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III.
Die Wahlverwandtschaften und Effi Briest.

Anders scheinet der Erde im Frühling, anders im Herbste
   Wandellosen Gestirns immer erfreuliches Licht.

Die tiefer eindringende Litteraturgeschichte, indem sie uns mit einem Schriftsteller nach dem andern bekannt macht, aus einer Epoche in die andere hinüberführt, ist nichts anderes und kann nichts anderes sein als eine fortgesetzte Reihe von direkten oder indirekten Vergleichen zwischen einzelnen Litteraturerscheinungen, oder ganzen Schulen und Perioden. Aber die Natur einer derartigen Aufgabe bringt es mit sich, daß man die Vergleiche, sozusagen in Bausch und Bogen anstellt; nur die großen charakteristischen Unterschiede hervorhebt, ohne dem Detail eine besondere Sorgfalt zuzuwenden. Mir deucht indes, gerade eine genauere Abwägung des Detail in seiner verschiedenartigen künstlerischen Behandlung und Verwertung müßte uns besonders lehrreiche Einblicke in das Wesen der dichterischen Technik verschaffen, gleich interessant für den ausübenden Künstler, wie für den nachforschenden Gelehrten. Wobei man denn die weiten Gesichtspunkte nicht aus dem Auge zu lassen brauchte, je nachdem Blick und Verständnis, sei es für diese, sei es für die Minima der Kunst, zufällig geweckt und befähigt sind.

Mir aber kam der Wunsch, einen Versuch in der angegebenen Richtung zu wagen, ganz besonders lebhaft, als ich unlängst einmal wieder – übrigens zu einem ganz andern Zwecke – die »Wahlverwandtschaften« durchstudiert 92 hatte, und kurz darauf Fontanes »Effi Briest« las. Eine seltsame Empfindung bemächtigte sich dabei meiner. Welch ungeheure Differenz in den Thematen, die zur Diskussion gestellt worden! im Aufbau der Handlung! in der Führung und Färbung des Dialogs! in der Behandlung des Detail! Und bei aller Differenz welche gleich mächtige Wirkung des Ganzen! Als ob der Satz, daß aus ungleichen Ursachen ungleiche Wirkungen hervorgehen müssen, auf den Kopf gestellt werden sollte! Und welch seltsame Verschiedenheit des Zeitkolorits, wenn man das eine neben das andere hält, während jedes doch, für sich betrachtet, den Eindruck vollkommenster Harmonie hervorbringt! Endlich: welche Verschiedenheit zwischen den beiden Dichterphysiognomien, die doch an sympathischem, edlen Ausdruck miteinander wetteifern!

Aber ich darf die etwaigen Resultate meiner Betrachtungen nicht vorwegnehmen; will vielmehr versuchen, sie dem Leser vorzuführen: etwas desultorisch, vermute ich, und sicher ohne Anspruch auf litterarische Gelehrsamkeit, von der ich vielmehr eine Unterstützung und Bereicherung meines Versuches erwarte und erbitte.

***

Es wäre interessant, zu wissen, wie Schiller sich zu den Wahlverwandtschaften gestellt hätte, d. h. ob er in dem Roman ein naives oder sentimentalisches Produkt gesehen haben würde. Bekanntlich hatte er seine berühmte Abhandlung »Über naive und sentimentalische Dichtung« (die in den Jahren 1795/96, zuerst in den Horen erschien), wenn nicht eingestandenermaßen, so doch wohl fraglos zu dem Zwecke geschrieben, seiner eigenen Poesie neben der goetheschen eine gesicherte Stellung zu erobern. Seine 93 Theorie, die darauf hinausläuft, zwei fundamental verschiedene Dichtungsarten zu konstruieren und so einen Dualismus in die Kunst einzuführen, hat in den Köpfen eine schlimme Verwirrung hervorgerufen, die erst in unsern Tagen wieder zu schwinden beginnt, trotzdem bereits Wilhelm von Humboldt in seinen ästhetischen Versuchen gegen sie Front gemacht hat. Nicht so energisch freilich, wie es wünschenswert wäre und er selber vielleicht wünschte; auch will mich bedünken, nicht mit der vollen Einsicht der verhängnisvollen Konsequenzen jenes gewaltsamen Dualismus; aber doch mit ahnungsvollem Blick für das allein Richtige, wenn er in dem Prozeß, den Schiller so falsch deutet, von keiner wirklichen Qualitätsveränderung, sondern nur Verfeinerung des dichterischen Stoffes wissen will. Einer Verfeinerung, die durchaus keine neue dichterische Methode bedingt, bei der es, im Gegenteil, nur darauf ankommt, »ihr diese (d. h. dieselbe) Realität zu verschaffen; sie wirklich als Natur, nur als eine höhere und wahrhaft verfeinerte, aufzustellen« W. von Humboldt »Ästhetische Versuche«, Ausgabe von 1799. S. 215..

Damit ist die Lösung des scheinbaren Widerspruchs ein für allemal gegeben; und Schiller selbst streift in seiner Abhandlung dicht an ihr vorüber, wenn er, auf den Werther zu sprechen kommend, bemerkt: »Das naive Genie habe sich hier an die Aufgabe gemacht, einen sentimentalischen Stoff zu behandeln, und sie in bewunderungswürdiger (soll doch wohl heißen: in seiner eigenen naiven) Weise gelöst Vulg. XII. S. 215.

