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XXI.
Morituri.

Sterben müsset auch ihr – gewiß! Doch sorgte der Dichter,
Daß aus der Urne sobald euch nicht entrolle das Los.

Daß der Dichter des Einakters es verhältnismäßig leicht hat, die rigorose Förderung der drei dramatischen Einheiten zu erfüllen, liegt auf der Hand. Es gehört schon ein besonderes Ungeschick dazu, käme er in die Lage, eine von ihnen verletzen zu müssen. Bedingen und erfordern sie sich doch wechselseitig. In der knapp bemessenen Zeit kann sich nicht wohl mehr als eine Handlung abspielen; bei in der Zeit knapp bemessenen Handlungen pflegt das Lokal nicht zu wechseln.

Dazu gesellt sich ein zweiter Vorteil, für den der Realist, und gar der Naturalist noch besonders dankbar sein werden. Indem er, was er doch muß, die vorzuführende Handlung so wählt, daß sie sich in Wirklichkeit an dem gegebenen Orte in der identischen Zeit zugetragen haben könnte, ist er gezwungen, sich nun auch streng an die Wirklichkeit zu halten; mit keinen weitschweifenden Wenn und Aber zu operieren; des Hic Rhodus, hic salta eingedenk zu bleiben; nur das zu bringen, was streng zur Sache gehört. Da muß denn, wohl oder übel, die Phantasie des Zuschauers in den Kreis, den er ihr erschließt, gebannt bleiben, und jetzt, wenn je, sein Ideal: dem Werke seiner Kunst den vollen Anschein der Wirklichkeit zu geben, in schönste Erfüllung gehen.

Möchte man sich da nicht wundern, daß unsre modernen Dramatiker, soviel sie in der Theorie für die Form des 366 Einakters übrig haben, in praxi verhältnismäßig selten dazu greifen? Nur daß man bei genauerer Betrachtung bald herausfindet, wie schwer es hält, sich in dieser Beschränkung als Meister zu zeigen, und den engen Rahmen mit einem Bilde menschlichen Lebens und Treibens zu erfüllen, das den Zuschauer interessiert, packt, in Atem erhält, und ihm am Schluß, trotz seiner unbedeutenden Dimension, als ein Bedeutendes erscheint und als ein Ganzes, zu dem nichts hinzuzuthun, von dem nichts wegzunehmen ist.

Unter so schwierigen Bedingungen aber wird sich vermutlich der tragische, oder doch ernstere Stoff als der dankbarere erweisen. Die Flügel der komischen Muse bedürfen viel Ätherraum, sich frei entfalten zu können; mehr wenigstens, als der Einakter zu gewähren scheint. Die tragische Muse verfügt über derbere Organe, die Teilnahme des Zuschauers zu erregen, zu fesseln. Gewiß giebt es außer den entzückenden Proverbes A. de Mussets, O. Feuillets andre Produkte in dem heiteren Genre, die hier genannt zu werden verdienten; aber ihrer viele dürften es kaum sein, während in dem ernsteren immerhin eine längere Reihe, vielleicht nicht durchaus mustergültiger, so doch interessanter Arbeiten zu verzeichnen ist.

Aber von Massenhaftigkeit der Produktion kann auch hier nicht entfernt die Rede sein. So mag man es wohl ein Wagnis nennen, wenn Hermann Sudermann sich durch die Schwierigkeit der Sache nicht abschrecken ließ und uns in seinen »Morituri« gleich drei Einakter: zwei tragische und einen komischen bot.

Er hat die Schwierigkeit glänzend überwunden; es wird viel von der Stimmung des Zuschauers, mehr vielleicht noch von der Darstellung abhängen, welchem der drei Stücke man den ersten Preis erteilt. In Berlin wurden alle drei 354 (auf dem Deutschen Theater) gleich mustergültig gegeben. Dennoch hatte mich, als ich sie das erste Mal sah, »Teja« so ergriffen, daß mir »Fritzchen«, obgleich ich seinen Wert keinen Augenblick verkannte, verhältnismäßig nüchtern erschien, und gar »Das ewig Männliche« keine rechte Wirkung thun wollte. Bei späteren Gelegenheiten stellte es sich heraus, daß ich das erste Mal nur der Dupe meiner Nerven gewesen war.

