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XI.
Max Halbes »Jugend«.

Daß mit der Tugend die Jugend gespannt, wir wissen es alle;
Glücklicherweise nicht stets schlichtet ein Toller den Streit.

Den hohen Wert zu unterschätzen, welchen die Schule auf das Milieu legt: d. h. die temporären und lokalen, socialen, familiären und sonstigen Verhältnisse, unter deren Einfluß sich das Individuum entwickelt hat, bin ich der letzte. Ein Dichter, der bei der Conception und Herausgestaltung seiner Personen besagte Verhältnisse nicht fortwährend streng im Auge behält, bringt es sicher zu nichts, was den welt- und lebenserfahrenen Leser oder Zuschauer befriedigen könnte. Aber ebenso war ich stets und bin ich noch heute trotz alledem der Meinung, daß, wenn auch die intimste Kenntnis des Milieu die conditio sine qua non dichterischen Schaffens ist, es einen Mangel an Geschmack und Kunstverstand verrät, läßt der Dichter es nicht da, wohin es gehört: in dem Hintergrund, sondern zerrt es in den Vordergrund, wohin es keineswegs gehört, weil es dort keine andre Wirkung hat als die schädliche: seine Personen, auf die es ihm doch in erster Linie ankommen sollte, zu verschleiern, zu verdecken, zu verkrüppeln. Ein Haus kann nicht ohne Gerüst gebaut werden; aber, wenn das Haus fertig ist, muß das Gerüst fallen.

Und weiter war und bin ich der Meinung: wird schon der Roman durch zu breites Herauskehren des Milieu zu 256 einem schwerfälligen Produkt, das unter besonders gravierenden Umständen kaum noch vor das ästhetische, sondern vor das wissenschaftliche Forum gehört (welches dann aus erklärlichen Gründen ebenfalls mit einem abweisenden Urteil bereit zu sein pflegt), so ist sein Überwuchern der Tod des Dramas. In dieser seiner tödlichen Eigenschaft wirkte es in Halbes »Eisgang«, einem früheren Stück des Dichters, das ich, wenn auch nur durch Lektüre, gut kannte. Der Dichter führt uns in die Gegend an der unteren Weichsel und macht uns mit der Familie eines Landwirts vertraut, der seine Kraft in dem Kampf mit schwierigen ökonomischen Verhältnissen aufgerieben hat. Besonders ist es das unbotmäßige ländliche Arbeiterpersonal, das ihm zu schaffen macht. Der unglückliche nervenzerrüttete Mann stirbt bereits im ersten Akt an einer allzugroßen Portion Morphium oder desgleichen. Der Sohn, der an seine Stelle tritt, ist noch viel weniger im stande, dem Unheil zu steuern. Er ist aus Überzeugung Socialdemokrat; findet, daß die Leute einfach Opfer einer hundertjährigen Mißwirtschaft und also mit ihren oppositionellen Gelüsten und aufrührerischem Gebaren in gutem Rechte sind. Ein bornierter engherziger Onkel aus der schlimmsten alten Schule verbösert die Sache nur durch sein tölpelhaftes Eingreifen. Endlich – im vierten Akt – kommt die Weichsel und macht dem Stück ein Ende, indem sie den Zukunftsträumer zwischen ihren Eisschollen verschlingt.

So ist in dem seltsamen Stück von einer Handlung im eigentlichen Sinne schlechterdings keine Rede. Wie der junge Landwirt thatsächlich die Hände in den Schoß legt, so thun es die übrigen auftretenden Personen – die der Verfasser in seinem Verzeichnis, wunderlich genug, als »Menschen« aufführt. Diese – Baumeister, Doktor, Schwester und 257 noch einer und der andere – sie kommen und gehen, ohne eine Hand an die Räder des dramatischen Karrens zu legen, der denn auch glücklich am Schluß genau da steht, wo er anfangs gestanden hat: Situationsmalerei vom Beginn bis zum Ende.

Aber die Situation selbst: die ökonomisch rettungslose Lage der Familie, ist mit einer Kraft herausgearbeitet, welche Anerkennung verdient. Der Verfasser luxuriiert in Details, die beweisen sollen (und für diesen und jenen auch beweisen mögen), daß die Rettung unmöglich ist. Besonders ernst nimmt er es mit den Scenen, in denen er uns mit Wesen und Charakter jener mit polnischen Elementen durchsetzten, verkommenen dienstbaren Bevölkerung bekannt macht. Auch wer, wie ich, Land und Leute, um die es sich hier handelt, nicht kennt, empfängt bei diesen Schilderungen den Eindruck greifbarer Wahrheit. Diese Leute müssen so denken, so sprechen. Daß sie in meinen Augen an dieser naiven Wahrhaftigkeit keine Einbuße erleiden würden, wenn sie die Gewogenheit hätten, sich nicht zum Ausdruck ihrer konfusen Gedanken und ordinären Empfindungen ausschließlich des landläufigen Dialektes zu bedienen, ist ein Stoßseufzer, den ich nur »beiseite« gethan haben will. Jedenfalls wird durch die mit so großer Sorgfalt bis zum Übermaß stark aufgetragene Lokalfarbe in keiner Weise deutlicher, weshalb das Stück nun eigentlich »Eisgang« heißt, da der im vierten Akt wirklich eintretende Eisgang ebensowohl kommen kann, wie er nicht zu kommen brauchte. Es sei denn, daß das Naturereignis nur symbolisch zu nehmen ist und die grausame Unwiderstehlichkeit bezeichnen soll, mit der die Verhältnisse sich an denen rächen, welche die Pflicht gehabt hätten, sie beizeiten zu regulieren und in geordnete, dem Gemeinwohl ersprießliche Bahnen zu lenken.

