, daß einer oder der andere der Herren, welche Zeugen des Auftritts gewesen, sein Verhalten mißdeutete und behauptete: er habe die beleidigenden Worte Lotters nur nicht verstehen wollen, was dann, nach Offiziersbegriffen, mit dem Vorwurfe der Feigheit identisch gewesen wäre.

Aber hoffentlich hatte in dem wüsten Durcheinander und der tollen Aufregung kein einziger Zeit gehabt, den kleinen Zwischenfall genau genug zu beobachten, um sich oder anderen hinterher darüber Rechenschaft ablegen zu können. Zank und Streit und Wortwechsel gab's ja nicht selten bei solchen Gelegenheiten; und von den Anwesenden hatte niemand so ausgesehen, als ob er die Gewohnheit habe, dergleichen Vorkommnisse mit einem Ernste zu nehmen, der an und für sich schon dem munteren thüringischen Blute sehr fremd war. Von den Kameraden Kurts war aber in jenem Moment glücklicherweise kein einziger zugegen gewesen, auch der Forstkandidat erst ganz zuletzt gekommen. Es fragte sich also, ob der Baron die, wie er überzeugt sein mußte, ohne Kurts Verschulden wirkungslos gebliebene Beleidigung nachträglich an den Mann zu bringen versuchen würde, wozu ihm ja nun die beste Gelegenheit gegeben war. Daß er auch der Stimme, die in ihm rief: wähle Kurt zu deinem Sekundanten! blindlings gefolgt! Es war die einzige Möglichkeit der Erfüllung seines heißen Gebetes: einen tiefen Blick werfen zu dürfen in des jungen Mannes Herz. Aber war diese Erfüllung nicht zu teuer erkauft, wenn dadurch wieder angebahnt wurde, was er eben mit Preisgebung des eigenen Lebens verhindern wollte?

Doch sagte er sich, daß er noch nicht ganz zu verzweifeln brauche. Freilich wußte Lotter jetzt, wer sein eigentlicher Nebenbuhler war; und diesen Nebenbuhler seinen Zorn fühlen zu lassen, ihn womöglich zu vernichten – wie sollte dies Verlangen nicht übermächtig werden in der Brust eines raschblütigen, jähzornigen, von Gewissensskrupeln nicht behelligten, um seine Mittel niemals verlegenen Mannes, der Erna leidenschaftlich liebte? Aber war das der Fall? nein, und abermals nein! Der Mann hatte Erna niemals geliebt; seine ganze Bewerbung von Anfang bis zu Ende war nichts gewesen als eine gemeine Spekulation auf Ernas vermeintlich kolossales Vermögen, durch das er sich aus bösen momentanen Verlegenheiten zu befreien und die Mittel zu gewinnen dachte, sein nichtsnutziges Schlaraffenleben in großem Maßstäbe fortzusetzen. Die glänzenden Zukunftsträume waren aber schon vor Kurts Erscheinen sehr eingedunkelt; man hatte ihn bereits fallen lassen; und er war sicher scharfsinnig genug, um bald herausgefunden zu haben, wer ihm dies Schicksal bereitet. Seine wütenden Auslassungen Lydien gegenüber bewiesen zur Genüge, daß er völlig genau wußte, wer vom Anbeginn zwischen ihm und Erna selbst gestanden, dann die Entscheidung hinausgezögert, jede weitere Annäherung verhindert, das Mißtrauen der Eltern erregt, den Sinn der Tochter gewandt und schließlich alles zum Schlimmen und Schlimmsten verkehrt hatte. – Gab's einen, der seinen Zorn, seinen Haß verdient, den seine Rache treffen mußte – der Mann war es. Weshalb sich noch einen anderen auf den Hals laden? Man war kein Feigling – Gott bewahre! – aber hier hatte man, als ein vollendeter Pistolenschütze, mit einem Gegner, der kaum einmal die Scheibe traf, leichtes, glattes Spiel; man gibt doch nicht der anderen Partei die Atouts, wenn man sie selbst in der Hand behalten kann?

So, seinen Scharfsinn aufbietend, jedes Für und Gegen sorgsam abwägend, kalkulierte Bertram, während ihm die Minuten zu schleichen schienen und jede folgende schwerer auf seiner Seele lastete. Erfuhr er denn nicht noch immer früh genug, daß sein kühner Versuch, für Ernas Geliebten einzutreten, ihr junges, schon so gefährdetes Glück vor einer neuen, sehr ernsten Gefahr zu bewahren, mißglückt sei? und – daß er für sich selbst die günstige Gelegenheit, zu sterben, verpaßt habe? dies Leben, das seinen Inhalt verloren, das keinen Sinn mehr für ihn hatte, weiterleben müsse. Bereits eine halbe Stunde war verflossen; sie hätten längst zu Ende sein können mit ihrer Beratung, in der es ja kaum etwas zu beraten gab – es wäre denn das andere Duell gewesen!

Auf dem Hofe, von wo fortwährend das Rollen der abfahrenden Equipagen, Rufen und Lärmen aller Art ertönt war, fing es an still zu werden. – Bertram konnte die Ungeduld nicht länger zügeln; er trat auf den Korridor an eines der Fenster, die auf den Hof gingen, über welchen der Erwartete kommen mußte. Da hörte er bereits einen schnellen, elastischen Schritt auf der Treppe; er ging rasch dem Eilenden entgegen, die Hand ausstreckend:

Es ist alles in Ordnung?

Alles!

Ein Gott sei Dank! wollte Bertrams Lippen entschlüpfen; er verkehrte es noch eben in: Haben Sie besten Dank!