Er würde das Gleiche wohl auch von den Wahlverwandtschaften haben sagen müssen; und das Lob der glücklichen Lösung würde in diesem Falle um soviel schwerer 94 wiegen, als es hier eine viel größere und kompliziertere Aufgabe zu bewältigen galt. Im Werther war der Stoff verhältnismäßig einfach – von einer homerischen Einfachheit, möchte ich sagen; und von dem Dichter mit homerischen Mitteln zu lösen, d. h. durch eine Simplicität und Wahrhaftigkeit der Darstellung, die sich dem einfachen, urwüchsigen Stoffe liebend anschmiegte. Das konnte und mußte dem Dichter desto herrlicher gelingen, als er noch ganz von dem Ungestüm und Wagemut der Jugend erfüllt war, die sich von Rücksichten möglichst emancipiert, Bedenken nicht kennt und unentwegt auf ihr Ziel losstrebt; um so weniger in diesem Streben gehindert, als es die eigenste Erfahrung ist, um deren Manifestation es sich hier handelt; es das eigne Herzblut ist, mit der er seine Gestalten nährt.

Nun spielt das subjektive Moment freilich auch in den Wahlverwandtschaften eine hochbedeutsame Rolle; aber die Zeit der naiven Unbefangenheit ist für den Dichter längs dahin. Ein fast sechzigjähriger verheirateter Mann kann seine Leidenschaft für ein junges Mädchen nicht mit der Offenheit eingestehen, wie der ledige Jüngling von einigen zwanzig Jahren, wenn der Gegenstand seiner Anbetung inzwischen auch die Gattin seines Freundes geworden ist. Und der Dichter ist nicht nur ein älterer Mann, sondern ein vornehmer Herr, der erste Beamte seines Staates, mit einem weltberühmten Namen, behaftet also und belastet mit Rücksichten, die er auf seine Jahre, seine Stellung, auf die Welt nehmen muß; auf die große und wahrlich nicht zum mindesten auf die kleine der Geschichtenträger und Gebärdenspäher, von denen es an dem Hofe von Liliput wimmelt. Der Held des Werther mußte sich eben nur den neuen Namen gefallen lassen; im übrigen konnte er Legationssekretär bleiben, wie es der Dichter war, während die Ge 95schichte spielte; Excellenz Goethe hatte sich zuvörderst in »einen reichen Baron Eduard« zu verwandeln »im besten Mannesalter«, d. h. sich nebenbei um circa fünfundzwanzig Jahre zu verjüngen. Aber diese Maske wäre noch viel zu durchsichtig gewesen. So denn modeln wir auch an dem inneren Menschen, bis Baron Eduard kaum noch hier und da in einem Zug an Excellenz Goethe erinnert: etwa in seiner Leidenschaftlichkeit, seinem flüssigen Temperament; aber sonst ein ganz anderer ist: unbesonnen, wankelmütig (außer in seiner Leidenschaft), dilettantisch, niemals geneigt und auch nicht im stande, die Folgen seiner Handlungen zu überschlagen – mit einem Worte: in allem so ziemlich das Gegenteil des von der Welt gekannten und leibhaftig vor seinen Lesern dahinwandelnden Dichters.

Nicht annähernd so einschneidend waren die Veränderungen, die er an dem Modell vorzunehmen hatte, das ihm zu seiner Heldin saß. Denn in Wahrheit ist Ottilie die Heldin der Wahlverwandtschaften. Möglich, daß Goethe, wie von einigen Forschern behauptet wird, sich schon länger mit dem Stoff der Wahlverwandtschaften getragen hatte; aber als er den Roman in Angriff nahm, war zweifellos die Gestalt von Minchen Herzlieb der Punkt, um den sich alles krystallisierte; seine Leidenschaft zu ihr, die keusche, aber innige Liebe, mit der diese Leidenschaft von ihrer Seite erwidert wurde, das wirkliche Thema; und das Werk sollte das hohe Lied dieser wechselseitigen Liebe sein, (wobei ja dann Wunsch und Hoffnung, sich, nach alter Gepflogenheit, durch das Lied mit seiner Liebe abzufinden, bei dem Dichter nicht ausgeschlossen sind). So tritt denn auch, je mehr der Roman fortschreitet, Ottilie immer deutlicher in den Vordergrund, bis es sich schließlich in tieferem Sinne einzig um sie handelt; Eduard nur noch der von der untergehenden 96 Sonne beleuchtete Mond ist, verlöschend, sobald das lichtspendende Gestirn verschwindet; Charlotte und der Hauptmann völlig in den zweiten Plan treten, während die übrigen Personen bleiben, was sie von Anfang an waren: utilités, an die sich der Dichter nur erinnert und die er aus der Coulisse hervorzieht, wenn es mit der Handlung auf der Bühne nicht mehr so recht vom Fleck will. Ja, es fragt sich, ob er, hätte er seinen Roman frank und frei »Ottilie« genannt, nicht ohne den sinnreichen Einfall der Wahlverwandtschaften ausgekommen und besser ausgekommen wäre; will sagen: ein einheitlicheres, straffer komponiertes Dichtwert geschaffen haben würde.

