Friedrich Spielhagen
Quisisana
Friedrich Spielhagen

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V.

In der Tat war die Empfindung des Unrechts, sich gegen Erna so weit ausgelassen zu haben, Bertram in doppelter Stärke wiedergekommen, da er sich sagen mußte, daß sein Gebot, das Vergangene vergangen sein zu lassen, kurz vorher von ihm selbst in so bedenklicher Weise übertreten sei. Das Vergangene war fürder kein Geheimnis mehr zwischen den Beteiligten; und was nun weiter geschah – jedes Wort, das sie miteinander sprachen, jeder Blick, den sie wechselten – es hatte alles, alles Sinn und Bedeutung für ein Drittes: für das schöne, über seine Jahre ernste Mädchen mit den großen, stillen, götterhaften Augen.

So war denn seine Ablehnung von Ernas Lob sehr ernstlich gemeint, aber er hatte doch gehofft, es werde das Schlimmste nun überstanden sein.

Wie sehr er sich darin getäuscht, wurde ihm peinlich klar mit dem ersten verstohlenen Blick, den er bei dem taghellen Schein der Kerzen im Speisesaal in das Gesicht Lydies wagte, die ihm an dem runden Tische gegenübersaß. War das wirklich Lydie? oder hatte ein heimtückischer Dämon eine Karikatur an Lydies Stelle gezaubert? das Bild des geistvollen, von Scherz und Neckerei, Laune und Witz übersprudelnden Mädchens mit den unregelmäßigen, pikanten Zügen, den großen, lichtblauen, schelmischen Augen, den frischen, rosigen Farben, dem flatternden, aschblonden Lockenhaar verwandelt in das einer alternden Kokette, welche die dünnen Lippen fortwährend spitzt, selbst beim Lachen, um die plombierten Zähne nicht zu zeigen; die Lider schauspielermäßig bald senkt, bald hebt, den starren Augen einen Glanz zu verleihen, der ebenso trügerisch ist wie das allzu helle Rosa auf den mageren Wangen oder das allzu dunkle Karmin der Ohren, in deren Läppchen kleine Diamanten funkeln? und den mit Gold durchwirkten, weißseidenen Schal jetzt von den spitzen Schultern gleiten läßt, um ihn sofort wieder hoch hinaufzuziehen und eine malerische Drapierung zu versuchen, die nicht recht gelingen will, so daß das Spiel in der nächsten Minute wiederholt werden muß?

Und dies geschminkte, aufgeputzte, zudringlich gefallsüchtige Wesen hatte er geliebt – mit seines Herzens bester, reinster Kraft, wie er vorhin Erna mit leidenschaftlicher Erregung versichert! Es war fürchterlich. Würde Erna glauben, daß der dürre Strauch da je im Frühlingsblütenschmuck geprangt? konnte sie es glauben, wenn sie Lydies Jugendfreundin, die eigene Mutter, ansah, deren hohe Schönheit die Flucht der Jahre kaum gestreift hatte? deren große, braune Augen noch immer samtweich leuchteten? deren rabenschwarzes Haar noch immer in bläulichem Schimmer erglänzte? War aber das Mißverhältnis in der Erscheinung und dem Wesen der beiden Damen jetzt so groß, mußte es nicht immer bestanden haben? und der Geschmack eines Mannes, dessen Gefühl sich so weit verirren konnte, allezeit ein kläglicher gewesen sein?

Und wenn ihm das erbarmungslose Kerzenlicht eine so greuliche Entdeckung gebracht hatte, wie mochte denn er selbst nun erscheinen vor Ernas prüfenden Blicken? War nicht etwa mit ihm eine ebenso schauerliche Metamorphose vorgegangen? Hatten doch die zwanzig Jahre selbst Ernas Vater, der auf der Universität den Beinamen des Schönen mit Recht geführt, in einen übermäßig korpulenten Herrn mit stark verschwommenem Gesicht verwandelt, dessen mächtiger Schädel um die Schläfen herum schon bedenklich kahl wurde! Und er selbst hatte sich nie durch Schönheit ausgezeichnet; das schlichte Haupthaar war zwar noch dunkel wie ehemals, und er hatte vorhin im Spiegel ein blasses und scharfes, aber, wie er wähnte, trotz alledem nicht verwüstetes Gesicht erblickt. Was konnte der gefällige Spiegel der blinden Eitelkeit nicht alles weismachen, nicht alles aufbinden? In Lydies Gemach hing jedenfalls gerade solch ein Spiegel!