Er hatte Kurts Hand festgehalten, während er ihn in sein Zimmer führte. Hier drückte er ihn in das Sofa und nahm an seiner Seite Platz. Kurt meinte, daß man einen lieben Freund, der die erfreulichsten Nachrichten bringt, nicht wärmer und froher empfangen könnte. Diese Empfindung wurde noch verstärkt, als der seltsame Mann alsbald wieder aufsprang und aus seinem Reisevorrat, der unter diesen Umständen schwerlich andere Verwendung finde, eine Flasche Wein herbeiholte, die er selbst entkorkte, dazu die nötigen Gläser; auch eine kleine Kiste mit Zigarren, die er für Liebhaber stets bei sich führe, obgleich er selbst kein Raucher sei.

Er hatte die Gläser gefüllt und hielt das seine Kurt entgegen:

Daß alles nach Wunsch ausfalle!

Von Herzen! erwiderte der junge Offizier.

Er hatte es mit einem tiefen, fast traurigen Ernste gesagt, der in einem wunderlichen Gegensatze zu der aufgeregt fröhlichen Stimmung des älteren Mannes stand. Auch nippte er nur eben, indes dieser hastig, gierig sein Glas leerte und alsbald wieder vollschenkte.

Ich habe fast den ganzen Tag gefastet, sagte er wie zur Entschuldigung; eine große Gesellschaft raubt mir immer Stimmung und Appetit; aber nun, bitte, erzählen Sie! Man war also mit allem einverstanden?

Kurt berichtete in knapper Weise, als gälte es die Erstattung eines Rapports. Die einzige Schwierigkeit habe die Feststellung der Zeit gemacht, da der Baron anfänglich behauptet, seine Reise nicht länger als bis morgen mittag spätestens hinausschieben zu können; schließlich habe er doch die vorgeschlagene sechste Stunde des Nachmittags angenommen; als Rendezvous sei ein Platz in dem großen fürstlichen Walde, ziemlich genau in der Mitte zwischen Rinstedt und der Stadt, gewählt, an dem Ufer eines kleinen Sees, von wo man sich tiefer in den Forst begeben würde, falls der vorüberführende, sonst ganz vereinsamte Weg morgen infolge des Manövers frequentiert sein sollte.

Ich kenne die Stelle von früheren Spaziergängen her sehr genau, warf Bertram ein.

Das beseitigt eine andere Schwierigkeit, fuhr der junge Mann fort; wie Sie nämlich von der Stadt aus den Weg dorthin finden möchten. Für mich ist der Ort besonders bequem, da unser voraussichtlicher Biwakplatz keine Viertelmeile entfernt sein wird. Ich habe vergessen zu erwähnen, daß ich mich bereits der Assistenz unseres sehr geschickten Stabsarztes versichert habe, und daß Herr von Busche für einen Wagen sorgen will. Zuletzt: es schien uns im Interesse der Geheimhaltung der Affäre wünschenswert, daß sich der Herr Baron nicht direkt von hier zum Rendezvous begebe. So hat er denn unter dem Vorwande, mit Herrn von Busche morgen einen Ausflug auf das Manöverfeld machen zu wollen, um am Abend wieder zurück zu sein und übermorgen definitiv abzureisen, sich bei den Herrschaften hier bis morgen abend entschuldigen lassen und ist bereits in diesem Augenblicke mit Herrn von Busche nach der Oberförsterei unterwegs, dort die Nacht zuzubringen.

Das ist ja alles vortrefflich, rief Bertram; alles mit so viel Umsicht und Vorsicht arrangiert! – ich danke Ihnen sehr. Auch Herr von Busche scheint ja recht trätabel gewesen zu sein?

Er war von der liebenswürdigsten Zuvorkommenheit, erwiderte Kurt; ja er sagte mir ganz offen, daß er den Dienst, um den der Herr Baron ihn gebeten, sehr ungern, sehr wider Willen, nur aus Rücksichten der hergebrachten Courtoisie leiste und viel darum geben würde, wenn es in seiner Macht läge, die ganze Affäre beizulegen. Ich gestehe, in dem letzten Punkte völlig mit ihm zu sympathisieren. Es war uns beiden ein überaus schmerzlicher Gedanke, daß ein Mann wie Sie gegen einen Baron Lotter, der sich, wie es scheint, bei niemand einer besonderen Sympathie erfreut, sein Leben aufs Spiel setzen sollte, noch dazu mit allen Chancen gegen sich –

Wieso mit allen Chancen?

Herr von Busche sagte, Ihr Gegner sei einer der eminentesten Pistolenschützen, die er kenne, von einer fast unfehlbaren Sicherheit des Auges und der Hand. Herr von Busche hat Sie freilich nicht auf dem Scheibenstande gesehen, aber er fürchtet – und ich mit ihm – daß –

Ich ein miserabler Schütze sei, rief Bertram lächelnd; sprechen Sie es nur dreist aus! Ja, ja, ihr Herren traut uns Gelehrten in solchen Dingen herzlich wenig zu. Aber ihr irrt euch glücklicherweise: ich bin etwas aus der Übung freilich; indessen ich stehe meinen Mann, noch dazu in der kurzen Entfernung.

Ich freue mich außerordentlich, das von Ihnen zu hören, erwiderte Kurt; dennoch möchte ich mir die Frage erlauben, ob denn gar keine Möglichkeit ist, die Sache gütlich beizulegen. Es wäre dazu noch immer nicht zu spät. Das ist auch Herrn von Busches Ansicht, nur daß wir beide bei der gänzlichen Unkenntnis über die eigentliche Veranlassung –

Aber ich sagte ihnen bereits, daß es eine alte Fehde sei, die hier zum Austrag komme! entgegnete Bertram mit einiger Ungeduld. – Die momentane Veranlassung – nebenbei eine kleine Lektion in der gesellschaftlichen Höflichkeit, die ich dem Baron gegeben – spielt gar keine Rolle.