Aber diesem kritischen Punkt werden wir später noch genauere Aufmerksamkeit schenken müssen. Jedenfalls: ist Ottilie zweifellos die Heldin des Romans und ebenso Minchen Herzlieb das Modell für Ottilie, so lag die Sache hier für den Dichter sehr viel einfacher, als bei Eduard, wenngleich das Mädchen aus bürgerlichen Kreisen sich zuvörderst in ein Edelfräulein zu verwandeln hatte. Dafür blieb die Armut; und die abhängige Stellung, in welcher Minchen Herzlieb in dem Frommannschen Hause in Jena lebte, entspricht so ziemlich der, die der Dichter Ottilien in dem Baronenschlosse angewiesen hat. So brauchte er auch ihr Alter nicht zu ändern, und es scheint, daß die körperlichen und seelischen Eigenschaften des lebenden Modells ziemlich getreu auf die erdichtete Gestalt übertragen sind. Glauben wir nicht die Ottilie der Wahlverwandtschaften vor uns zu sehen, wenn Luise Seidler, eine Jugendfreundin, Minchen Herzlieb folgendermaßen schildert: »Sie war die lieblichste aller jungfräulichen Rosen, mit kindlichen Zügen, großen, dunklen Augen, die mehr sanft und freundlich als feurig, jeden herzig unschuldvoll anblickten und bezaubern 97 mußten. Die Flechten glänzend rabenschwarz; das anmutige Gesicht vom warmen Hauche eines frischen Kolorits belebt; die Gestalt schlank und biegsam, vom schönsten Ebenmaß, edel und graziös in allen Bewegungen. Ihr Anzug war stets einfach, aber geschmackvoll; sie liebte schlichte weiße Kleider« Frauenbilder aus der neueren deutschen Literaturgeschichte. Von Otto Berdrow. S. 110. Stuttgart bei Greiner & Pfeiffer. 1895.. Und spricht nicht Ottiliens schöne Seele aus den Zeilen, die Minchen nach einem fürchterlichen Tage der französischen Occupation Jenas, als das Frommannsche Haus neben der eigenen eine ganze Schar fremder Kinder beherbergt hatte, an eine auswärtige Vertraute schrieb: »Du glaubst nicht, wie sehr man beruhigt wurde, wenn man den herrlichen Kindern so in ihr fröhliches Spiel hineinsah … sie waren unbeschreiblich rührend in ihrer Unschuld. Nie dacht' ich in der Gefahr an etwas anderes als die Kinder. Dreifachen Tod will ich leiden, wenn ich nur Kinder retten kann. Ich glaube nicht, daß es etwas auf der Welt giebt, was mehr verdient, geliebt zu werden als die Kinder« Ibid. S. 106.. Und packt uns nicht ein Grausen vor der dämonischen Divinationsgabe des Dichters, der seiner Ottilie höchst abnorme, den Leser befremdende physische und psychische Qualitäten zuschrieb zu einer Zeit, welche noch über ein halbes Jahrhundert getrennt war von dem Tage, an welchem Minchen Herzlieb in einer Heilanstalt für Gemütskranke starb?

*

Im allgemeinen liegt für Romane die Modellfrage selten so klar, wie im Fall der Wahlverwandtschaften, oder gar des Werther, wo wenigstens die zunächst Beteiligten das wirkliche Verhältnis sofort durchschauten. Die Regel 98 wird sein, daß, falls das Dunkel überhaupt aufgeklärt wird, die Zeit das Geschäft übernimmt, mit Hilfe der Gelehrten, welche, da nun der Ruhm des Dichters stabiliert scheint, keine Mühe scheuen, über sein Erdenwallen ein möglichst helles Licht zu breiten. Bei neuen Schöpfungen versagen vor der Hand selbstverständlich alle diese Hilfen; und so wird man nur in ganz seltenen Ausnahmefällen sagen, ja nur Vermutungen darüber anstellen können, wie der Dichter zu seinem Stoffe kam und welche existierende Wesen ihm zu Modellen dienten. Das ist um so begreiflicher, als der Dichter fast immer sehr triftige Gründe haben dürfte, sein Geheimnis zu bewahren. Lauert doch hier der Skandal! Ist doch selbst die Einmischung des Strafrichters in besonders erschwerenden Fällen nicht ausgeschlossen!

Nun ist es für mich ein feststehendes, durch die gleichlautenden Aussagen von Kunstgenossen bestätigtes Resultat eigenster Erfahrung, daß kein Dichter sich den Stoff zu seinen Romanen sozusagen aus den Fingern saugt, sondern er ihn entweder in der Hauptsache selbst erlebt hat; oder doch ein wirkliches Geschehnis vorliegt, das ihm von jemand, der dem Geschehnis nahe stand, mitgeteilt wurde und sein Interesse in der nötigen Lebhaftigkeit entfachte. Ich meine: lebhaft genug, um sein Mitgefühl zu erregen, seine Phantasie in Thätigkeit zu setzen, bis er sich den ihm ursprünglich fremden Stoff völlig zu eigen gemacht, als habe er mitten in der Aktion gestanden, die Personen sämtlich gekannt in Freud und Leid; als sei das Geschehnis ein persönlich erlebtes. Nehmen wir an: Fontane kam auf diesem Wege zu dem Stoff von Effi Briest. Ist es der Fall, so hat er vermutlich nicht einmal viel daran gemodelt, sondern im ganzen die Sache genommen, wie sie ihm zugetragen wurde. Was auch wäre an dem Stoff groß zu modeln gewesen? 99 Er ist so einfach! in wenigen Zeilen zu erschöpfen! Ein höherer adliger Beamter, der über »das beste Mannesalter« Vielleicht schon ein wenig hinaus ist, heiratet ein blutjunges Mädchen, ebenfalls von Adel; und beginnt mit ihr eine Ehe, in der sie sich, trotzdem bald ein Kind geboren wird, nicht befriedigt und glücklich fühlt. Sie läßt sich in ein sträfliches Verhältnis mit einem Hausfreunde ein, nicht aus leidenschaftlicher Liebe, sondern par dépit. Ein Zufall bringt sechs Jahre später – nachdem sie sich längst aus jener Verwirrung gerettet hat – die Entdeckung. Der Ehegatte erschießt den Verführer im Duell; läßt sich von der jungen Frau scheiden, die zu ihren Eltern zurückkehrt, um wenig später zu sterben, nicht an dem sogenannten gebrochenen Herzen, sondern ganz normal an einem Lungenleiden, zu dem sie schon seit Jahren den Keim in sich getragen, wenn auch immerhin der letale Ausgang durch ihr trauriges Geschick beschleunigt ist.

Einen so einfachen Stoff läßt man eben liegen, oder nimmt ihn, wie man ihn findet. Freilich nicht, ohne die obligaten, durch die Diskretion gebotenen Veränderungen mit ihm vorzunehmen, zu denen zu gehören pflegt, daß man das Geschehnis auf einem andern Lokal spielen läßt; die Lebensstellung der handelnden Personen transponiert, sagen wir: einen Offizier in einen Beamten verwandelt, oder umgekehrt; etwa auch ein paar Figuren hinzukomponiert, welche die wirkliche Geschichte nicht kennt; und was desgleichen mehr ist, womit man der Neugier des lieben Publikums ein X für ein U macht.