Immer trüber wurde es Bertram zu Sinn; die Augen, die er nicht mehr aufzuschlagen wagte, starr vor sich nieder auf die Teller heftend, welche die Diener wechselten, ohne daß er die Speisen, die er sich mechanisch genommen, berührt hätte, saß er da, kaum ein Wort von dem Gespräch hörend, das hauptsächlich von Lydie und dem Baron geführt wurde. Es schien sich um Verhältnisse bei Hofe zu handeln, die sehr amüsant und pikant sein mußten, denn es wurde, wenigstens von den beiden, viel gelacht; und die schöne Hildegard erinnerte mehrmals mit erhobenem Finger an den Respekt, den man unter allen Umständen den höchsten Herrschaften schuldig sei. Dann kam die Rede auf das bevorstehende Manöver, dessen Disposition der Baron bis in die kleinsten Details zu kennen behauptete, indem er den Damen mit Messerbänken, Dessertlöffeln, Brotkügelchen die ursprünglichen Stellungen der Angreifer und der Angegriffenen zu verdeutlichen suchte und die Eventualitäten erwog, die eintreten könnten und müßten, je nachdem die Kommandierenden so oder so operierten. Unter allen Umständen werde es in unmittelbarer Nähe von Rinstedt, wenn nicht in Rinstedt selbst, zum Entscheidungskampf kommen, der freilich, da sich das Terrain für Kavallerie so wenig eigne, fast ausschließlich zwischen Artillerie und Infanterie auszufechten sei. Das bedauere er, der gewesene Kavallerist, besonders; aber auf ein glorioses Schauspiel könnten die Damen nichtsdestoweniger mit Sicherheit rechnen; schade, daß er, trotz seiner vielen Verbindungen in der Armee, gerade unter den Offizieren des Regiments, das in Rinstedt in Quartier kommen sollte, gar keine persönlichen Bekannten habe.

Ich dafür eine ganze Menge, sagte der Amtsrat; die Neunundneunziger standen ja bis vor einem Jahre in Erfurt; ich bin oft genug mit den Herren auf den Jagden zusammengewesen.

Da müssen Sie doch auch einen und den anderen kennen, meine Gnädigste, sagte der Baron, sich zu Lydie wendend; die Herren sind gewiß gelegentlich zu unseren Hofbällen befohlen worden.

Natürlich, erwiderte Lydie, zum Theater kommen sie ja ebenfalls immer in Scharen herüber – aber wer kann einen roten Kragen vom anderen unterscheiden? ich nicht! ich liebe einfache, solide bürgerliche Farben. Fragen Sie Erna! die muß Bescheid wissen; sie ist noch im vorigen Sommer sechs Wochen in Erfurt bei Tante Adelheid gewesen; und da stiegen die Offiziere ein und aus; nicht wahr, Erna?

Du vergißt, daß Tante gerade damals Trauer hatte, sagte Erna; es war von Gesellschaften nicht die Rede.

Aber man kommt doch auch, ohne geladen zu sein, selbst in ein Trauerhaus, wenn es sechs heiratsfähige Töchter birgt, wie das der Frau Geheimrätin, sagte der Baron.

Mag sein; so ist mein Unterscheidungsvermögen hinsichtlich der roten Kragen nicht stärker als bei Tante Lydie; jedenfalls erinnere ich mich keines der Herren mehr.

Das war in einem so herben, abweisenden Tone gesagt – Bertram schaute unwillkürlich auf; das feine Gesicht war vollkommen ruhig; nur die blauen Augen, die sie nicht auf den Baron, sondern auf ihn richtete, schienen einen noch tieferen Glanz zu haben wie von verhaltenem Unmut. Es war das erstemal über Tisch, daß ihre Blicke sich begegneten, und ein seltsamer Schauer durchrieselte ihn. Er fühlte, daß ihm das Blut in die Schläfen schoß, und fragte, nur um seine Verlegenheit zu verbergen, wer das vielbesprochene Regiment kommandiere?