So ungefähr war auch Herr von Busche von seinem Auftraggeber informiert, und wir sind übereingekommen, uns dabei zu beruhigen, in Anbetracht, daß ein Mann wie Sie nicht anders als mit vollem Bedacht in einer solchen Sache zu Werke gehe, und daß wir Jüngeren seine Beweggründe ehren müßten, auch wenn sie uns leider verborgen bleiben.

Um so mehr danke ich Ihnen beiden für das Opfer, das Sie mir bringen, rief Bertram, dem jungen Manne die Hand reichend.

Dann will ich mich für jetzt empfehlen; Sie werden der Ruhe bedürfen.

Kurt wollte sich erheben; Bertram hielt ihn zurück.

Bleiben Sie noch ein wenig, sagte er, wenn Sie nicht zu müde sind. Ich bin es gar nicht. Nun macht mir freilich das Renkontre morgen auch nicht die mindeste Sorge, ich bin vielmehr von meinem guten Glücke so fest überzeugt, wie Cäsar von dem seinen, und hoffe zuversichtlich, daß wir beide uns noch recht oft im Leben begegnen werden; aber man soll, was die Gegenwart bietet, nicht von der Zukunft fordern, und da lassen Sie mich denn den gegenwärtigen Augenblick benutzen, um ein wenig von einer Angelegenheit zu sprechen, die Sie sehr speziell berührt, und die mir, weiß es Gott, mehr am Herzen liegt, als die leidige, mit der wir nur schon zu viel kostbare Zeit verloren haben.

Auf den Wangen des jungen Offiziers flammte ein tiefes Rot; seine dunkeln Augen irrten seitwärts vor dem intensiven Lichte der großen blauen Augen, deren ungewöhnliche Klarheit und Schönheit er bereits wiederholt im Laufe der bisherigen Unterredung bewundert hatte.

Sie wissen, wovon ich sprechen will? fragte Bertram weiter; und wieder fiel es dem jungen Manne auf, wie der Klang dieser Stimme doch so ganz mit dem milden Glänzen der Augen harmonierte.

Ich glaube es zu wissen, erwiderte er leise.

Dann werden Sie auch im allgemeinen das Verhältnis kennen, in dem ich zu Erna stehe –

Kurt wagte noch immer nicht aufzuschauen; er nickte zustimmend.

Aber Sie können nicht wissen, fuhr Bertram fort, wie sehr innig dies Verhältnis ist, so daß ich dafür keine ganz zutreffende Bezeichnung finde. Ich würde sagen: des Vaters zu einem liebsten Kinde, wenn sich nicht in meine Empfindung für sie ein Ton mischte, den ich – Sie werden mich vielleicht verstehen – ritterliche Zärtlichkeit nennen möchte. Doch mag diese Nuance auch wohl sonst in der Liebe eines Vaters zu seiner Tochter vorkommen – ich habe leider selbst nie eine gehabt; und ich erwähne dieses Moment nur, weil es mir erklären hilft, weshalb Erna, die mir sonst unbedingt vertraut, ihre Liebe vor mir geheimgehalten hat. Vielleicht war das auch nur die einfache Folge der langen Zeit, in der wir uns nicht gesehen – wo ja dann immer eine Art von Entfremdung eintritt, die freilich, sobald sie erst überwunden, eine desto herzlichere Annäherung im Gefolge zu haben pflegt. Vor allem aber: das liebe Kind wähnte sich verschmäht, verraten. An ihrem Glücke würde sie den väterlichen Freund gern haben teilnehmen lassen – das Unglück verschließt stolzen Seelen stets den Mund; und doch weiß ich, daß mehr als einmal das Geheimnis auf ihren lieben Lippen gezittert hat. Hätte sie die Scheu überwunden! sie würde sich und Ihnen, mein Freund, viel Leid erspart haben; und die Palmen im Wintergarten wölbten sich vor einer Stunde über zwei Glücklichen, Seligen, anstatt über zwei jungen Toren, die sich vor aller Liebe die armen Herzen gegenseitig zerrissen.

Kurt zuckte zusammen und machte eine schnelle, heftige Bewegung, als wollte er vom Sofa aufspringen; aber die Augen des Mannes leuchteten wieder so herrlich, und um den Mund schwebte ein so gütiges Lächeln. Ein seltsamer Schauer durchrieselte des jungen Mannes Herz, wie vor etwas unnahbar Hohem, dem sich demütig unterzuordnen, gläubig anzuvertrauen gebieterische Pflicht sei. Er senkte die Augen, die zornig aufgeblitzt waren.

Ich danke Gott, daß er Sie zu der Stelle geführt hat, sagte er leise.

Und ich danke Ihnen für das Wort, das mich von jeder Zurückhaltung befreit und mir die letzte Scheu nimmt, erwiderte Bertram, indem er beide Hände des jungen Mannes nahm und drückte. – Wer empfände diese Scheu nicht, wenn es gilt, die zarten Fäden zu berühren, die sich von Herz zu Herzen spinnen und sich, so Gott will, zu jenem starken Gewebe vereinigen, das selbst der Tod nicht trennen kann? Was Gott zusammengefügt, soll der Mensch nicht scheiden; was Gott scheidet, soll der Mensch nicht zusammenfügen wollen. Hier nun, was sich zwischen euch gedrängt hat, ist eitel Mißverständnis, hervorgerufen durch ungewöhnliche Verhältnisse, die auch dem Älteren, Erfahreneren zu raten aufgegeben haben würden, und in denen ihr Jungen, Leidenschaftlichen, Unbedachten euch nicht zu raten und zu helfen wußtet. In dieser eurer Rat- und Hilflosigkeit habt ihr denn sicher beide hinüber und herüber Fehler begangen, über die der Dämon des Stolzes, der die Engel zu Fall gebracht, seine helle Freude gehabt haben wird. Nicht, damit ich euch eure gegenseitigen Fehler registriere, nur auf daß wir, die Vergangenheit rekapitulierend, klarer in die Zukunft blicken, sagen Sie mir ein wenig, wie alles gekommen ist. Wo lernten Sie Erna kennen? in dem Hause ihrer Tante in Erfurt? nicht wahr?