Aber an Effi selbst, höre ich den Leser sagen, hat der Dichter doch schwerlich gemodelt; die hat er doch gelassen in ihrer holden Natur, wie er sie fand! Zweifellos: wie sie fand – mit den unerläßlichen dichterischen Zuthaten 100 selbstverständlich. Nur in der wirklichen Geschichte brauchte er sie just nicht gefunden zu haben. Sondern irgendwo anders auf seinem Lebenswege – in den Laubgängen eines stillen pommerschen oder märkischen Gutsgartens; zwischen den Prunkmöbeln eines plappernden Berliner Salons – irgendwo! irgendwo! Das Blümlein Wunderhold! Und hat es säuberlich ausgegraben mit allen seinen zarten Wurzeln und in sein Werk verpflanzt, das es nun für immer mit seinem wonnigen Duft erfüllen wird.

Ein wie großer Vorteil dem Dichter aus dieser Simplicität seines Stoffes erwuchs, werden wir später noch deutlicher sehen; vorläufig kehren wir zu den Wahlverwandtschaften zurück.

*

Auch hier, bemerkten wir, lag der Stoff ursprünglich einfach genug; nur daß der Dichter, um ihn überhaupt behandeln zu können, das wirkliche Verhältnis zwischen sich und dem geliebten Mädchen sofort auf eine andre Basis stellen mußte. Er begnügte sich damit nicht. Aus der Gattin des Liebenden des ersten Paares und dessen bestem Freunde komponierte er ein zweites Paar: eine partie carrée also, in der er eine Doppelliebe – gewissermaßen über Kreuz – entzündete: Eduards, an seiner Frau vorbei, zu Ottilien; Charlottens, an ihrem Gatten vorbei, zum Hauptmann; des Hauptmanns zu Charlotte, Ottiliens zu Eduard.

Worauf der Dichter mit diesem Arrangement abzielte, ist klar. Die dämonische Gewalt der Wahlverwandtschaft an einem Menschenpaare nachzuweisen, erschien ihm als eine zu simple Aufgabe, ganz abgesehen davon, daß, beschränkte er sich (wie beim Werther) auf den Fall seiner individuellen Erfahrung, er, trotz der mit sich selbst vorge 101nommenen Metamorphose, den Spähern die Sache doch gar zu leicht gemacht hätte. Nun aber, durch Hinzufügung des zweiten Paares, gewann sie eine ganz andere Gestalt, oder schien sie doch zu gewinnen. Das einzelne Beispiel hätte eine so große Beweiskraft kaum gehabt; aus dem Doppelfall ließ sich zur Not ein Gesetz konstruieren: eben das der Wahlverwandtschaften. Weiter: um das Gesetz möglichst klar herauszustellen, seine Gewalt möglichst deutlich zu illustrieren, mußten die Individuen, an denen es nachgewiesen werden sollte, mit besonderen Qualitäten ausgestattet sein. Denken wir uns jene vier Personen alle im jugendlichen Alter: ein junges, unerfahrenes Ehepaar, einen Hausfreund im Anfang der Zwanziger, eine Anverwandte im Hause, die eben zur Jungfrau herangeblüht ist, und lassen im übrigen die Anziehungskräfte hinüber und herüber und über Kreuz wirken, wie im Roman – der Leser weiß längst, »daß Jugend keine Tugend hat«, und würde den alten Erfahrungssatz nur durch ein Beispiel mehr bestätigt finden. Aber, mit Ausnahme von Ottilien, sind diese Menschen nach gewöhnlichem Dafürhalten über das Alter der ungezügelten Leidenschaften hinaus: Eduard und Charlotte beide schon einmal verheiratet gewesen; der Hauptmann freilich Junggesell, aber ein Mann der reifsten Welt- und Menschenerfahrung; überdies, nach Ausweis der von dem Engländer erzählten Novelle, der Held mindestens eines höchst merkwürdigen Liebesabenteuers, und dann vermutlich mehrerer der Art. Ottiliens Jugend wiederum wird durch ihr tief innerliches, bis zur Schwermut verdunkeltes Wesen völlig kompensiert. Wie denn von Frivolität auch bei den andern keine Rede sein kann; selbst nicht bei Eduard, dessen leicht beweglicher Sinn ihn nicht verhindert, ein moralisch reinlicher Mensch zu sein, mit instinktivem Widerwillen gegen 102 das Gemeine. Während sich die Sauberkeit des Fühlens und Denkens bei Charlotte und dem Hauptmann so steigert, daß man schon von Pedanterie reden, ein Weltkind sogar von Tugendboldigkeit munkeln möchte. Wie muß das Feuer der Leidenschaft angeschürt werden, bis es so widerstandsfähige Objekte zum Schmelzen bringt!