Man sagt: jedes Drama werde nur einer Scene willen geschrieben. Buchstäblich genommen ist es ein Paradoxon; cum grano salis ist doch etwas Wahres daran. Dies: daß in jedem ein Moment kommt, zu dem die Handlung, oft mühsam genug, hinaufgestiegen ist, über den sie nicht hinaus kann, von dem sie unweigerlich wieder herunter muß. So in Maria Stuart vielleicht die Scene zwischen den beiden Königinnen; in Egmont die Unterredung zwischen dem Helden und Oranien; in Wilhelm Tell der Apfelschuß; in Hamlet die nächtliche Auseinandersetzung zwischen Mutter und Sohn u. s. w. Merkwürdig ist, daß auch in der konzentrierten Handlung des Einakters ein solcher Gipfel mit Notwendigkeit sich heraushebt: in »Teja« die Scene zwischen ihm und Bathilda; in »Fritzchen« die Aussprache zwischen Vater und Sohn. In »Das ewig Männliche« freilich könnte man zweifelhaft sein, ob die Scene zwischen dem Marschall und dem Maler nicht dasselbe Gewicht habe, wie des letzteren Liebeserklärung an die Königin; was dann vielleicht auf die geringere Konzentration hindeutet, welche die komische Handlung, wenn nicht verlangt, doch zuläßt, ohne daß das Kunstgebilde dadurch Schaden leidet.

Von den beiden tragischen Stücken rechtfertigt den Gesamttitel – das komische spielt ja nur mit ihm – vollkommen meiner Meinung nach nur »Teja«. Daß der 355 Gotenkönig an der Spitze seiner Getreuen sterben soll und muß, darüber kann auch nicht der geringste Zweifel obwalten. Die absolute Notwendigkeit von »Fritzchens« Tod will mir nicht völlig einleuchten.

Untersuchen wir den Fall!

Vorerst ist der Ausgang eines Duells immer zweifelhaft. Der Major sagt: »Der Lanski schießt tadellos; er ist vielleicht der beste Schütze hier herum … Aber dein Handgelenk ist doch auch in Ordnung, Mensch! ...« Also hier liegt die zweifellose Gewißheit von Fritzchens Tod keinesfalls. Wir werden sie wo anders suchen müssen.

Liegt sie in der Unheilbarkeit von Fritzchens Fall?

Er ist bei dem Ehebruch in flagranti ertappt, von dem wütenden Ehemann aus dem Gutshof auf die Straße gepeitscht worden. Die Knechte &c. sind Zeuge gewesen.

Hierbei nun ist die eigentliche Ursache der Kalamität ganz irrelevant. Der Ehebruch macht die Sache nicht schlimmer. Um der Ursache willen würde kein Kamerad einen Stein auf Fritzchen werfen; mindestens sein Urteil nicht dadurch beeinflussen lassen. Fritzchen hatte eben Pech.

Weiter!

Hätte er seinen Säbel parat gehabt, würde er den von Lanski einfach niedergestochen haben, niederstechen müssen. Vater: »Wo war dein Säbel? Du hast ihn doch niedergestochen.« Er nimmt es als selbstverständlich an. Wie sollte er nicht? Der Offizier muß den niederstechen, der seinen – des Königs – Rock in böser Absicht mit der Peitsche berührt hat; ja, der ihn nur mit der Peitsche bedroht, wenn ein Ausweichen unmöglich ist.

Das wäre noch längst kein Fall Brüsewitz gewesen. Zwar, daß der Erstochene ein Edelmann, hätte zweifellos in den betreffenden Kreisen ein bedenklicheres Schütteln des 356 Kopfes hervorgebracht, und die Begnadigung der Festungsstrafe würde nicht so bald erfolgt sein. Wie dem auch sei: Unehrenhaftes im offizierlichen Sinn hatte der Fall bis dahin nicht aufzuweisen.

Nun aber hat Fritzchen faktisch den Gegner nicht erstochen. Weshalb nicht? Weil er zu feig war, sich zu wehren? Gott bewahre! Sein Säbel war einfach »nicht zur Hand«. Wie das zuging, wird nicht weiter aufgeklärt. Vielleicht machte er den Besuch in Civil; vielleicht hängt die Sache auch anders zusammen. Auf jeden Fall: er war ohne Waffe; konnte nicht thun, was der Vater hofft, daß er gethan habe; jeder Offizier erwartet haben würde, daß er gethan hätte.

Hat Fritzchen dadurch eine Schande auf sich geladen, die er nicht überleben kann?

Ich glaube: nein; so wenig, wie ein Offizier, der auf der Straße von einem Haufen Strolche angefallen und durchgeprügelt wird, nachdem ihm – nehmen wir an – gleich im Beginn des Rencontre sein Säbel mit einem Knüttel aus der Hand geschlagen war.

Fritzchens Fall liegt ganz ebenso: der Waffenlose konnte sich des Gegners und seiner Knechte nicht erwehren, mußte sich durchpeitschen lassen, ohne auf der Stelle die obligate Genugthuung nehmen zu können.

Der Gegner freilich sieht darin eine Entehrung: er erklärt ihn nicht mehr für satisfaktionsfähig.

Mit Recht?

In den Augen des Vaters nicht.

Vater: »So? dafür schieß ich den Hund tot.«

Das heißt: Der Mann hatte kein Recht, dir die Satisfaktion zu verweigern. Das macht ihn in meinen Augen zum tollen Hunde. Tolle Hunde schießt man tot.