Ja, erwiderte Kurt, und sie kennen und lieben, war dasselbe; ich darf ohne Übertreibung sagen: sie sehen und sie lieben. Eines Abends – in größerer Gesellschaft – ich verkehrte schon lange in dem Hause und interessierte mich, glaube ich, ein wenig für Auguste, die jetzt auch hier ist, während ich mit Agathe, dem lieben Mädchen, gute Freundschaft geschlossen. Aber auch sie hatte mir nicht gesagt, daß Erna zum Besuch kommen würde – sie wollte mich überraschen. Und so sah ich sie, ganz unerwartet, in dem Kreise der jungen Damen. Es wäre ganz vergeblich, versuchte ich zu schildern, was da in meinem Herzen vorging. So muß den Menschen zumute gewesen sein, habe ich später oft gedacht, von denen die Bibel erzählt, daß sie einer himmlischen Erscheinung gewürdigt wurden. Der Atem stockte mir in der Brust; die ganze übrige Gesellschaft verschwand; ich sah nur sie, und eigentlich nicht sie, nur ihre Augen. Und das war wie ein Doppelstrom überirdischen Lichtes, der doch wieder ein Strom war, auf dem ich machtlos, widerstandslos fortgetragen, emporgehoben wurde in Gefilde der Seligen, von welchen ich eine Stunde vorher nichts gewußt, nichts geahnt hatte, und die doch – ich fühlte es völlig klar – meine eigentliche Heimat waren, zu der ich zurückkehrte aus ziel- und zwecklosem Irren in der Fremde.

Die Stimme des jungen Mannes bebte; er leerte das Glas, das er bis dahin kaum berührt hatte, auf einen Zug. Bertram füllte es von neuem; der andere bemerkte nicht, wie die einschenkende Hand zitterte, und wie eigen verschleiert der Ton war, in welchem Bertram, die eingetretene Pause unterbrechend, sagte:

Sonderbar, oder vielmehr weniger sonderbar als hoch erfreulich, daß ich endlich einmal jene zündende Wirkung von der Liebe Götterstrahl, welche die Dichter aller Zeiten und Orte gepriesen und besungen, in der Wirklichkeit bestätigt finde. Ich schäme mich fast, einzugestehen, ich habe es, trotzdem ich kein hoffnungslos prosaischer Mensch zu sein glaube, immer nur für einen holden Traum der Phantasie gehalten.

Und ist ja auch insofern ein Traum, erwiderte Kurt, als die Verhältnisse der Wirklichkeit sich auf das wundersamste verrücken und verschieben, und man von dem, was geschieht, was man tut, kaum bessere Rechenschaft zu geben weiß, als ein Schlafwandelnder. Ich erinnere mich nicht, wie ich an jenem Abend nach Hause gekommen bin; ich weiß schlechterdings nicht, ob nun mehrere Tage dazwischen liegen, oder ob es bereits an dem folgenden war, daß ich, auf einer Landpartie, abseits von der Gesellschaft mit ihr durch einen Hain wandelte. In den vom Abendlicht durchzitterten Bäumen tönten ein paar leise Vogelstimmen. Sonst tiefe Stille. Und wir gingen stumm nebeneinander; sie bückte sich manchmal, eine Blume zu pflücken für den kleinen Strauß, den sie in der Hand hielt, und als sie sich wieder einmal bückte und ich ihr zuvorkommen wollte, berührten sich unsere Hände. Wir richteten uns dann beide erschrocken auf und blickten uns in die Augen, und der Strauß glitt aus ihrer Hand und – es war eben ein Traum, ein wonnevoller, kurzer Traum. Wer kann einen Traum erzählen! Der junge Mann war aufgestanden und an das offene Fenster getreten. Bertram blieb sitzen; er hatte den Kopf in die Hand gestützt. Als Kurt wieder zum Tische zurückschritt, wollte es ihn bedünken, als sei das edle Gesicht, das jetzt freundlich lächelnd zu ihm aufschaute, bleicher als zuvor.

Verzeihen Sie, sagte er; ich glaube Ihnen anzusehen, Sie bedürfen der Ruhe. Lassen Sie mich hier abbrechen. Was nun kam, wissen Sie ja.

Aber nicht so ganz, wie es kam, erwiderte Bertram; und das ist für mich von höchstem Interesse. Bitte, setzen Sie sich wieder zu mir. Sie müßten denn selbst zu müde sein. Was mich betrifft, ich bin eine alte erprobte Nachteule. Wie es kam – ja! wie kam zum Beispiel die Kunde von Ihrem Verhältnis zur Fürstin Erna zu Ohren? Es muß sich da ein Verräter gefunden haben und ein recht böswilliger dazu.