Oberst von Waldor, erwiderte der Baron prompt.

Ich kannte einen Offizier seines Namens, sagte Bertram, vor langer Zeit – in Berlin – er war damals zur Kriegsschule kommandiert; ich blieb auch später ein Paar Jahre mit ihm in Korrespondenz und habe ihn dann aus den Augen verloren. Aber mich deucht, er stand bei einem anderen Regiment?

Bei den Zweihundertzehnern, erwiderte der Baron; – ganz richtig; bekam das Regiment vor einem Jahre etwa; hat in der Kampagne viel von sich reden gemacht.

Für einen sehr schneidigen Offizier galt mein Freund schon damals, sagte Bertram.

Es ist kein Zweifel, daß es derselbe ist, sagte der Baron; soviel ich weiß, existieren auch gar nicht zwei Waldors in der Armee, oder doch nicht unter den Regimentskommandeuren, deren Namen ich wohl sämtlich im Kopfe habe. Ist übrigens ein toller Christ, der Herr Oberst!

Was ist das: ein toller Christ? fragte Lydie, den Arm des Barons mit dem Fächer berührend.

Das ist leichter gefragt als beantwortet, meine Gnädige, erwiderte der Baron lachend.

So antworten Sie lieber nicht, sagte die Amtsrätin mit einem Blick nach Erna.

Weshalb nicht, gnädige Frau! rief der Baron; es ist ganz unverfänglich, wenn man die Tatsachen sprechen läßt, und Tatsache ist, daß Waldor, der – ich kenne ihn nicht persönlich, aber der Herr Doktor wird es gewiß bestätigen – nicht bloß wegen seiner Bravour, sondern auch wegen seiner Schönheit in der ganzen Armee berühmt war und folglich unzählige Herzen gebrochen hat, bis auf den heutigen Tag unbeweibt geblieben.

Sie sagen: folglich! rief Lydie, und denken folglich sehr klein von unserem Geschlechte.

Wie das, meine Gnädige?

Nun, Sie scheinen anzunehmen, daß die Schönheit eines Mannes allein hinreicht, Frauenherzen zu rühren oder zu brechen, wie Sie es auszudrücken belieben. Ach, lieber Baron, wie wenig kennen Sie das weibliche Gemüt!

Bitte tausendmal um Verzeihung, meine Gnädige! aber ich habe das nicht gesagt. Tapferkeit mit Schönheit im Bunde! nun, und wie kräftig diese Allianz in der betreffenden Richtung ist, darüber wissen, deucht mir, die Dichter viel zu erzählen. Wir haben ja einen Dichter unter uns; er wird für mich sprechen.

Der Baron wandte sich bei diesen Worten an Bertram; der Ton und die begleitende Geste hatten etwas beleidigend Protektorhaftes, wie denn in Bertrams Augen das ganze Wesen des großen, fast hünenhaften jungen Mannes von einer prahlerischen Selbstgefälligkeit, die auf den Beifall aller unbedingt zu rechnen schien, durchtränkt war. Nichtsdestoweniger antwortete er mit ruhiger Höflichkeit:

Ich halte mich weder für einen Dichter, noch werde ich, soviel ich weiß, von irgend jemand dafür gehalten, der die paar versifizierten Armseligkeiten, die ich vor langen Jahren veröffentlicht, gelesen hat.

Ich protestiere dagegen auf das allerentschiedenste! rief Lydie; ich habe diese Armseligkeiten – entsetzliches Wort! – gelesen; ich kenne sie auswendig und halte ihren Verfasser für einen Dichter – für einen Dichter von Gottes Gnaden.