357 Hier nun könnte die Vaterliebe mit der Standeslogik durchgegangen sein.

Es wird darauf ankommen, was der Ehrenrat, den Fritzchen in diesem Falle anrufen mußte, sagen wird.

Nun denn! Der Ehrenrat sieht die Sache genau so an, wie der Vater; erklärt ihn für satisfaktionsfähig. Der Gegner fügt sich. Das Duell wird stattfinden.

Wo denn liegt das Verzweifelte des Falles? Aus meiner Analyse geht klärlich hervor: Fritzchen braucht nicht zu sterben.

So bleibt nur eines: er will sterben.

Wie aber kommt er zu einem Entschluß, der nach offizierlichen Begriffen ganz abnorm genannt werden muß? In keinem Stande ist das Gemeingefühl so ausgeprägt, wie in dem des Offiziers. In gewissem Sinne kann er nicht der Thäter seiner Thaten sein. Er möchte sich schlagen: der Ehrenrat verbietet es ihm; er möchte sich nicht schlagen: der Ehrenrat gebietet es ihm. Seine Schande und seine Ehre liegt in den Händen des Offizierkorps. Hält es ihn für ehrlos, so ist er es; erklärt es ihn für ehrenhaft, so ist er es; mag die Meinung anderer, ja, seine eigene sein, welche sie will. In neunhundertneunundneunzig Fällen unter tausend wird er keine andere haben. Das sitzt ihm schon von den Kadettenjahren in Fleisch und Blut.

So denn hat er nach offizierlichen Anschauungen und Begriffen kein Recht, sterben zu wollen.

So denn gehört er, gesetzt, er beharrt eigensinnig auf seinem abnormen Willen, nicht zu denen, die sterben sollen und müssen.

Er geht in das Duell mit Herrn von Lanski, wie in jedes andere. Möglich, daß jener ihn tot schießt; ebenso möglich, daß es umgekehrt kommt.

Kommt es umgekehrt, braucht er keinesfalls »in Chikago 358 einen Schnapsladen aufzumachen, oder einen Viehhandel mit dem väterlichen Kapital«. Er kann ganz ruhig in Deutschland bleiben; seine Cousine heiraten (wenn sie ihn noch will) und seiner Zeit die Güter übernehmen, für die die Drostes »seit zwei Jahrhunderten geschuftet und zusammengekratzt und sich rumgeschlagen haben mit Tod und Teufel«. Er kann sogar vielleicht in der Armee bleiben; oder doch in einiger Zeit wieder eintreten, wenn über die fatale Geschichte schneller ein gnädiges Gras gewachsen ist, als er in seiner augenblicklichen Verzweiflung sich träumen läßt.

Wäre »Fritzchen« anstatt eines Einakters ein Einbänder – wozu der Stoff sich ganz vortrefflich eignen würde – der Romancier hätte auf alle obigen Bedenken und Einwende Rede und Antwort stehen; vielmehr die species facti so klarlegen müssen, daß sie gar nicht erhoben werden konnten. Der Dramatiker ist der Mühe überhoben. Die Schnelligkeit, mit der alles an uns vorüberrauscht, das eindringliche Spiel der Darsteller sorgen dafür, daß er unbestritten das letzte Wort behält.

Als Theaterstück ist »Fritzchen« einwandlos, tadellos. Der Dichter hat hier, wie in den beiden andern Stücken, seine eminente Kunst des Fabulierens vollauf bewährt.

Er kann fabulieren und scheut sich nicht, von seiner Kraft ausgiebigen Gebrauch zu machen, ganz im Gegensatz zu Gerhart Hauptmann, der nur in seinen ersten Werken: »Vor Sonnenaufgang«, »Das Friedensfest«, »Einsame Menschen« sich die Mühe des Aufbauens einer regelrechten Fabel giebt, von der die folgenden kaum noch eine Spur zeigen, während allerdings »Die versunkene Glocke« wieder in die verlassene Bahn einzulenken scheint.

Die Anhänger des strengen Realismus sehen in Hauptmann ihren Meister, während sie Sudermann nicht gelten 359 lassen wollen. Die Anhänger der älteren Richtung perhorrescieren Hauptmann und möchten Sudermann gern zu den Ihren zählen, wenn er nur nicht in dem ihnen so leidigen Realismus hier und da zu weit ginge.

Die Sache ist: beide sind durch und durch moderne Menschen und Dichter, die von zwei verschiedenen Punkten der Peripherie nach dem identischen Centrum dringen.

Vielleicht, daß Sudermann mehr Welt und Versatilität, Hauptmann größere Innigkeit und Tiefe hat.

Aber dergleichen Düfteleien überlasse man den Schwärmern an beiden Enden. Der vernünftige Freund der Dichtkunst wird sich freuen, daß wir »zwei solche Kerle« haben.

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