Wäre das doch nur der Fall gewesen, erwiderte Kurt; einen Verräter würde Erna mit ihren klaren Augen bald durchschaut haben. Aber der es ihr mitteilte, war ein lieber Freund von mir, ein Kamerad, der auf einem Besuche in unserer alten Garnison – unser Regiment war unterdessen, wie Sie wissen, nach Magdeburg versetzt – sie kennen lernte, keine Ahnung von unserem Verhältnisse hatte und, als die Rede auf mich kam, unter dem Siegel der Verschwiegenheit das Geheimnis ausplauderte, jedenfalls auch in seiner Weise ausschmückte und vervollständigte, um das enorme Glück, das ich zu machen im Begriffe stehe, im höchsten Glanze schimmern zu lassen. Da er notorisch mit mir sehr liiert war, ich ihn selbst an das Palmsche Haus, speziell an Erna, empfohlen hatte, mußte sie wohl glauben, daß seine romantische Geschichte pure Wahrheit sei, ja, es stieg der fürchterliche Gedanke in ihr auf, ich – ich selbst hätte den Freund zu diesen Mitteilungen autorisiert, oder, wenn das auch freilich allzu schmachvoll gewesen wäre: er sei von mir beauftragt, sie vorzubereiten, und habe nur seinen Auftrag in plumper Weise ausgeführt, so daß ich, wenn nicht für die Form, so doch für die Sache selbst verantwortlich sei. Ihr nächster Brief – die Briefe gingen durch Agathens Hände unter dem Deckmantel einer Korrespondenz mit einer Freundin in meiner jetzigen Garnison – enthielt weiter nichts als die Frage, ob es wahr sei, daß ich mit der Fürstin in irgend einer Verbindung stehe? Ich konnte die so gestellte Frage nicht anders als mit »ja« beantworten, indem ich sie zugleich bat, über alles, was diese sogenannte Verbindung angehe, niemand, es sei, wer es sei, Gehör zu schenken als nur mir selbst. Die Bitte kam freilich sehr spät, verfehlte aber doch ihre Wirkung nicht auf Ernas Herz, das sich gewiß mit äußerstem Widerstreben dem schrecklichen Verdachte geöffnet hatte und nun befreit aufjauchzte. Sie neckte den Kameraden wegen seiner fruchtbaren Phantasie, die sich Geschichten erdichte, an denen kein wahres Wort sei, wie sie jetzt von anderer zuverlässiger Seite erfahren. So, in die Enge getrieben und empfindlich darüber, daß ihm alle Glaubwürdigkeit abgesprochen wurde, erklärte der Kamerad, er habe es, wenn nicht aus erster, so doch aus zweiter sicherer Hand, denn sein Gewährsmann sei kein Geringerer als der Oberst, dessen Zeugnis Erna doch schwerlich zurückweisen werde. Er bat abermals um Verschwiegenheit, ließ aber durchblicken, daß auch andere Kameraden von der Sache unterrichtet seien und ebenfalls durch den Oberst. Jetzt verkehrte sich für Erna der Zweifel, den sie besiegt zu haben glaubte, in Verzweiflung. Sie kannte durch mich selbst das intime Verhältnis, das zwischen mir und Herrn von Waldor bestand, den ich wiederholt meinen besten, gütigsten Freund, meinen Beschützer und zweiten Vater genannt hatte. Eine neue Anfrage von Erna: ob Herr von Waldor meine Beziehungen zur Fürstin kenne. Und wiederum mußte ich diese Anfrage bejahen, ohne den Verdacht hinzufügen zu dürfen, der jetzt – und jetzt zum ersten Male – in mir aufstieg, daß Herr von Waldor diese Beziehungen in seinem, Ihnen ja wohlbekannten Interesse geflissentlich falsch dargestellt habe. Was soll ich weiter die unselige Lage schildern, in die ich nun geriet: wie sich das Netz, in das ich mich verstrickt – oder in welches man mich verstrickt – immer enger und verderblicher über mir zusammenzog, so daß ich alle Hoffnung aufgegeben, mich daraus zu lösen, um so mehr, als Erna, wie sie ja selbst gehört, gerade Ihre Vermittlung, die ich anrufen wollte, mit so leidenschaftlicher Entrüstung zurückgewiesen hat – ich gestehe, nicht zu ahnen, aus welchem Grunde.

Die dunkeln Augen des jungen Mannes hoben sich fragend zu Bertram, ohne daß dieser für den Moment den Blick erwiderte. Er hatte sich eben ein wenig gewandt, die Gläser aufs neue zu füllen; er schien nicht zu bemerken, daß er das zweite übervoll goß und der Wein reichlich auf die Tischdecke floß.

Ah! sagte er, Verzeihung! ich war so in Gedanken. Aus welchem Grunde? Nun, wir stellten ja schon vorhin fest, daß erfahrungsmäßig junge Mädchen ihre Väter ungern zu Vertrauten ihrer Herzensgeheimnisse machen. Sie fürchten die väterliche Eifersucht, die väterliche Voreingenommenheit gegen den, der es sich herausnimmt, die Hand zu begehren, für welche ja der Beste der Besten selbstverständlich weitaus nicht gut genug ist. Aber seien Sie ohne Sorge: Erna soll an mir einen Freund und Beschützer und Berater finden, der den Beweis zu liefern hofft, daß man wie ein Vater lieben kann, ohne wie ein Vater verblendet zu sein, und der es vor allem ehrlicher mit ihr meint, als ich leider von Herrn von Waldor in bezug auf Sie sagen kann.

Über das offene Gesicht des jungen Mannes flog ein dunkler Schatten.