Nun läßt es der Dichter an dem Entfachen dieses Feuers wahrlich nicht fehlen, soweit es sich um Eduard und Ottilie handelt. Wüßte ich doch, außer Romeo und Julie, kein dichterisches Beispiel, in welchem die elementarische Gewalt der Leidenschaft mit solcher überzeugenden Kraft zum Ausdruck gebracht wäre. Aber zweifellos war dies der leichtere Teil der Aufgabe; der andre, den Leser von der unwiderstehlichen Wechselleidenschaft Charlottens und des Hauptmanns zu überzeugen, bot viel größere Schwierigkeiten. Und hier will mir scheinen, als habe der Dichter es sich zu leicht gemacht. Nicht, daß wir nicht deutlich sähen, wie den beiden die Liebe kommt; nicht, daß wir nicht in den Kampf, den sie gegen diese Liebe kämpfen, hinreichend eingeweiht würden, um den Kämpfern einen gewissen Grad von Teilnahme zuzuwenden; nur eben hoch kann dieser Grad nicht sein. So wenig wie für jemand, der vor unsern Augen ins Wasser stürzt, und bei dem wir sofort sehen, daß er, als ein rüstiger Schwimmer, ohne sonderliche Mühe das rettende Ufer erreichen wird. Werden aber in der Dichtung die Menschen unschwer mit sich selber fertig, wird es auch der Leser mit ihnen und spart sein Interesse für die Unfertigen, die Ringenden auf: hier für Eduard und Ottilie. Die dann auch wirklich, wie schon bemerkt, zuletzt allein auf dem Plane bleiben, als sollten sie den Beweis führen für meine Behauptung, daß sie es sind, um die es sich in Wahrheit von vornherein allein gehandelt hat; und der 103 Dichter sich die ganze mühselige Erfindung von den Wahlverwandtschaften, so geistvoll sie ist, getrost hätte sparen können. Wer fragt noch, wenn Eduard neben Ottilie in der Kapelle beigesetzt ist, nach Charlotte und dem Hauptmann, und was aus ihnen geworden? Thut es doch nicht einmal der Dichter. Ihm war Eduard und Ottiliens Liebe das A und O. Beim Auskehren findet es sich, sagt das Sprichwort. Am Schluß erst findet sich oft bei Dichtungen, worauf der Autor von Anfang an hinaus wollte.

*

Dem Dichter von Effi Briest ist es nicht beigekommen, seinen einfachen Plan durch eine sinnreiche Wahlverwandtschafts- oder andere Konstruktion zu erweitern und – aus den Fugen zu bringen. Trotzdem die Versuchung dazu doch nahe genug zu liegen scheint. Da war die Gattin des Verführers. Warum ihr in dem Spiel nicht eine thätige, eingreifende Rolle anweisen? Davor aber hütet er sich weislich: die Dame erscheint nicht ein einziges Mal, und wäre es noch so flüchtig, auf der Bildfläche. Auf der in ganzer Figur und hellster Beleuchtung, streng genommen, nur Effi steht, während alle andern Personen sich mit einer mehr oder weniger skizzenhaften Darstellung begnügen müssen, die freilich so musterhaft ist, daß wir von einer jeden die lebhafteste Vorstellung erhalten: von den Eltern, den Jugendfreundinnen; den Herrschaften, die der jungen Frau während des ersten Jahres ihrer Ehe und später begegnen; ihren Dienstboten u. s. w. Die Skizze des Gatten ist weiter ausgeführt; nicht eben viel. In sein Inneres wird uns kaum je ein spärlicher Blick vergönnt, bis er dann allerdings in und nach der Katastrophe, wo es freilich unerläßlich wurde, uns über seinen Seelenzustand die gewünschte 104 Auskunft giebt. Dagegen bringen wir es mit dem Liebhaber nie zu einem vertraulichen Wort, so wenig wie mit dem Hauptmann der Wahlverwandtschaften, der uns auch nie mit ihm intim werden läßt, selbst in Augenblicken, wo wir ein entschiedenes Anrecht daran hätten, z. B. nach der kritischen Scene, in welcher er und Charlotte sich ihre Liebe gestehen.

Alles Licht ist auf Effi konzentriert, die denn auch kaum einmal, und immer nur auf kurze Zeit von der Bühne entschwindet. Dafür ist nun ihre Gestalt mit unübertrefflicher Plastik und Klarheit vor uns hingestellt. Wir erfahren – ohne den Apparat von Institutsvorsteherinnen- und Gehilfen-Briefen – ganz genau, wie sie erzogen, in welchem Milieu sie aufgewachsen ist; wir kennen die Siebzehnjährige, wenn sie in die Ehe tritt, als wäre sie unser leiblich Kind; wir dürfen ihre Weiterentwickelung Schritt für Schritt verfolgen, nur daß eigentlich von einer Entwickelung nicht wohl die Rede sein kann, und sie zum Schluß dasselbe holde, anmutige, kapriciöse, liebenswürdige, keineswegs geistlose, aber gewiß auch nicht geistreiche Geschöpf geblieben ist, das sie bei ihrem ersten Auftreten war, wenn auch natürlich das ausgestandene Leid in das entzückende Bild einige dunklere Töne gebracht hat.

Vielleicht, daß mancher Leser wünscht, der Dichter wäre in der Darstellung der Liebesaffaire ausführlicher, weniger diskret gewesen; und sich beklagt, er wisse jetzt nicht, wie weit sich denn eigentlich die Unglückliche verschuldet. Ich teile diesen Wunsch und diese Klage nicht, bin vielmehr dem Dichter dankbar für den Schleier, den er über die traurige Episode breitete. Nicht aus Prüderie. Wo es die Sache verlangt, wie in den Wahlverwandtschaften, soll der Dichter auch an das Verfänglichste dreist herantreten und 105 es frank und frei darstellen, wie alles andre. Aber hier verlangt es die Sache nicht. Wir wissen ohnedies sehr wohl, was geschehen ist, welche Schuld Effi auf sich geladen hat. Und wer sich aus ihrem nachträglichen Seelenzustand, ihrer Angst vor Entdeckung, ihrem Ekel bei der Erinnerung des Geschehenen die Höhe ihrer Schuld noch immer nicht herausrechnen kann, dem wird sie klar werden bei dem Benehmen des Gatten nach der Entdeckung. Um einer bloßen Flirtation willen – besonders, wenn sie sechs Jahre zurückliegt und die Betreffende seitdem auch nicht den kleinsten Schritt vom Wege gewichen ist – fühlt auch ein so korrekter Mann, wie Instetten, sich nicht so beleidigt, daß er den ehemaligen Rivalen fordern und totschießen muß.

