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XIV.
Gerhart Hauptmanns »Die Weber«.

Heldlos erscheint euch das Stück? Wie denn? Durch sämtliche Akte,
Wachsend in riesiges Maß, schreitet als Heldin die Not.

Als ich »Die Weber« nur erst aus der Lektüre kannte, sagte ich zu mir, im Sinne der alten Schule denkend: Sehr trefflich, durchweg bedeutsam, stellenweis großartig! aber, trotz alledem, dies ist doch keine Tragödie, nicht die Nachahmung einer Handlung, welche notwendig einen Mittelpunkt und Träger haben muß, den man den Helden nennt. Wer denn wäre hier der Held? Im ersten Akte könnte man vermuten, daß der »rote« Bäcker, der in seiner kraftvollen Opposition gegen den Fabrikanten über das verkommene Volk um ihn her um Haupteslänge hervorragt, sich in der Folge dazu qualifizieren werde. Aber im zweiten Akte schon, aus dem er verschwunden ist, scheint der entlassene Soldat Moritz Jäger an seine Stelle und an die Spitze der sich vorbereitenden Bewegung zu treten. Doch auch mit dieses jungen Mannes Heldenqualität steht es mißlich: man kann ihm weiterhin nur die Rolle eines der Rädelsführer zubilligen. Um im dritten Akte mit dem Helden herauszukommen, damit wäre es nun wohl allewege zu spät; aber auch der dritte Akt und die noch folgenden sind nach dieser Seite nicht ergiebiger, und so kam ich zu dem obigen Schluß, der dem Stücke den Helden absprach und mit dem Helden den Rang und die Würde einer vor Meistern und Gesellen gerechten Tragödie.

280 Aber, mußte ich mich weiter fragen, wer sagt dir denn, daß der Dichter überall eine solche gewollt hat? Ist es nicht ein Dogma der neuen Schule, daß dergleichen sogenannte regelrechte Kompositionen unweigerlich zur Verletzung der Bescheidenheit der Natur, zur Verschleierung und Verzerrung der Wahrheit führen? Wir aber wollen Natur, wollen Wahrheit. Die finden wir nur, wenn wir das Leben nehmen, wie es sich giebt: in seiner Zusammenhangslosigkeit, die sich am Augenblick und seiner zeugerischen Urkraft genügen läßt, ohne danach zu fragen, ob der nächste, nicht minder zeugungskräftige, dem vorangegangenen freundlich oder feindlich ist. So kann man denn wohl in einem Akt, besser noch in einer Scene Natur und Wahrheit zu Ehren bringen; und wenn ihr uns das von jedem, oder jeder unsrer aneinandergereihten Akte oder Scenen bestätigen müßt, so haben wir unsre dichterische Pflicht vollauf erfüllt.

Ich lasse die Berechtigung oder Nichtberechtigung dieser Ansicht dahingestellt; nur will mich bedünken, daß die Tendenz der Phantasie, ihre Gebilde möglichst um einen Mittelpunkt zu gruppieren, nach dem sie gravitieren, und von dem wieder eine Kraft ausstrahlt, die bis zu jedem Punkte der Peripherie zu dringen strebt, sich unweigerlich auch bei denen geltend macht, welche diesen Mittelpunkt in seiner ästhetischen Notwendigkeit leugnen, ja, in ihm den Krebsschaden alles künstlerischen Schaffens sehen.

Als ich »Die Weber« las, vermißte ich peinlich einen Helden; als ich das Stück aufführen sah, entdeckte ich zu meiner freudigen Überraschung etwas, das ich gern als Äquivalent des vermißten Helden gelten ließ: ich entdeckte eine Heldin.

Diese Heldin ist die Not.

Genauer gesprochen: die Not der schlesischen Weber; 281 noch genauer zu sprechen: die Not der schlesischen Weber in den vierziger Jahren.

Respekt vor dieser Heldin! Sie nimmt es mit den Athleten der Heldensippe, mit einem Lear, Macbeth, Othello auf. Sie kommt nicht von der Bühne, auch im Salon des Fabrikanten nicht. Auch da steckt sie, ehe sie in voller Person erscheint, ihr bleiches Gesicht in die Reden der Herrschaften hinein. Und wie sie wächst und wächst! Wie das blutlose Geschöpf sich im ersten Akt vor den Augen des harten Herrn und vor sich selbst noch verstecken möchte! Wie es im zweiten ohne Scheu ihr Elend vor dir ausbreitet und die paar verhüllenden Lumpen von sich streift, daß der Jammer in seiner gräßlichen Nacktheit vor dir steht! Und immer wächst und wächst und die Knochenfinger um deinen Hals klammert und als fürchterlicher Alb auf deine Brust drückt, daß du nicht mehr atmen kannst und ersticken müßtest, wenn du dich nicht mit einem wilden Schrei befreitest, der zusammengellt mit dem Wutschrei der Heldin, die sich nun zu ihrer vollen Höhe und zu der That aufrafft, auf die alles und jedes in dieser ihrer seltsamen Tragödie mit unwiderstehlicher Kraft treibt und drängt: zur offenen Empörung gegen ihre Peiniger.