Ich danke Ihnen, sagte er mit leiser Stimme, danke Ihnen aus tiefstem Herzensgrunde für so viel Güte, die zu verdienen die schönste Aufgabe meines Lebens sein wird; aber schelten Sie mir Herrn von Waldor nicht! Es ist unmöglich, ihn mit dem gewöhnlichen Maßstabe zu messen. Todesverachtung und Lebensgier, königliche Großmut und kleinlicher Egoismus, zarteste Liebe und stahlharter Haß – das alles liegt in der Seele des Mannes dicht nebeneinander, durchkreuzt sich in einer Weise, die selbst mir, der ich ihn besser zu kennen glaube als irgendwer, oft ein völliges Rätsel ist. Aber wenn ich mich dann einmal gar nicht in ihn zu finden weiß, wenn ich, wie in diesem Falle, sehen muß, daß er selbst mich und mein Glück – ich darf nicht sagen: opfern, aber aufs Spiel setzen kann, meint er, dadurch das eigene gewagte Spiel zu gewinnen – dann brauche ich nur zu gedenken, was er dem verwaisten Knaben gewesen ist, nachdem er meinen zum Tode verwundeten Vater auf den eigenen Schultern aus dem Kampfgewühle der Düppler Schanzen getragen – wie er – der Ungeduldigste der Menschen – mit der Geduld einer Mutter an meinem Bette gewacht hat, wenn ich krank war, und von neuem zu studieren begonnen hat, um meine Studien überwachen und leiten zu können; und wie er mich auf der Kadettenanstalt unterhielt, den Fähnrich, den jungen Offizier equipierte, unterstützte; dem Blutarmen, Bürgerlichen, damit er in dem aristokratischen Regiment standesgemäß leben könne, überreichliche Zuschüsse aufnötigte und außer sich geriet, als ich mich weigerte, sie länger anzunehmen, weil ich erfuhr, daß er sich das Geld zu Wucherzinsen borgen mußte – gewiß, Sie werden mir einräumen: wer so tief in der Schuld ist, wie ich es gegen Herrn von Waldor bin, der hat das Recht, ja er hat die Fähigkeit verloren, sich zu sträuben und zu widersetzen, auch wenn die Hand, die ihm so viel Gutes erwies, schwer, furchtbar schwer auf ihn drückt.

Ich glaube, Ihnen das nachfühlen zu können, erwiderte Bertram, obgleich Waldor in meinen Augen dadurch nicht entschuldigt wird – im Gegenteil: ich halte mich streng an das Bibelwort, daß die rechte Hand nicht wissen soll, was die linke tut, und daß, wer Dank begehrt, seinen Lohn dahin hat. Überdies, war denn das Opfer, das Waldor Ihnen zumutete, indem er Sie in eine so verhängnisvolle Lage drängte, notwendig? Im moralischen Sinne ist das gleichgültig, aber ich möchte über diesen Punkt, der mir bis jetzt dunkel geblieben ist, womöglich aufgeklärt sein.

Wie sich die Sache genau verhält, wüßte auch ich nicht zu sagen, entgegnete Kurt; ich nehme an, daß in dem Ehekontrakt der Fürstin gewisse Bedingungen enthalten sind, die ihr den größten Teil ihres jetzigen Vermögens, sobald sie eine neue Ehe eingeht, entziehen, oder vielmehr zu entziehen scheinen. Denn um die richterliche Interpretation dieses fraglichen Punktes handelt es sich in dem Prozeß, der jetzt in die letzte Instanz getreten ist. Es läßt sich weiter annehmen, daß die Auffassung der Fürstin nach den Gesetzen einer gesunden Logik die einzig richtige; aber sie fürchtet – ich weiß nicht, ob mit Recht oder Unrecht – man werde sich gegen sie entscheiden, sobald man erfährt, daß sie ihre Wahl auf einen Ausländer gelenkt hat.

Aber Sie waren doch auch ein Ausländer, warf Bertram ein.

Kurt zuckte die Achseln: Ein obskurer bürgerlicher Leutnant und die Fürstin Bolinzow! das brauchte man nicht ernsthaft zu nehmen, das würde man nicht ernsthaft genommen haben, ebensowenig wie ein Dutzend anderer Liaisons –

Der junge Mann brach ab, bis in die Schläfen errötend.

Pfui! rief er, das war schändlich von mir! Mag ein anderer über das unglückliche Opfer greulichster Mißerziehung und der entsetzlichsten Verhältnisse den Stab brechen, ich darf es nicht, ich darf gegen sie nichts empfinden, als Bewunderung und Dank und immer wieder Dank, ich, der ich weiß und es an mir erfahren, daß sie sich durch alles Schlimme und Arge, das sich an sie herangedrängt von ihren Kindesbeinen, die Fähigkeit einer großen heroischen Liebe bewahrt hat, deren wir Männer Wohl nie und von den Frauen auch nur die allerbesten, alleredelsten fähig sind.

Kurt hatte erst bei den letzten Worten den Blick zu erheben gewagt und senkte ihn sofort wieder. Die großen Augen des Mannes ihm gegenüber leuchteten in einem wundersamen Glanze, während ein seltsames, halb wehmütiges, halb ironisches Lächeln um seine Lippen schwebte.

Gewiß, sagte er langsam, Sie haben vollkommen recht: nur die alleredelsten Frauen! Wir Männer sind egoistische Halunken; das ist unser stolzes Herrenrecht; und wer sich dieses Rechtes begibt, ist wert, daß er zwischen elenden Schachern ans Kreuz geschlagen wird.

Er hatte sich vom Sofa erhoben, schritt ein paarmal im Zimmer auf und ab und trat dann an das offene Fenster. Kurt war sitzengeblieben, meinend, daß jener sich bald wieder zu ihm wenden werde. Aber das geschah nicht. Der junge Mann geriet in Verlegenheit. Den Träumer dort zu stören, verbot ihm die Ehrfurcht. Er war nie einem Menschen begegnet, dessen Nähe ihn so durchschauert hätte mit dem Anhauch des höchsten, reinsten Lebens. Und zu diesem Bewußtsein, mit dem er sich über sich selbst hinausgehoben fühlte, gesellte sich die schmerzliche Empfindung, die ihn vor sich selbst erniedrigte; daß er eben noch klein genug gewesen, über die Frau ein herbes Wort zu sprechen, von der er doch wußte, sie war hierher gekommen, der Opfer größtes zu bringen, das ein liebendes Herz bringen kann. Und jener wußte es nicht minder – hatte ihm doch Alexandra gestanden: ich habe ihm alles gesagt. Welcher schrille Mißton mußte für des Mannes reingestimmte Seele das schlimme Wort gewesen sein! Und nun hatte der Mann dem, welchen er als einen Undankbaren erfunden, die auf guten Glauben hin geschenkte Sympathie entzogen und hatte sich von ihm gewandt – für jetzt und für immer.