Und beachten wir auch dies! Dem älteren Dichter erlaubte das leidenschaftliche Interesse, welches er an seiner Heldin nahm, nicht, die wirkliche Gestalt zu lassen, wie er sie fand. Es drängte ihn, ihren bereits hohen sittlichen Wert noch zu steigern; ihr Eigenschaften, psychische und physische, beizulegen, die sie zu einem Wesen ganz eigner Art, zu einem Unikum machen, dessen Empfindungsweise, schon immer mühsam zu ergründen, zuletzt inkommensurabel wird. Nur die schwerere Atmosphäre des Romans verhindert, daß sie schließlich nicht, wie das Gretchen im Faust, in den Himmel entschwebt, dessen Pforten der Dichter in seinem bewegten Herzen doch schon geöffnet sieht.

Der neuere Dichter hat sicher nicht mit geringerer Liebe an seinem Gebilde geschafft, aber er läßt sie ein Erdenkind mit dem obligaten peinlichen Erdenrest. Goethe, gegenüber seiner Ottilie, ist wie der Wotan der Wagnerschen Nibelungen, der sein geliebtes Kind lieber tot geküßt, als zur wabernden Lohe verurteilt hätte; Fontane bleibt für seine Effi der Zeus, dessen Stirn sich wohl umwölken mag, wenn die 106 Schale eines Lieblings zu Boden sinkt, dessen wägende Hände aber deshalb nicht zittern. Ach! und Effis Schuld ist so gering! Ein halbes Kind, von gedankenlosen Eltern einem älteren Manne ausgeliefert, den sie nicht lieben kann, vor dem sie sich einfach fürchtet! Aber es ist des Schicksals Schluß, daß es nun so kommen mußte, wie es kam. Gegen das Schicksal vermag Zeus so wenig, wie – der realistische Dichter gegen den Lauf der Welt.

Diese Resignation läßt ihn denn freilich viel kühler und, wenn man so will, nüchterner und prosaischer erscheinen, als den älteren, der seiner Lust, zu konstruieren und zu fabulieren, nicht widerstehen kann, auf die Gefahr hin, daß sie ihn irrlichterierend auf unsicheres Terrain lockt, in welchem seine schöne Geschichte zu versumpfen droht.

*

Ein solches gefährliches Fabulierungsirrlicht ist in den Wahlverwandtschaften das Kind, welches der berühmten Nacht des doppelten Ehebruchs entstammt und mit seinen schwarzen Augen, aus denen Ottilie blickt, und seiner Gesichtsbildung, die der des Hauptmanns gleicht, seine sträfliche Provenienz nicht verleugnen kann – ein seltsames Naturspiel, von dem der schalkhafte Horaz sagen würde: Credat Judaeus Apella! Dies Unglückskind hat in der Geschichte eine lange Reihe von Missionen. Zuerst die Konstatierung der obigen leidigen Thatsache. Sodann – in peinlichem Widerspruch mit dieser – in Charlotten die Hoffnung einer Wiedervereinigung mit ihrem Gatten zu nähren. Weiter, in Ottilien den Entschluß der Resignation zu festigen. Schließlich, durch seinen Tod, dessen Schuld sich Ottilie zuschreibt, die Katastrophe heraufzuführen.

Man wird das Sinnreiche dieser Konstruktion nicht in 107 Abrede stellen, nur daß sie leider ein wenig sehr kostspielig ist. Denn das Kind will, wie andere Kinder, die gemessene Zeit unter dem Herzen der Mutter dem Licht entgegenreifen; und so tritt an den Dichter die heikle Aufgabe heran, diese, für eine auf raschen, unaufhaltsamen Fortschritt naturgemäß drängende Geschichte schier unendliche Frist auszufüllen. Er macht sich an die Aufgabe mit Aufgebot seiner ganzen üppig reichen Erfindungsgabe, ohne doch verhindern zu können, daß der Leser die Absicht merkt und verstimmt wird. Aber, wie sollte er sie nicht merken, da die Geschichte schlechterdings nicht vom Fleck rückt? Und er sich sagen muß, daß der träumerische schlanke Architekt, der in rührender Bescheidenheit Ottilien liebt; der Instituts-Gehilfe, der sich schon kecker um sie bewirbt; Luciane mit der wilden Jagd, die sie entfesselt, – alle diese lebensvollen Gestalten, diese entzückenden dissolving views nichts weiter wollen als ihn über diese Lücke wegtäuschen; ihn möglichst angenehm unterhalten, bis das Kind sich so weit entwickelt hat, um von Ottilien auf den verhängnisvollen Spaziergang mitgenommen zu werden und – zu sterben?

*

Auch der moderne Dichter bedarf für seine Zwecke eines längeren Zeitraumes, eines viel längeren sogar als der ältere; aber ihm genügen, um über den Hiatus wegzukommen, weniger Worte als jener Seiten brauchte: »Effi nahm die Erbfolgefrage leicht; als aber eine lange, lange Zeit – sie waren schon im siebenten Jahre in ihrer neuen Wohnung – vergangen war, wurde der alte Rummschüttel, der auf dem Gebiete der Gynäkologie u. s. w.« – Kann ein größeres Hindernis mit geringerer Anstrengung beseitigt werden?