258 Der Leser wird nach diesen Ausführungen die gedrückte Stimmung begreifen, mit der ich der Aufführung von »Jugend« entgegensah.

Und wie angenehm wurde ich enttäuscht!

Hier, in »Jugend«, wahrhaftiges dramatisches Blut und Leben; eine kleine, sehr intime, aber – bis auf den Schluß, über den wir zu sprechen haben werden – folgerichtige, durchsichtige, nicht immer gleichmäßig, aber doch stetig fortschreitende, die Teilnahme des Zuschauers bald energisch herausfordernde, bald freundlich erschmeichelnde Handlung.

War »Eisgang« ein Beispiel dafür, wie in einem Drama das Milieu nicht behandelt werden darf, so ist »Jugend« nach dieser Seite hin geradezu musterhaft zu nennen. Man muß schon sehr genau hinsehen, um sich darüber klar zu werden, durch welche Mittel der Dichter denn eigentlich das Kunststück zu stande gebracht hat, uns mit den socialen, sittlichen, ökonomischen und sonstigen Bedingungen, in deren Abhängigkeit diese Menschen leben, völlig vertraut zu machen: so innig haftet die Lokalfarbe an allem und jedem, und so decent ist sie aufgesetzt. Kaum, daß der Vorhang sich zum erstenmale gehoben hat, atmet uns die Luft in dem Hause eines ländlichen Pfarrers – ich möchte sagen specifisch an. Auf dem Hofe vor dem Fenster gackern die Hühner; drinnen in der Stube, deren Wände mit heiligen Bildern von naivster Geschmacklosigkeit behängt sind, zwitschert von der Decke herab ein Kanarienvogel; auf dem Tisch vor dem Sofa klappern die Kaffeetassen – alles, wie in Vossens »Luise«; und doch empfindet man sofort die Differenz zwischen der protestantischen und der katholischen Idylle. Hier schaltet keine Hausfrau; hier giebt es keine Tochter, nur eine Nichte; hier kommt auf dem Wege von der Schule zur Universität kein Sohn zum Besuch, es muß ein Neffe sein. Man 259 wird sagen, das versteht sich ja unter den gegebenen Verhältnissen von selbst. Gewiß. Aber die feine, bescheidene Art, in welcher uns der Dichter, ohne alle und jede Weitschweifigkeit, wie durch Magie, mit diesen Verhältnissen vertraut macht – da liegt's.

Und wie belohnt sich diese Feinheit, diese Bescheidenheit der Behandlung des Milieu! In »Eisgang« sind die Personen nicht verzeichnet, durchaus nicht! Aber sie sind nur skizzenhaft umrissen ohne die greifbare Lebendigkeit, welche nur die volle, saftige Farbe geben kann. Hier, – das Milieu als Mittel zum Zweck, nicht als Selbstzweck nehmend – hatte der Dichter die Hände frei für die Ausgestaltung seiner Menschen, die denn nun auch voll und rund vor uns hintreten – nach fünf Minuten stehen wir mit ihnen auf du und du. Das hält freilich nicht schwer bei dem herzigen Pfarrer, dem nichts Menschliches fremd ist. Auch mit dem jungen Studenten würde man gern Brüderschaft trinken, und sich mit dem holden Annchen zu duzen, dürfte sich nur ein decidierter Misogyn sträuben. Aber der Kaplan, der fanatische! Aber Stiefbruder Amandus, der Trottel! Und doch, ihre Seelen – die recht komplizierte des einen, die mehr als einfache des andern – sie wohnen für uns in einem Hause von Glas. Nur in einer Scene – ich meine die, in welcher der Kaplan in einer Heiterkeit, die doch nur gemacht sein kann, das Zimmer betritt, habe ich nicht recht gewußt, woran ich bei ihm war. Wollte er Annchen zeigen, daß auch er ein Mensch von Fleisch und Blut sei? wollte er sie einmal, nur einmal im Tanz umfaßt, an seinen Busen gedrückt haben? Ich weiß es nicht und halte es nicht für unmöglich, daß der Autor selber es nicht weiß. Haben sich die Gestalten erst einmal von ihrem Schöpfer emancipiert – und sie zeigen in einem gewissen 260 Stadium ihrer Entwickelung eine verhängnisvolle Neigung dazu – thun sie manchmal Dinge, von denen sich seine Philosophie nichts träumen ließ.