Er wollte, er mußte fort.

Aber es war, als ob er von unsichtbaren Banden an seinen Platz gefesselt sei; und jetzt, wie er so, mit sich selbst grollend, in dumpfem Brüten dasaß, waren es nicht bloß die müdeschweren Glieder, die ihm den Dienst versagten. Die Gedanken schweiften und zerflatterten. Über seine Augen senkte es sich wie ein dichter Schleier, durch den er nur noch auf Momente undeutlich die Umgebung sah; die Lichter auf dem Tische schienen Biwakfeuer in weiter Ferne und dann rötliche Sterne, die im Dunkel erloschen.

Bertram hatte die Lichter nach dem Schreibtische getragen, so daß nun Schatten über den Schläfer fiel; dann kam er zum Sofa zurück und breitete ihm eine Decke über die Knie.

Armer Junge, ich sah, wie du mit dem Schlafe kämpftest; das Examen war zu lang, aber ich konnte es dir nicht ersparen, und du hast es gut bestanden.

Er blieb im Anschauen versunken.

Und so wird sein Haupt neben dem ihren ruhen – auf einem Kissen.

Er strich sich über die Augen, trat geräuschlos an den Schreibtisch zurück, und leicht und leise glitt seine Feder über das Papier.

»Mein liebes Kind! Ich darf Dich von jetzt an mit Recht so nennen, jetzt, wo mir das Schicksal selbst eine Gelegenheit nach der anderen gibt, mich als ein guter, und ich hoffe auch einsichtiger Vater Dir gegenüber zu bewahren. Vor einer Stunde kaum hatte ich mein geliebtes Kind zu beruhigen, zu trösten, und durfte ihr doch den rechten Trost nicht geben, durfte ihr nicht meine volle Überzeugung aussprechen: daß ein gutes, gerades Herz mit seinem ersten vollen Schlage immer das Rechte trifft. Denn gut und gerade, wie das Herz meines lieben Kindes ist, so ist es doch auch ein gar trotzig Ding, das lieber nach seiner Fasson unselig, als nach der von anderer Leute Herzen selig sein will, und sich gegen mein Zureden verschlossen und mein Zeugnis verworfen hätte, und immer wieder darauf zurückgekommen sein würde: du kennst ihn nicht! Nun aber sage ich Dir: ich kenne ihn; und Du mußt mein Zeugnis annehmen als eines Vielerfahrenen, Herzenskundigen, dem die Liebe zu Dir, die Sorge um Dein Glück die menschlich scharfen Augen mit göttlicher Klarheit gefüllt hat. Ich kenne ihn nach dieser einen Stunde, die ich hier auf meinem Zimmer im vertraulichsten Gespräche mit ihm verbracht, als hätte ich ihn von seinen Kindesbeinen gekannt, den stattlichen Mann, der, während ich dies schreibe, unter meiner Obhut den süßen Schlaf erschöpfter Jugendkraft schläft, trotz seiner schmerzlichen Sorgen und seines Herzens bitterer Not. Ich habe den Schläfer beobachtet. Der Schlaf ist ein furchtbarer Verräter für die engen Geister und die schlaffen Herzen. Hier hatte er nichts zu verraten; hier hatte er nur seinen weichen und doch untrüglichen Stempel zu drücken auf das schöne Abbild einer großen und edeln Seele. Und so, wie diese Seele, gleichsam wehr- und widerstandslos, mir ausgeliefert ist, empfange sie denn, Du Liebe, aus meiner Hand, als ein hochherrliches Geschenk der Götter, die mich gewürdigt haben, der Bote und Vollstrecker ihres heiligen Ratschlusses zu sein.

Ich habe Dir versprochen, nicht zu reisen, solange Du meiner noch bedürftest. Du bedarfst meiner nicht mehr; so reise ich morgen früh, ohne Abschied von Dir zu nehmen. Auch Deiner Mutter werde ich mich nur schriftlich empfehlen: sie kennt meine Passion, geräuschlos aus der Gesellschaft zu verschwinden. Es ist eine lange Reise, die ich vorhabe, und wir sehen uns wohl sobald nicht wieder. Trennung ist ein zeitweiliger Tod, und die Zeit wieder nichts als ein winziger Erdenwinkel, der zu seinem Komplement die Unendlichkeit hat. Der edlere Mensch sollte sein Denken und sein Handeln nicht auf jenen, sondern auf diese berechnen; und so lasse Dir, was für die kurze Spanne, die wir einander nicht sehen werden, gesagt ist, für immer gesagt sein: lebe Wohl! das heißt: lebe nach dem Gebote Deines Herzens, wie Du es vernimmst, wenn Du in heiliger Stille und Andacht seiner Stimme lauschest! Wie es sich dann gestaltet dieses unser Leben – es ist nicht mehr unsere Sache, sondern die von Mächten, über welche wir ein für allemal keine Gewalt haben, und geht uns deshalb nichts an. Also noch einmal: lebe wohl!

Grüße mir die liebe Agathe auf das herzlichste! sie ist Deine wahre Freundin; mir war immer, als könne sie Dir nichts raten, was nicht auch ich Dir raten würde.

