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XX.
Das Glück im Winkel.

Auch nur ein Glück im Winkel – ein jedes Glück ist willkommen –
Schliche das Unglück nur nicht selbst in den Winkel sich ein!

Ich gestehe gern, für »Das Glück im Winkel« eine besondere Vorliebe zu haben. In keinem andern seiner Stücke schlägt der Dichter so tiefe Herztöne an; und das ist wohl der Grund, weshalb dies intime Stück von der Bühne herab nicht den rauschenden Beifall gefunden hat, wie etwa »Ehre« oder »Heimat«. Es finden sich eben nicht leicht Schauspieler, die Herzenstöne anzuschlagen verstehen; und finden sie sich, fehlt wieder die Resonanz im Publikum. Die Aufführung am Berliner Lessing-Theater, obgleich nichts weniger als schlecht – lag doch die wichtige Rolle des Röcknitz in den Händen keines Geringeren als Mitterwurzer – wie weit blieb sie in der Wirkung hinter der zurück, welche die Lektüre auf mich gemacht hatte! Die Umrisse waren wohl da; Schatten und Lichter richtig angedeutet; aber wohin geschwunden das holde Clair-Obskür, in welches wir beim Lesen zu blicken glauben? Und aus dem so viel zarte Geheimnisse zu lauschen scheinen? Ein wertvoller Holzschnitt, alles in allem, nach einem in zugleich sattesten und duftigsten Farben gemalten Bilde.

Und wieder einmal fragte ich mich, ob das Drama auf der Bühne wirklich das rechte Instrument sei, die Empfindungswelt einer Generation wiederzugeben, die in dem stetigen 344 Verfeinerungsprozeß der Menschheit zu einem Punkte vorschritt, wo das Verlangen nach Aufwühlung gröberer Leidenschaften, die einem robusteren Geschlechte Bedürfnis ist, weit zurücktritt hinter dem Wunsch, die feineren Schwingungen des Nervenlebens zu beobachten, und von dem Dichter klargelegt zu sehen, »was von Menschen nicht gewußt, oder nicht bedacht, durch das Labyrinth der Brust wandelt in der Nacht«. Für diese zarten Geheimnisse ist das grelle Bühnenlicht nicht die richtige Beleuchtung, gerade wie die Feinheit eines Gemäldes in der brutalen Helligkeit elektrischer Lampen rettungslos für den Kenner verloren geht, während das gröbere Sensorium des Laien an dem Geflimmer und Geglitzer und den Knalleffekten, die sie hervorrufen, immerhin seine Rechnung finden mag.

Mir ist Elisabeth weitaus die seelenvollste aller weiblichen Gestalten unsers Dichters, der Magda der »Heimat« an wahrer Noblesse der Gesinnung, an zarter Empfindung und feinem Takt des Herzens weit überlegen. Das soll kein Vorwurf für Magda und ihren Dichter sein. Nicht immer kann der Dichter Gestalten schaffen, denen er seine volle Sympathie entgegenbringt. Ja, diese innige Anteilnahme, wie Goethes an der Adelheid im Götz, stört ihm leicht das Concept, während ein Eduard der Wahlverwandtschaften, den er »nicht mag«, desto voller und runder herauskommt. In der Kunst ist und bleibt die Hauptsache, daß jede Figur an ihrer richtigen Stelle steht und diese Stelle ausfüllt. Wir begreifen sehr wohl, daß bei einer Sängerin, welche »die großen Wagnerrollen« singt, die feineren Züge des Gesichtes und der Seele Schaden leiden, und verlangen von ihr keine besondere Vorliebe für Familienempfindungen. Elisabeth ist eine lady born and bred. Ich möchte sie von Eleonore Duse dargestellt sehen. Sie, aber auch sie allein 345 unter allen lebenden Künstlerinnen, wäre wohl im stande, der wundervollen Gestalt auf der Bühne das innige Leben einzuhauchen, von dem sie für den sinnigen Leser erfüllt ist.