Sonst ist Gregor aus ganzem Holz geschnitten: jeder Zoll der katholische Kaplan und verarmte polnische Edelmann. Seinen Fanatismus halte ich für echt: wenn er die Tochter, die »keinen Vater hat«, ins Kloster treibt, will er dem Himmel eine Seele gewinnen, die in seinen Augen sonst verloren ist; und wenn er es damit zugleich fertig bringt, daß den süßen Leib, nach dem er schmachtet, auch kein anderer genießen wird, so ist das ein Extraprosit, wie er auch sonst bei einem legitimen Handel so leicht nicht verschmäht wird. Auf die Ironie des Schicksals, welches die Sache umkehrt und sich just seiner heiligen Manipulationen bedient, »das Püppchen zu kneten und zuzurichten«, war der fromme Mann freilich nicht gefaßt. Ich hätte wohl gewünscht, daß der biedere Pfarrer seinen Kaplan in der prächtigen Strafrede, die er ihm schließlich hält, dieses qui pro quo energisch demonstriert hätte. Der Dichter würde so auch den Vorteil gehabt haben, noch zuletzt ein erklärendes Licht auf Annchens Handlungsweise zu werfen.

Und Annchen, das süße Annchen, das den Rat Mephistos an die Mädchen:

»Habt ihr euch lieb,
Thut keinem Dieb
Nur nichts zulieb
Als mit dem Ring am Finger«. –

so gar vergißt, verletzt sie, auch unter Anrechnung der eben erwähnten mildernden Umstände, mit ihrer starken Initiative in Liebessachen nicht die Bescheidenheit der Natur? Es mögen andere darüber anders denken – ich für mein Teil sage: nein! Weshalb soll eine bescheidene Pfarrersnichte 261 weniger heißes Blut haben als die stolze Tochter Capulets? Und sie hat ihren Hans so lieb, so lieb! Und morgen will er weiter nach Heidelberg, und kommt gewiß nie wieder zurück! Und wenn sie ihm zeigt, wie lieb sie ihn hat, dann bleibt er vielleicht! Und – die Gelegenheit ist so günstig! Keine Mauern zu übersteigen, keine Strickleiter zu erklimmen – nur ein Treppchen hinauf, und sie hält ihn in ihren Armen!

Nein, holdes Annchen, ich habe kein kleinstes Steinchen für dich; und finde es zu grausam, daß der entsetzliche Mensch, dein trottliger Bruder, dich totschießt. Er will freilich den Hans treffen; aber in einem Stück, wo es ordentlich zugeht, darf nur der getroffen werden, der getroffen werden soll und muß, weil die Logik der Dinge, oder der Charaktere – was nach meinen Begriffen im Drama dasselbe ist – es so verlangt. Aber welche Logik waltet hier? Was hast du Todeswürdiges verbrochen? Du und dein Geliebter, ihr habt, als ihr der Natur folgtet, nicht einmal, wie Julia und Romeo, die haßerfüllten Traditionen eurer feudalen Familien verletzt. Der Onkel, der als Mensch und Pfarrer seinen Mann steht, hat euch schon vergeben. Er verlangt weiter nichts, als daß der Hans sich ordentlich hinter die Bücher setzt und seine Examina macht, damit du nicht zu lange als jungfräuliche Strohwitwe dich nach ihm zu sehnen brauchst. Die Einwilligung von Hans' Eltern zu erlangen, kann schließlich auch nicht zu schwer sein – die Mutter wird wohl noch nicht vergessen haben, daß sie die Jugendflamme von Onkel Pfarrer gewesen ist! Warum also, du armes liebes Ding, mußtest du sterben?

Weil Bruder Amandus nicht rechtzeitig in ein Irrenhaus gesperrt ist?

262 Aber das ist denn doch wohl keine ausreichende Antwort auf eine Frage, die nicht bloß eine moralische, sondern auch im eminenten Sinne eine ästhetische ist.

Und von der ich mich wundere, daß sie der Realist Halbe nicht anders beantwortet hat.

Es müßte denn – was ich durchaus in Abrede stelle – zur Theorie des Realismus gehören, seine blinde Majestät, den Zufall, zum allmächtigen Herrscher der Dinge zu machen, womit denn freilich die Verwandlung des dramatischen Kosmos in ein undramatisches Chaos vollzogen wäre.

Schließlich noch ein Wort über den Titel des Stückes, den ich diesmal vortrefflich finde. Nur die Jugend der beiden Hauptpersonen ist die Erklärung und zugleich Entschuldigung ihres Thuns. Nehmt beide ein paar Jahre älter, und der holde Zauber, der das Liebespärchen jetzt umdämmert, ist weggewischt. Aus der linden, anheimelnden Frühlingsnacht würde eine Sommernacht werden, deren brütende Schwüle uns den Atem beklemmte.

Will man aber doch auch hier noch eine Nebenbedeutung in dem Titel finden, so wäre es etwa mit Hinblick auf den zu erhoffenden Erfolg Diese Hoffnung hat sich hinterher aufs schönste verwirklicht. – A. d. V. des Stückes.

Jugend hat Glück, sagt das Sprichwort.

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