Und eine andere ist Deine Freundin, obschon Du sie nicht dafür hältst. Du weißt, daß ich von der Fürstin spreche. Auch sie wird sich morgen von Euch verabschieden, nicht ohne den Versuch gemacht zu haben, Dir zu beweisen, daß sie Deine Freundin ist. Empfange sie gut um meinetwillen; dann, bin ich überzeugt, wirst Du mit freundlich dankbaren Gefühlen von ihr scheiden, die sie selbst Dir eingeflößt hat. Was immer sie Dir mitteilt – ich übernehme die Bürgschaft der Wahrheit. Sie gehört zu den Herzen, die oft irren mögen, aber niemals lügen.

Solltest Du mir noch eine Botschaft zu senden haben – gib sie Deinem Vater mit, den ich im Laufe des morgenden Tages in W. sehe. Falls ich Dir noch etwas zu sagen hätte, soll es Dir Kurt überbringen, den ich ebenso morgen noch sehe und spreche.

Und nun gedenke Deines Versprechens, mein gutes und gehorsames Kind zu sein, und zum letzten Male: lebe wohl!«

Er hatte den Brief kuvertiert und wandte sich in seinem Sessel nach dem Sofa. Sein junger Gast lehnte in derselben Stellung; nur der Kopf war ein wenig mehr hintenüber gesunken. Und mochte es nun sein, daß die Schatten tiefer auf die Stirn und die geschlossenen Augen fielen, während Kinn und Lippen in ein helleres Licht traten – die vorhin so weichen Züge schienen scharfer und der Ausdruck fast frauenhafter Milde und Sanftheit in den mannhafter Entschlossenheit, ja zürnenden Unmuts umgewandelt.

So mochte Simon Petrus die Brauen zusammengezogen, so mochte es um seine Lippen gezuckt haben – in jener Nacht!

Und konnte doch schlafen, obschon er wußte, was geschehen würde! wie dieser hier es weiß und doch schlafen kann!

Er stand wieder am offenen Fenster, sich gegen das Kreuz lehnend.

Tiefe Stille; nur manchmal strich der Nachtwind vorüber; dann rauschte und raunte es in den Büschen und Bäumen. Aus dem Dorfe dämmerte hie und da durch dichte Nebelschleier ein rötliches Licht. Jezuweilen kam verworrenes Geräusch herauf wie von Rosseshufen und dem gleichmäßigen Schritte eines Kriegshaufens und Waffengeklirr. Dann wieder tiefe Stille, und durch die tiefe Stille das halberstickte Krähen eines Hahns. Über dem Rande der Berge drüben hing der beinahe volle Mond blutrot in dem Dunste, der ihm aus den Wäldern entgegendampfte.

Hast du auch ihn so trübselig angeblickt in jener Nacht? und mußten auch ihm alle himmlischen Sterne verlöschen, damit er des Himmels eingedenk sei, den er in seiner Brust trug?

Ach, und er wußte, daß er für die Welt starb; ich verlange ja in Demut nichts, als für sie zu sterben, die meine Welt ist.

Man kann sich sein Gethsemane nicht wählen; man muß es nehmen, wie es kommt: unter dem Klange der Posaunen des Weltgerichts, der durch die Herzen aller nachwachsenden Menschengeschlechter dröhnt, oder in tiefer, weltverschollener Heimlichkeit, in welche nie ein Menschenauge schauen wird, so wenig, wie in den Abgrund des Meeres.

Und dies hier nun ist mein stilles Gethsemane. –

Der Mond war hinter den Bergen versunken; der Morgenwind wehte kühl herein; er war im Begriff, das Fenster zu schließen, als aus der Ferne ein kurzer, dumpfer und doch starker Ton herüberklang, dem alsbald andere ähnliche folgten, so schnell, daß das Echo bereits die zerstückten Töne zusammenfassen und als anschwellenden Donner zurückbringen konnte. Und nun schmetterten aus dem Dorfe langgezogene Trompetentöne, und die Trommeln rasselten drein.

Bertram hatte sich schnell zu dem Schläfer gewandt, der nicht um seinethalben die Pflicht des Dienstes versäumen sollte. Der aber war bereits von seiner Sofaecke aufgetaumelt mit weit offenen Augen, welche noch der Schlaf umschleiert hielt, und weit ausgestreckten Armen, die in der Luft wie nach Waffen griffen.

Ich, ich! nicht Sie! ich will's ausfechten! geben Sie mir die Pistole!

Bertram berührte seine Schulter:

Man schlägt im Dorfe Generalmarsch.

Ja so! ich meinte –

Er fuhr sich mit den Händen über die Augen.

Ich habe geschlafen – verzeihen Sie! wie sind Sie so gut, daß Sie für mich gewacht haben! – Ist das schon lange?

Er deutete nach dem Fenster.

Keine halbe Minute.

So komme ich noch zur rechten Zeit.

Er hatte den Degen bereits angesteckt und den Helm ergriffen.

Verzeihen Sie meine Eile – Sie wissen –

Keine Entschuldigung! das versteht sich von selbst. Auf Wiedersehen!

Er hatte dem jungen Manne die Hand gereicht. In dem schönen männlichen Gesichte des Jünglings, der jetzt wieder zum vollen Leben erwacht war, zuckte es seltsam. Er wollte offenbar etwas sagen, für das er nicht den rechten Ausdruck fand. So drückte er nur kräftig die Hand, die er in der seinen hielt.

Nun denn – auf Wiedersehen!

Er war davongeeilt; Bertrams Blick blieb auf die Tür geheftet, durch welche die schlanke Gestalt entschwunden.

Gott sei Dank! es ist wenigstens keine Unehre, ihm zu weichen; an ihm ist Kern und Schale süß.


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