Verbindlichsten Dank, erwiderte Bertram; indessen, wozu man geboren, das pflegt sich doch früher oder später im Herzen laut anzukündigen. Bei mir schweigt die Stimme, und so dürfte ich wohl mit Fug und Recht das von mir gewünschte Zeugnis verweigern. Als Unberufener aber und völlig Unbeteiligter möchte ich davor warnen, den Dichtern gerade in dem beregten Punkte allzu großes Vertrauen zu schenken. Um den Beifall der Menge buhlend, wie ihr Metier es zu erfordern scheint, akkommodieren sie sich nur zu leicht dem Geschmack der Menge, die bekanntlich wie ein Kind nach dem Bunten, Glänzenden gierig greift. Wie sollten sie also nicht die Heldin als unvergleichlich schön, den Helden als unbändig tapfer schildern und im übrigen alle Ehrenqualitäten auf die gebenedeiten Häupter häufen! Ob die eine Qualität etwa die andere mehr oder weniger ausschließt, ob sie nicht an und für sich alles Maß des erfahrungsmäßig Möglichen überschreitet – ei nun, man wird ja nicht so genau zusehen! und wenn es einer tut, so ist er eben ein Pedant, und für Pedanten existieren Romanhelden so wenig wie wirkliche Helden für ihre Kammerdiener.

Oh, Sie Spötter, oh, Sie Schalk! rief Lydie; werden Sie uns jetzt nicht noch beweisen, daß Schönheit, Tapferkeit und jede Tugend der Welt in das Reich der Fabel gehören! Es ist doch etwas Schreckliches um diese eingefleischten Skeptiker! Aber so war unser Freund immer! Habe ich nicht vorhin gesagt, Hildegard: ich glaube nicht, daß er ein anderer geworden; er kann sich nicht verändern! und siehe: er ist derselbe, der er war!

Das wäre ein starkes Stück in Anbetracht der beinahe zwanzig Jahre, die seitdem –

Der Amtsrat, der diese Worte lachend gerufen, brach vor einem strengen Blick aus den dunkeln Augen seiner Gattin mit einem Räuspern ab, schenkte sich das erst halb leere Glas übervoll und verlangte zu wissen, weshalb die Herren denn heute abend gar nicht tränken?

Fräulein von Aschhof, sagte Bertram, um dem verlegenen Freunde zu Hilfe zu kommen, beweist nur durch ihre gütige Behauptung meiner Unveränderlichkeit, daß sie allerdings Welt und Menschen mit dichterischen Augen sieht. Aber vergessen wir nicht: selbst die Dichter lassen nur das schöne Geschlecht an dem holden Vorrecht der leicht lebenden, ewig jungen Götter partizipieren, und sie dürfen die Täuschung wagen, weil der Zuhörer getäuscht sein will. Wer wäre je so entgeistert gewesen, einer Antigone, Iphigenie, einer Helena ihre Jahre nachzurechnen; sie sind, was sie waren, oder sie sind nicht; – aber selbst des Dichters Schmeichelkunst kann den Mann vor dem Altern nicht schützen, und wen er jung bewahren will, muß er jung sterben lassen wie den Achilleus.

Ich bestreite das! rief Lydie mit Lebhaftigkeit; ich behaupte, daß Heroen so wenig altern wie Heroinnen.

Das würde noch immer nicht für mich sprechen, der ich kein Heros bin, erwiderte Bertram lächelnd, selbst wenn Sie recht hätten; aber ich möchte mir einen bescheidenen Zweifel erlauben. Wenigstens erscheint der Held der Odyssee offenbar als ein gereifter Mann, um es milde auszudrücken, an dem Athene erst ihre göttliche Kosmetik üben muß, um ihn bei den Phäaken würdig einzuführen.