Von diesem Standpunkt gesehen – und, wie gesagt, ich habe ihn mir nicht gesucht, die Aufführung hat ihn mir gebieterisch angewiesen – ist das Stück von einer Einheitlichkeit und kraftvollen Konzentration, die nichts zu wünschen lassen, wenigstens nicht, solange man im vollen Banne des momentanen Eindrucks steht.

Dennoch, wie Großes auch Hauptmann hier geleistet, das Höchste ist es nicht, nicht im allgemein ästhetischen Sinn und nicht in der speciellen Beziehung auf ihn, der sicher noch Größeres zu leisten berufen und auserwählt ist. Und sehr würde ich beklagen, was nun leider unausbleiblich scheint: 282 daß sein Vorgehen Nachfolger fände und »die Weber« Schule machten. Die Nachfolger möchten Nachtreter werden und die Schüler eine Rotte, über die der Magister, auf dessen Worte sie schwört, zuerst die Zuchtrute schwingen müßte. Quod licet Iovi – Aber wehe, wenn sie losgelassen, frei, ohne seine machtvolle Gestaltungskraft, ohne seine eminente Gabe zu charakterisieren und zu individualisieren, sich auf verwandte Stoffe stürzen und uns die Not der Bergleute, der Nägelschmiede, der Cigarrendreher, der Leimsieder – was weiß ich – ad aures et oculos zu demonstrieren unternehmen! Es wäre damit, wie mit der schrecklichen Saat der blechernen Ritterstücke, die nach Goethes Götz von Berlichingen überall aus dem deutschen Boden wuchs.

Ich bin sicher nicht der einzige, dem bei Gerhart Hauptmanns »Webern« Goethes Götz wieder und wieder in Erinnerung kommt. Ich denke dabei an die erste Niederschrift aus dem Jahre 1771, nicht an die zweite, bald darauf erfolgte, bereits abgeschwächte, geschweige denn an die dritte, völlig verwässerte. Es wäre eine dankbarste Aufgabe, die Parallele, die sich ungesucht zwischen der »Geschichte Gottfriedens von Berlichingen mit der eisernen Hand, dramatisiert« und den »Webern« darbietet, genau durchzuführen; ich muß mich auf die Hervorhebung von ein paar in die Augen springenden Punkten beschränken.

Wie heute, so damals zitterte durch die ganze junge Generation die Ahnung einer Zukunft, die nur darum so zu heißen schien, weil sie notwendig kommen mußte. Damals war es die französische Revolution, deren Blutgeruch in der Luft schwebte; heute glaubt man den Namen des großen hereindrohenden Ereignisses schon zu wissen; man munkelt ihn sich schaudernd in die Ohren; man schreit ihn laut aus in tobenden Versammlungen von tausenden Brot- 283 und Arbeitsloser. Damals waren die Propheten des erwarteten Messias: Voltaire, Rousseau und die Encyklopädisten, heute: Marx, Lassalle, Bebel und die Flut der Broschüren, von denen jede behauptet, daß es so nicht bleiben könne; jede den Weg, auf dem einzig und allein zum Heil zu gelangen ist, zu kennen glaubt. Und in der schriftstellerischen und künstlerischen Jugend der Ruf: Nieder mit den alten Perücken! weg mit Puder und Schminke! à bas die scheinheilige Dreieinigkeit von Handlung, Zeit und Raum! und hoch die Natur! und abermals: die Natur!

Nur daß die ästhetisch-revolutionäre Jugend eine deutsche damals war und heute ist, für welche die Natur aus erster Hand stets etwas Befremdliches hat und die sie darum aus zweiter Hand zu nehmen selten verschmäht. Damals hieß die zweite Hand: Shakespeare, heute heißt sie: Zola, Ibsen, Tolstoj.