108 Denn ein Hindernis – im ästhetischen Sinne – bleibt eine derartige Zeitkluft immer, auch wenn sie, wie hier, übersprungen wird. Aber der Dichter mußte sich wohl oder übel zu diesem Salto verstehen. Weshalb? Weil – ich spreche hier allerdings nur eine Vermutung aus – auch er, wie sein älterer Kollege, ein ursprünglich einfaches Problem aus diesem oder jenem Grunde komplizieren zu sollen glaubte. Das ursprüngliche Problem – immer als Vermutung ausgesprochen – lag vielleicht so: Wie stellt sich ein Ehemann von den und den intellektuellen, sittlichen und sonstigen Qualitäten zu dem Ehebruch seiner Frau, den er entdeckt, als das Delikt sozusagen noch frisch ist? In Effi lautet es: Was beschließt und thut dieser Mann, wenn Jahre darüber vergangen sind? er sich nicht gewissermaßen im Stande der Notwehr befindet; aus dem erklärlichen augenblicklichen Effekt handelt; vielmehr nur noch seine verletzte Ehre – wie er und seine Standesgenossen sie verstehen – rächen will ohne leidenschaftliche Wallungen seinerseits, mit ruhiger Überlegung aller einschlägigen Momente? Und wie reagiert eine Frau von Effis Temperament und Charakter auf solche Entschlüsse und Thathandlungen eines solchen Mannes?

Unzweifelhaft ist das zweite, weitere Problem das interessantere; aber auch in der Kunst wird uns kein Adler geschenkt.

Übrigens dürfte für meine scheinbar so gewagte Vermutung: der Dichter sei in diesem Punkte von der brüsken Einfachheit der eigenen oder fremden Erfahrung abgewichen, ein Umstand sprechen, der merkwürdig genug ist, um eine besondere Erörterung zu verdienen.

In Effi wird die Katastrophe dadurch herbeigeführt, daß ein Zufall dem ahnungslosen Gatten Briefe in die Hände 109 spielt, aus denen die einstmalige Untreue der Gattin mit Evidenz hervorgeht. Nun ist ein solcher Zufall bei wirklichen Geschehnissen der Art keine Seltenheit. Es kommt auch vor, daß der Gatte Böses ahnt und nicht erst auf einen Zufall wartet, sondern sich mit List oder Gewalt in den Besitz der verhängnisvollen Dokumente setzt. Aber, so oder so, es pflegt dabei mit rechten, ich meine natürlichen und begreiflichen Dingen zuzugehen. Wenig natürlich und schier unbegreiflich erscheint, was im Roman daraus geworden. Hier müssen die Dienstboten den Nähtisch der verreisten Herrin gewaltsam erbrechen, damit nachher der Gatte unter den achtlos herausgerissenen und verstreuten Sachen (die Leute suchen nach einer Binde für das verletzte Kind) die ominösen Briefe findet. Schon der ganze aufgebotene Apparat ist umständlich und unwahrscheinlich; brave Dienstboten, wie diese, erbrechen nicht einen von der Herrin bei ihrer Abreise verschlossenen Kasten, wenn sie sich noch dazu, wie sich alsbald herausstellt, anderweitig so leicht zu helfen wissen. Das ist nebensächlich. Der gravierende Hauptpunkt ist: eine Frau, der, wie Effi, die Erinnerung ihrer schwachen Stunden so peinlich ist, die so sorgfältig sich bemüht, jede Spur, die zur Entdeckung führen könnte, zu verwischen, beständig von der Angst gefoltert wird, diese Entdeckung könnte doch noch einmal stattfinden – eine solche Frau beschwört, wenn die Trennung beschlossen, den Liebhaber bei seiner Ehre und allem, was ihm heilig, jeden letzten Fetzen der Briefe, die sie ihm geschrieben, zu vernichten, und vernichtet selbst die, welche er ihr geschrieben, bis auf den letzten Fetzen. Diese Briefe, als gebe es keine Öfen und Kamine – wie eine frivole Freundin Effis später sehr richtig bemerkt – säuberlich geschichtet, mit einem roten Bande umwunden, aufzubewahren durch alle diese Jahre in 110 einem so verräterischen Behälter noch dazu, wie ein Nähtischchen ist – das widerspricht der Wahrscheinlichkeit auf das äußerste; ist ein Notbehelf des Dichters, der seine – ich wiederhole es jetzt mit größerer Zuversicht – sieben Jahre lang hinausgezögerte Katastrophe nicht anders herbeizuführen wußte.

*

Gelingt so dem realistischen Dichter nicht völlig die überzeugende Darstellung eines Ereignisses, welches ein Angelpunkt seiner Geschichte genannt werden muß, dürfen seine Anhänger freilich des idealistischen nicht spotten, wenn ihm, von dem man nicht verlangt, daß er es mit der Wahrscheinlichkeit so genau nimmt, in demselben Falle ein noch viel größeres Unglück begegnet. Ich erinnere mich freilich nicht, gehört oder gelesen zu haben, daß irgend jemand zu behaupten gewagt: es reihe sich in der berühmten Relation, die Goethe von den Umständen giebt, unter welchen Charlottes Kind ertrinkt XV. S. 271. Siehe auch die vorhergehenden und folgenden. – Ich citiere hier, wie überall, nach der Cottaschen Ausgabe in 40 Bänden, die dem Leser am bequemsten zur Hand sein dürfte., eine Unwahrscheinlichkeit, ja, Unmöglichkeit an die andre. Und doch ist es so, wie blasphemisch es den Ohren der Goetheschwärmer klingen mag.

Schon daß Ottilie »Zeit und Stunde« und »den weiten Rückweg«, den sie nach dem neuen Gebäude hat, über ihrer Lektüre vergißt, während man sich das zarte Kind neben ihr liegend denken soll – wie man annehmen muß: auf einem über den Rasen gebreiteten Deckchen zwischen den »Bäumen und Sträuchen« hart am Rande des um diese Abendstunde Feuchtigkeit atmenden Sees – will mir mit der nachdenklichen Sorgsamkeit, die sie auszeichnet, und der Zärtlichkeit, 111 mit der sie das ihr anvertraute Geschöpfchen liebt, nicht wohl vereinbar erscheinen.