Der Baron hantierte wieder mit Messerbänken und Brotkügelchen; offenbar war er verdrießlich, so lange nicht zu Wort gekommen zu sein; Bertram tat, als ob er es nicht bemerkte; er sprach wahrlich nicht um jenes willen; er wollte sich für sein Teil von dem Verdacht, daß er wie die Kokette drüben eine Jugendlichkeit prätendiere, die längst entschwunden, in Ernas Augen frei machen, und er sah diese Augen unverwandt auf sich gerichtet. So nahm er allen Mut zusammen und fuhr in demselben Ton behaglicher Laune fort:

Goethe – als ein moderner und in diesem Falle auch als tragischer Dichter, der ja alles bar bezahlen muß – verzichtete in seinen Nausikaa-Fragmenten klüglich auf jene nur dem antik-naiven epischen Dichter erlaubte Verschönerungskunst und nimmt, den klaffenden Abstand der Jahre zu überbrücken und das augenscheinlich Unwahrscheinliche in ein wenigstens Glaubliches zu verwandeln, zur Illusion seine Zuflucht, die aus dem Herzen des lieben Kindes, ihre reinen Augen, ihren klaren Sinn umnebelnd, aufsteigt. »Und immer ist der Mann ein junger Mann, der einem jungen Weibe wohlgefällt«, sagt die alte Wärterin, Nausikaa das Wort von den keuschen Lippen nehmend. Ein rührendes Wort, rührend wie der Glaube der Kinder an die Allmacht der Eltern! Was es mit jener Jugend, die nirgend existiert als in dem holden Wahn einer jungen, unerfahrenen, großmütigen Seele, auf sich hat – nun, derselbe Goethe hat es uns mit künstlichem Humor, der wie aller echte Humor nicht ohne einen Anflug von Wehmut ist, erzählt in der Novelle des Mannes von fünfzig Jahren. Der arme Major! er hat mir immer von Herzen leid getan! wie er sich von dem theatralischen Freund den kosmetischen Kammerdiener ausbittet; wie der vielgewandte Mann den alternden Herrn balsamiert und wattiert, und doch alles den kranken Vorderzahn nicht retten kann und ganz gewiß nicht verhindert, daß die schöne Hilarie für den jungen Flavio entbrennt, bloß weil sie ihn für die geistreiche Witwe entbrannt sieht; bloß weil ihr zum erstenmal in Flavios Raserei das Bild der echten heißen Jugendleidenschaft vor Augen steht – das ist alles so wahr wie reizvoll, so reizvoll wie melancholisch – zum wenigsten für den Leser, der in der Lage ist, die Erfahrungen und Empfindungen an seinen eigenen Empfindungen und Erfahrungen prüfen zu können.

Freilich, Alter schützt vor Torheit nicht, sagte der Baron; das ist denn doch wohl das Lange und das Breite von der Geschichte.

Wollen Sie in Dingen nicht mitsprechen, die Sie nicht verstehen, Sie prosaischer Mensch! rief Lydie mit einem Fächerschlage nach dem Hünen; – hier ist von Alter nicht die Rede; ein Mann von fünfzig ist nicht alt, ist in den besten Jahren und oft zehnmal jünger als ihr sogenannten jungen, blasierten Herren. Aber auch gegen unseren gelehrten Freund muß ich Goethe in Schutz nehmen. Ja, ja, mein Freund; ich kenne die Novelle ganz genau – ich selbst habe sie vor noch nicht acht Tagen bei Hofe vorgelesen. Wer heißt Sie eine Komödie tragisch nehmen? denn die Novelle ist eine Komödie – eine Komödie der Irrungen. Hilarie bildet sich ein, den Onkel zu lieben, und liebt doch den Flavio; Flavio die junge Witwe, während er Hilarien liebt; der Major endlich – nun, ich dächte, die letzte Szene in dem Gasthause beweist klar, daß er seine Empfindungen nur an die falsche Adresse, wenn ich so sagen darf, gewandt hat; und daß er und die geistreiche Dame nachträglich ein glückliches Paar geworden sind, ist mir wenigstens völlig gewiß. Oder meinen Sie nicht?