Aber die heutige Generation ist in einer glücklicheren Lage, als die von damals. Die Wirklichkeit der Dinge umgiebt sie zu dichtgedrängt; sie können sie nicht von sich weisen; und die kraftvollen Talente wollen es auch nicht, sondern lassen bald jene zweite Hand fahren und erfassen keck und trotzig die erste. Selbst ein Goethe mußte noch, um sich einen dramatischen Helden nach seinem Sinn zu schaffen, zweiundeinhalb Jahrhundert in das Mittelalter zurückgreifen; Hauptmann brauchte nach den Menschen, die er nötig hatte, nicht so weit zu suchen. In dem an seinen Vater gerichteten Vorwort zu den »Webern« heißt es: »Deine Erzählung vom Großvater, der in jungen Jahren, ein armer Weber, wie die geschilderten, hinterm Webstuhl gesessen, ist der Keim meiner Dichtung geworden.« Das ist denn freilich etwas anderes, als die Lektüre von Götzens Geschichte, wenn der alte Haudegen sie auch selbst mit seiner 284 eisernen Hand geschrieben. Nun brauchte der Dichter allerdings nicht zu fürchten, daß ihm die hinzufabulierte Gestalt einer Adelheid zu sehr ans Herz wüchse und ihm das Concept verdürbe. Und noch weniger stand für ihn zu besorgen, es möchte ihn die packende Wahrheit, mit der er die Not seiner Weber geschildert, hinterher gereuen, wie seinen großen Vorgänger die ergreifenden Farben, in denen er ursprünglich das Elend seiner gehudelten Bauern dargestellt. Hätte er, der große Vorgänger, diese Farben doch, wenn möglich, noch brennender gemacht! Hätte er seinen Bauern, anstatt sie diplomatisch aus dem Stück hinauszuweisen, in ihm einen noch breiteren, viel breiteren Raum gewährt! Vielleicht wäre er dann doch auf den Gedanken gekommen, der so nahe zu liegen scheint: seinen Götz nicht unfreiwillig, sondern aus Herzensdrang an die Spitze der Aufrührer treten und ihn, den Helfer und Beschützer aller Armen und Elenden von jeher, schließlich als Vorkämpfer für die »in den Kot getretenen« Rechte der Ärmsten und Elendesten fallen zu lassen. Da hätte er freilich der Geschichte, wie er sie vorfand, Gewalt anthun müssen; aber zu einem wirklichen Helden wäre er gekommen, und wir hätten heute eine wirkliche Tragödie mehr, anstatt einer dramatisierten Geschichte.

Oder es wäre ihm wenigstens aus der Bauernnot eine Heldin für sein Stück erwachsen, wie Hauptmann für das seine aus der Webernot.

Aber, wie damals, so heute brauchen die jungen Stürmer und Dränger keinen Helden und keine Heldin. Sie wollen Natur und Wahrheit; was darüber ist, ist vom Übel.

Und so wäre denn wohl hier das Dogma der Schule, Wahrheit in der Dichtung zu bieten, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit, zur großartigen That geworden. 285 Ich bin überzeugt, die Zuschauer, welche nach jener denkwürdigen Matinee der »Neuen Freien Bühne« am 26. Februar 1893 in tiefster Seele erschüttert, das »Neue Theater« verließen, werden geneigt gewesen sein, es buchstäblich zu unterschreiben. Ob ihnen nicht aber doch nachträglich Zweifel daran aufgestiegen sind? Ob sie sich nicht gefragt haben: war dies wirklich, wenn auch nichts als Wahrheit, die ganze Wahrheit? die Wahrheit, auf welche die Wissenschaft es abgesehen hat, und die ans Licht zu bringen, sie auch allein in der Lage ist? Würde sie sich bei ihrer Enquete damit begnügt haben, die Not dieser Unglücklichen zu konstatieren? nicht nach den zureichenden Gründen geforscht und dabei vielleicht herausgebracht haben, daß mit nichten die Hartherzigkeit der Arbeitgeber die alleinige Ursache des Weber-Elends in den vierziger Jahren war; daß dieses Elend, wären jene die humansten der Menschen gewesen, entstehen mußte infolge schlimmer Handelskonjunkturen und des unaufhaltsamen Umschwunges, der sich in eben jener Zeit in der Textilindustrie vollzog und Maschinenarbeit anstatt der landläufigen Handarbeit gebieterisch forderte zum Verderben derer, die der Forderung nicht nachkommen konnten oder oft, sehr oft, jedes ihnen zur Verbesserung ihrer Lage entgegengetragene, aufgedrängte Auskunftsmittel stumpfsinnig von sich weisend, nicht nachkommen wollten, und so freilich dem Elend rettungslos preisgegeben waren? Von dieser ruhig-objektiven Betrachtung der Dinge, die der Wissenschaft heilig ist, weiß Hauptmann in seinem Drama nichts. Ich gebe zu, hätte er davon gewußt oder wissen wollen und, wie die Not der Arbeiter, so die Hilflosigkeit der Arbeitgeber gegenüber Verhältnissen, die ihnen über den Kopf wuchsen, mit den entsprechenden kräftigen Farben geschildert, – der ungeheuren Wirkung, die sein Stück jetzt 286 hat, würde es sicher ermangeln. Dann aber möchte ich den Naturalisten zurufen: wenn ihr, was euch ja kein Billigdenkender verübeln wird, Wirkung wollt, so gebt wenigstens zu, daß ihr sie nur auf Kosten der Wahrheit haben könnt, eben der Wahrheit, an welcher sich, wenn man euch hört, die Dichter der alten Schule so gröblich versündigen.

Nun, mögen die Anhänger der neuen walten! Nutz- und verdienstlos ist ihr heißes Bemühen, ihr ehrliches Streben sicher nicht. Und vielleicht findet doch einer oder der andere von ihnen heraus, daß reinste Natur und höchste Kunst nicht so feindlich sich gegenüberstehen, wie es ihnen heute scheint.

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