Elisabeth ist ein dichterischer Triumph. Wie kompliziert auch ihr Wesen, so bruchlos steht sie vor uns da. Klein, sehr klein hat sie sich machen müssen, um in die engen Verhältnisse des Rektorhauses sich einzuschmiegen; und trotzdem sie mit keinem Worte, keiner Miene die Bescheidenheit der Rolle verletzt, zu der sie sich verurteilte, haben wir beständig das Gefühl ihrer wirklichen Größe. Wie der olympische Zeus die Empfindung erweckte, er werde, wenn er sich aufrichtete, das Dach des Tempels einstoßen, so fürchten wir, sie könne sich einmal zu ihrer vollen Höhe erheben. Aber sie thut es nicht; auch, als sie dem Kreisschulinspektor so prachtvoll heimleuchtet, läßt sie es bei einer Andeutung ihrer wahren Natur bewenden. Wiederum in ihrem Sichkleinmachen keine Spur von Affektation. Wie einfach, schlicht, natürlich ihre Sorge um den kümmerlichen Haushalt! ihr Bemuttern der blinden Stieftochter, der beiden wilden Jungen; des blöden guten Dangel! Von welchem zarten Takt ihr Benehmen gegen den braven, unbedeutenden, ungeliebten Gatten!

In ihrem Verhältnis zu ihm liegt der Schwerpunkt des Stückes; in der Beantwortung der Frage: kann man an ein eheliches Glück glauben zwischen einem vor der Zeit gealterten Mann, der »fertig ist mit seiner Jugend«, fertig mit dem Leben, auf dessen Preise er ein für allemal verzichtet hat; und einer jungen Frau, die von sich sagen muß: »In mir fieberte noch alles – noch jeder Nerv … voll Sehnsucht hab ich gesteckt bis oben ... Ach, was hab ich alles erleben wollen! … Und da kommen dann die Winterabende, wo man in die Lampe starrt, und die 346 Sommernächte, wenn die Linde vor der Thür blüht – – Und man sagt sich: Dort irgendwo liegt die Welt und das Glück – aber du sitzt hier und strickst Strümpfe!«? Und sie sagt das nicht etwa in ruhigem Rückblick auf Zeiten die hinter ihr liegen, deren Versuchungen und Gefahren sie längst überwunden hat – nein! in einer Stunde, da sie zu sterben entschlossen ist! ihre Lippen noch brennen von den Küssen, die sie mit dem Geliebten ausgetauscht!

Es wird nicht jeder – am wenigsten: jede Frau – mit Röcknitz sympathisieren können. Besonders originell kann man die Gestalt nicht nennen: sie hat, wenn nicht in der dramatischen, so doch in der Romanlitteratur eine stattliche Reihe von Ahnherren, deren leibhaftiges, nur vergröbertes Abbild sie ist. Aber gerade diese Vergröberung, dieser Stich aus dem vornehmen Herrn in den Reitmeister einer Manege hat etwas Überzeugendes, legitimiert ihn als den rücksichtslosen Herrenmenschen fin de siècle und macht aus ihm eine eigenartige, so noch nicht dagewesene Erscheinung. Wie dem auch sei: Elisabeth hat ihn geliebt, hat nicht aufgehört, ihn zu lieben. Wird sie das jetzt, nachdem sie an seiner Brust gelegen? seine Küsse getrunken hat? sie sich gegenseitig ihre Liebe (an der keines von ihnen vorher gezweifelt) noch ausdrücklich versichert? Kann die junge Frau dafür, wenn ihr, trotz der besten Vorsätze, jene ominösen Winterabende und Sommernächte wiederkommen? kann sie in Zukunft – Hand auf dem Herzen – für »das Glück im Winkel« einstehen?

Der Dichter verlangt, daß wir es annehmen. »Mir ist, als säh ich dich (den Gatten) heute zum erstenmal!« läßt er seine Elisabeth sagen. Darüber fällt der Vorhang.

Ich für mein Teil bin nicht überzeugt. Mir deucht: dies ist einer der tausend Fälle, wo der dramatische Dichter 347 mit einem peremptorischen: sic volo! sic jubeo! die Opposition, die sich im Herzen des Zuschauers regen will, zum Schweigen zu bringen sucht, und sicher oft genug zum Schweigen bringt. Denn er ist im Bunde mit dem mächtigsten der Herrscher: mit dem Augenblick. Der Zuschauer steht in seinem Bann, unter seiner verblüffenden Wirkung, die der kluge Dichter voll für sich ausgenutzt hat. Das Stück ist zu Ende. Es hat uns unterhalten, ergötzt, gerührt. Weshalb noch lange darüber grübeln, ob auch alles mit rechten Dingen zuging? So bleibt der Zuschauer der willig Düpierte; und der Dichter lacht sich ins Fäustchen.