Ein warnender Blick aus Hildegards dunkeln Augen traf Lydie, die durch die Schminke hindurch rot wurde: sie hatte ihre Karte allzu offen gezeigt! Bertram überkam nur mit Mühe ein Lächeln; ja, es regte sich etwas wie Mitleid mit der Unvorsichtigen. Er sagte:

Gewiß, gewiß haben Sie recht, vor allem, wenn Sie die Novelle eine Komödie nennen. Wie wenig, wie so gar nicht es Goethe um einen tragischen Konflikt zu tun war, geht schon daraus hervor, daß er die Verhältnisse für einen heiteren Schluß so günstig wie möglich gewählt und jedem seine Rückzugslinie von vornherein gesichert hat. Der Major ist der Onkel Hilariens, seiner verwitweten Schwester einzige Tochter, an der er ohne Zweifel Vaterstelle vertreten, die er bis dahin wie sein eigenes Kind geliebt hat. Der Nebenbuhler, vor dem er zurücktritt, ist sein eigener einziger Sohn, den er ebenfalls sehr liebt, mit dem er auf dem besten, auf einem kameradschaftlichen Fuße verkehrt. Sodann steht hinter der davongleitenden Hilarie wieder die junge Witwe, in deren Armen der Major die kleine Demütigung bald genug vergessen wird. Und schließlich, was mir die Hauptsache scheint: Goethe hat wohlweislich das eine Moment vermieden, durch das er freilich im Handumdrehen die Komödie in eine Tragödie hätte verwandeln können, ja verwandeln müssen; er hat – aber ich sehe es Ihnen an, liebe Freundin, Sie wünschen die Tafel aufgehoben. Verzeihen Sie meine unschickliche Redseligkeit.

In der Tat hatte Hildegard die Wendung, die das Gespräch genommen, um Ernas willen keineswegs behagt. Sie ergriff die dargebotene Gelegenheit sofort und erhob sich. Erna, die, ohne einen Blick von Bertram abzuwenden, dagesessen hatte, atmete auf wie jemand, der aus tiefer Träumerei zum Bewußtsein der Gegenwart zurückgerufen wird, und folgte dem Beispiel der anderen. Sie und Bertram waren wieder das letzte Paar, das den Speisesaal verließ, um sich in den Gartensaal zurückzubegeben, in dem mittlerweile die Diener die Lampen angezündet hatten; es kam Bertram vor, als ob sie mit Absicht langsam gehe.

Was war das eine, Onkel Bertram? fragte sie.

Welches eine?

Er wußte, was sie meinte; aber er hatte vorhin abgebrochen, weil er sich selbst vor dem letzten Worte gefürchtet. So zögerte er mit der Antwort, und nun kam der Amtsrat mit Zigarren; man könne auf der Veranda rauchen, während Lydie ein wenig spiele.

Du weißt doch noch, Karl, die Sonate pathétique – das war immer dein Lieblingsstück. Sie hat's seitdem nicht verlernt, unser gnädiges Fräulein – he?

Lydie war sofort bereit; aber Bertram bat, ihn für heute entschuldigen zu wollen. Er fühle sich doch von der Reise angegriffen; die liebenswürdige Gesellschaft habe ihn vergessen lassen, daß er noch Rekonvaleszent sei. Kaum ließ er der Amtsrätin Zeit, ihn auf die Seite zu ziehen und ihm zuzuflüstern:

Sie sind der Liebenswürdige! wie gut von Ihnen, es so freundlich zu nehmen! ich hatte heute mittag nicht den Mut zu meiner Beichte; ich habe Ihnen überhaupt so viel zu beichten, zu sagen – morgen –

Auf morgen also, liebe Freundin! sagte Bertram, der schönen Frau die Hand küssend und sich mit einer Verbeugung gegen die übrigen rasch zur Tür wendend. Aber er hatte sie noch nicht erreicht, als Erna ihn einholte.

Du pflegtest mir sonst weniger förmlich gute Nacht zu sagen.

Er wagte keinen Kuß auf die Stirn, die sie ihm bot, sondern nahm nur ihre Hand.

Die großen, ernsten Augen blickten ihn an, als wollten sie lesen, was in seiner Seele vorging.

Gute Nacht, liebes Kind, sagte er hastig.

Gute Nacht, erwiderte sie langsam, indem sie seine heiße, zitternde Hand aus ihrer kleinen kühlen Hand gleiten ließ.