Da bin ich denn wieder bei meinem oben ausgesprochenen Zweifel, ob das Bühnendrama wohl das legitime Vehikel sehr intimer, sehr komplizierter Herzensgeschichten sei. Denn daß gerade in solchen die Vertauschung eines X. mit einem U. am leichtesten von geschickten Händen ins Werk gesetzt werden kann, liegt auf der Hand. Lady Makbeth freilich würde in den Augen auch des naivsten Zuschauers keine noch so feine Vertuschung, keine noch so gewandte Schiebung von der moralischen Mitschuld an dem Morde Dunkans reinigen können; Elisabeths künftigen Seelenfrieden mag der Dichter kühn behaupten und es auf das skeptische Lächeln des Tieferblickenden und sein ungläubiges: Credat Iudaeus Apella! ruhig ankommen lassen.

Ist aber das Drama das rechte Vehikel nicht, so muß wenigstens die Frage erlaubt sein, ob es nicht etwa der Roman wäre?

Mir wenigstens drängt sie sich auf, indem ich Sudermanns Drama mit einem Roman der neuesten italienischen Litteratur vergleiche: Il peccato di Loreta von Alberto Boccardi (Milano. Fratelli Treves 1896). Die Ähnlichkeit des Themas, selbst die Führung der Handlung in beiden 348 Werken sind so groß – ein späterer Literarhistoriker würde zweifellos ein zwischen ihnen bestehendes Abhängigkeitsverhältnis ohne weiteres konstruieren. Ich sehe in dieser Ähnlichkeit, die sich stellenweise – und bei sehr wichtigen Punkten – bis zur Gleichheit steigert, schlechterdings nichts als einen Zufall und den Beweis, daß Dichter, ohne voneinander eine Ahnung zu haben, zu derselben Zeit auf denselben Stoff verfallen können, der dann, eben weil er derselbe ist, mutatis mutandis dieselbe Behandlung finden wird.

Man urteile selbst!

Die Heldin des Romans, Loreta, ein schönes, armes, geistvolles, höchst edles Mädchen hat ihr wechselvolles Schicksal in das Haus einer Gräfin-Witwe geführt als Gesellschafterin von deren einziger Tochter. Das Verhältnis zwischen der Comtesse und ihrer Gesellschafterin wird bald das freundschaftlichste, innigste. Es lebt aber in dem Hause auch ein einziger Sohn, etwas älter, als Loreta: ein blühender, enthusiastischer Mensch. Eine gegenseitige Neigung der beiden jungen Leute steigert sich schnell zu glühendster Liebe. Die adelstolze Mutter ist empört, als sie das Geheimnis entdeckt; aber ihr Stolz muß sich der Seelenhoheit Loretas beugen, von deren Großmut sie Entsagung erfleht. Loreta entsagt; weicht aus dem Hause; verbirgt sich vor dem Liebenden im Gewimmel der Welt; muß Hartes erdulden, bis sie – ich kann hier auf die Einzelheiten der Erzählung nicht eingehen – abermals als Gesellschafterin zu einer alten würdigen Dame kommt, die einsam in ihrer Villa auf dem Lande haust, und deren Herz sie leicht, wie die Herzen aller gewinnt. Auch das des Sohnes der Dame, eines nicht mehr jungen, dunklen Ehrenmannes, der ohne jeglichen Ehrgeiz nur für seine alte Mutter und seine antiquarischen Studien lebt. Die Mutter stirbt. Mattia, der Loreta längst liebt, 349 bietet ihr, um sie nicht zu verlieren, seine Hand. Sie nimmt sie, ohne Liebe freilich, aber voller Verehrung für die Tugenden des bescheidenen, trefflichen Mannes, um endlich Ruhe nach den Stürmen ihres Lebens, endlich »das Glück im Winkel« zu finden, welches die Sehnsucht ihres kranken Herzens ist. Sie scheint es gefunden zu haben. Das Verhältnis zwischen den beiden gestaltet sich – wenn wir von den Kindern absehen, die nicht vorhanden sind – ganz analog dem der Personen im Drama. Mattia, gerade wie der Rektor, trägt und quält sich fortwährend mit der Empfindung, daß ihm die schöne, geistvolle Loreta ein Opfer bringt, dessen er sich nicht wert weiß; Loreta, gerade wie Elisabeth, sucht es ihm durch treue Sorge für sein Wohl, für den Haushalt, durch gleichmäßig-gütiges Betragen zu vergelten. Der Himmel über den beiden, so verschiedenartigen, in tiefer ländlicher Zurückgezogenheit lebenden Gatten ist nicht von glänzender Bläue, aber auch ohne jegliche Gewitterwolke. Die dann freilich drohend heraufzieht, als der junge Graf (der übrigens keine Ahnung von den weiteren Schicksalen der Geliebten seit der Trennung hat) ein ihm gehörendes Schloß in unmittelbarer Nähe des Landhauses der Gatten zu einem kurzen Aufenthalt besucht. Der Graf und der Gatte Loretas kennen sich nicht persönlich; aber zwischen seiner und Mattias Familie haben vor Zeiten gemeinschaftliche politische Strebungen und gegenseitige Hilfleistungen ein starkes Band geflochten, das in einer ersten Begegnung leicht wieder angeknüpft wird. In den Liebenden ist die alte Leidenschaft nicht erloschen und flammt beim Wiedersehen zur alten Glut auf. Loreta will ausweichen, ihrem Gatten die gelobte Treue bewahren – es soll nicht sein. Der Zufall spielt wiederholt den Kuppler, bis es ihm gelingt, die Unglücklichen während eines Unwetters in dem einsamen Schlosse des Grafen zusammenzuführen. 350 Nun Erinnerung vergangener glücklich-unglücklicher Tage, Zweifel an der Treue hinüber und herüber, erneute Schwüre, »Wechselhauch und Kuß, Liebesüberfluß«. Innerlich vernichtet kehrt Loreta zum Hause des Gatten zurück, aus dem »das Glück im Winkel« fortan entflohen ist. Der Gatte ahnt, was geschehen; eine Unterredung mit seinem jungen Freunde, in welcher dieser sich zu halben Geständnissen herbeiläßt, raubt ihm vollends den Frieden der Seele, von der in Loreta der letzte Schimmer erloschen. Mit dem Geliebten darf sie nicht, ohne ihn kann sie nicht leben; der Verrat, den sie an dem guten, großherzigen Gatten geübt, treibt sie zur Verzweiflung. Eine Krankheit, in die sie verfallen, thut ihr Werk zu langsam; sie beschließt, den erwünschten Tod gewaltsam herbeizuführen. Vorher beichtet sie dem Gatten in einem Briefe, den er nach ihrem Ende finden soll, ihre ganze Schuld. Bei herabsinkender Winternacht schleicht sie sich aus dem Hause, findet das Hofthor verschlossen; quält sich vergebens, es zu öffnen; bricht zusammen; wird so gefunden, in das Haus zurückgebracht – eine Sterbende. An ihrem Bette überantwortet der Gatte den ominösen Brief ungelesen den Flammen des Kamins und betet für ihre Genesung. Ob mit Erfolg? Nach der Schwere der Krankheit, die ausführlich geschildert wird, darf man es nicht annehmen; nach allem, was vorgegangen, kann man es nicht wünschen.

Die Ähnlichkeit des Themas im Drama und im Roman liegt auf der Hand; die Verschiedenheit der Ausführung – abgesehen von dem selbstverständlich vielfach differierenden nationalen Kolorit – resultiert zu einem nicht geringen Teil aus der Verschiedenheit der gewählten Dichtungsart. Ich rechne in erster Linie dahin den schwerwiegenden Umstand, daß der Ehebruch, der im Drama in so viel milderer Form 351 –man möchte sagen: nur andeutungsweise – stattfindet, von dem Romandichter kraft der größeren Freiheit, die er hat, völlig ernst genommen wird. Wovon dann wieder die Folge, daß in dem Roman die Heldin wohl, wie die des Dramas, durch einen Zufall von der Ausführung des beabsichtigten Selbstmordes verhindert; aber nicht aus der Tiefe ihrer Verzweiflung gerissen werden kann. Und so schließlich im Roman »das Glück im Winkel« in Scherben liegt, während das Drama uns zumutet, es aus der Katastrophe unversehrt, wo möglich gefestigt hervorgegangen anzusehen.

So denn finde ich den Roman wahrer, logischer, konsequenter, als das Drama; nicht, weil sein Dichter der bedeutendere ist – weit eher möchte das Gegenteil der Fall sein – sondern weil er sich zur Verkörperung der höchst subtilen Idee die Dichtungsform wählte, in welcher nach meiner Ansicht ein Gelingen – ich will nicht sagen: allein; aber doch schon eher möglich war.

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