Es ist ein Glück, sprach Bertram bei sich, nachdem er Konski entlassen und nun in seinem Schlafzimmer am offenen Fenster stand; – ein rechtes Glück, daß es nicht so leicht ist, zu lesen, was in der Seele eines anderen Menschen vorgeht. Sie würde viel dümmstes Zeug zu lesen bekommen haben.

Er lehnte sich an das Fensterkreuz und starrte in die Nacht hinein. Kein Lüftchen regte sich. Aus dem Garten unten stieg der Duft der Reseda und der Levkojen fast betäubend zu ihm empor; laut rauschte der Bach; durch den weißlichen Schleier, der über dem Tale lag, dämmerte hier und da ein mattes Licht. Am wolkenlosen, schwarzbläulichen Himmel hing des Mondes goldene Schale, in der Nähe funkelte rötlich ein einsamer Stern.

Bertram dachte einer solchen Nacht vor langen Jahren, als ihm und Ernas Vater in Bonn auf der Sternwarte der befreundete Assistent das Schauspiel des Durchganges jenes Sternes – des Aldebaran – durch den Mond gewährt hatte. Dann hatte er Otto nach Poppelsdorf zurück und dieser ihn wieder von Poppelsdorf nach dem Pförtchen in Bonn geleitet; und so hin und her die laue Sommernacht, bis das Morgenlicht kam und die Vögel in den Kronen der Kastanien zu zwitschern begannen. Und sie hatten von Freundschaft und Liebe geschwärmt – von der Liebe, die sie beide in brüderlicher Gesinnung für eine und dieselbe schwarzäugige Professorentochter hegten, und waren so beseligt gewesen trotz all ihres Unglücks, denn die Schwarzäugige liebte notorisch einen Dritten – großer Gott, wie lange war das nun her? ein volles Menschenalter und sogar noch ein wenig darüber – und heute?

Heute bist du auf dem Wege, dich in die Tochter des Mannes zu verlieben, mit dem du damals dich in holder Jugendeselei überbotest – in ein achtzehnjähriges Mädchen, deren Vater du ebensogut sein könntest. Das wäre denn wohl nicht mit ein paar durchphantasierten Nächten und diversen mittelmäßigen Sonetten abgemacht. Sei vernünftig, alter Freund! laß fahren dahin, laß fahren! Du weißt: du hast auf Erden kein bleibend Quartier, so wenig wie der piccolominische Reiter. Auch hinter dir auf dem Gaule kauert der dürre Kamerad und klammert sich an dich mit den Knochenarmen und fühlt so gelegentlich nach deinem Herzen, ob's immer noch dumm genug ist, für ein schönes Mädchen zu klopfen, das da an der Straßenseite zwischen den Gelbveigelein und Rosmarin am Fenster sitzt.

Und hinter der Gardine steht der Liebste und beugt sich über, den tollen Reiter zu sehen, der sich den Hals nach dem Liebchen ausrenkt. Und der plumpe Gesell mit dem Stiernacken runzelt die alberne Stirn, zwirbelt den blonden Schnurrbart, streichelt sich den Henriquatre: mort de ma vie! und er ballt die plumpe Faust. Sie aber schmollt und kichert und lacht und fällt dem Eifersüchtigen um den Hals –

Nein – nein! es kann nicht sein! Du willst nur noch von ihr hören, daß es nicht ist. Dann zum Tore hinaus in einen schnellen, ehrlichen Tod – und Gottes Segen über dich, du holdes, du schönes, geliebtes Kind!

Er schloß leise das Fenster und suchte das Lager, ohne alsbald die Ruhe zu finden, deren er innigst bedurfte. Der Bach rauschte so laut – oder war es das Blut in den Schläfen?

Und wollte er eben entschlummern, fuhr er wieder auf, hielt ihre Hand in der seinen wie am Abend, und sie bot ihm die Stirn zum Kusse.

Nein! nein! führe mich nicht in Versuchung! und frage mich nicht nach dem einen! – ich würde es dir nicht sagen, wenn es wäre, wie ich zu Gott hoffe, daß es niemals sein wird. Ich will mich von dir nicht in eine Tragödie verwickeln lassen, so wenig wie in eine Komödie von der anderen!


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