Nun kommt Eduard. Das Unerwartete seines Auftretens, die Wonne, den Geliebten endlich wiederzuhaben, die ungeheure Entscheidung, die über ihnen schwebt – das alles ist ja gewiß geeignet, ihren Geist zu verwirren, das Ende der Unterredung hinauszuzögern, bis »die Sonne untergegangen und es um den See schon dämmert und feucht duftet«. Aber Eduard, wie sie ihn, den der Major im Dorf erwartet, jetzt fortdrängt, sollte sich hier nicht um den Heimweg der Geliebten sorgen, während es doch bereits dunkelt und er sich sagen muß, daß die Nacht hereinbrechen wird, bevor sie auf dem »weiten Rückweg« das Haus erreicht? Nicht selbst auf den Einfall kommen, auf den Ottilie dann sofort gerät: die Heimkehr durch die Bootfahrt abzukürzen? sich nicht anbieten, sie überzusetzen? oder, wenn er fürchtet, von dem Gebäude droben mit ihr zusammen gesehen zu werden, ihr dann mit dem Kinde nicht wenigstens in das Boot helfen u. s. w.? Sondern davonstürzen, ohne sich, bevor er in den Büschen, unter den Bäumen verschwindet, auch nur umzusehen, als wäre alles in bester Ordnung, als hätte er die Geliebte nicht in der bedenklichsten Situation allein gelassen?

Nichts von alledem. Er eilt davon; Ottilie ist allein. »Sie eilt nach dem Kahn, sie fühlt nicht, daß ihr Herz pocht, und ihre Füße schwanken, daß ihr die Sinne zu vergehen drohen.«

Das möchte ja sein, wenn es sich nur um sie handelte; sie nicht das geliebte, hilflose Geschöpf im Arm hielte! Trotzdem:

»Sie springt in den Kahn, ergreift das Ruder und stößt ab. Sie muß Gewalt brauchen; sie wiederholt den 112 Stoß, der Kahn schwankt und gleitet eine Strecke seewärts. Auf dem linken Arm das Kind, in der linken Hand das Buch, in der rechten das Ruder.« –

Mir scheint: fast so viele Unwahrscheinlichkeiten, wie Worte. Wie aufgeregt Ottilie auch ist – die Sinne mußten ihr doch nicht nur zu vergehen drohen; sie müßte doch völlig von Sinnen sein, um mit dem Kinde auf dem Arm (in dessen Hand sie noch das Buch hält) in den Kahn zu »springen«. Und während sie den Kahn von der Kette oder dem Strick löst, mit der oder mit dem es an dem Landungsbrückchen befestigt gewesen, sollte sie nicht so weit zur Besinnung kommen, um einzusehen, daß es in dieser Weise nicht weiter geht? sie erst einmal das Buch fallen lassen, das Kind im Boot in Sicherheit bringen müsse? Aber nein! sie stößt ab und, trotzdem sie »Gewalt brauchen muß«, erinnert sie sich noch immer nicht des Kindes auf ihrem Arm: »sie wiederholt den Stoß!« Und nun geschieht das Unvermeidliche: »sie schwankt und fällt in den Kahn. Das Ruder entfährt ihr, nach der einen Seite, und wie sie sich erhalten will, Kind und Buch nach der andern, alles ins Wasser.« Aber, wenn sie schon in den Kahn gefallen ist, was hat sie dann noch »sich erhalten zu wollen?« Und gesetzt auch, die Reihenfolge der Vorgänge ist nur etwas durcheinandergewirrt und das Unglück mit dem Ruder und dem Kinde passiert, während sie, in der Anstrengung, »sich zu erhalten«, schwankt, einen Moment bevor, oder in demselben Moment, in welchem auch sie fällt, nachdem sie noch eben des Kindes Gewand ergriffen – ein junges elastisches Mädchen ist doch keine unbehilfliche Matrone; das schnellt doch, unverletzt, wie sie selber ist, mag sie so »unbequem« liegen, wie sie will, im Nu empor. Doch nein! »Die freie rechte Hand ist nicht hinreichend, sich umzuwinden (sic!), sich aufzurichten; 113 endlich gelingt's« – Endlich! Will sagen: nachdem das arme Kind, das nun einmal durchaus ertrinken sollte und mußte, ertrunken ist. Ob der Kahn nur mit einem, oder zwei Rudern ausgestattet, ein Flach- oder Kielboot, an einer Landungsbrücke befestigt, oder auf das Ufer hinaufgeschoben und von diesem in den See zu schieben war, ist nicht wohl zu entscheiden, außer von jemand, der die betreffenden Hindeutung und Auskunft gebenden Stellen auf den Seiten 63, 78, 102, 103, 106, 120, 121, 236 der Wahlverwandtschaften genau studiert hat. Vergl. auch S. 270, wo ausdrücklich gesagt wird: »Sie will nach dem Kahn« (nämlich dem von mir vermuteten zweirudrigen) und nicht, wie nach S. 236 möglich wäre: nach den Kähnen, unter denen sich ja dann ein einrudriger Flachkahn befunden haben möchte.

Was soll ich mich bei den weiteren Unwahrscheinlichkeiten aufhalten: daß der Kahn, unmittelbar nachdem sie das Kind aus dem Wasser gezogen, – wozu sie, mag sie es noch so ungeschickt angefangen haben, keine Minute gebraucht haben kann, – »fast in der Mitte des Sees treibt« – eines Sees, der, aus drei Teichen zusammengesetzt, doch von einigermaßen beträchtlichem Umfang zu denken ist; eines Sees, den baum- und buschbedeckte Hügel und Felsen, dem Abendwinde wehrend, rings einschließen; und auf dessen Fläche er denn auch richtig bald darauf wieder »unbeweglich steht!«

Sonderbar, daß noch niemand die Bemerkung gemacht hat, wie unsicher der auf dem Lande so sichre Goethe jedesmal wird, wenn er aufs Wasser kommt! Oder wie sehr er seinen Genuß der Odyssee herabgemindert haben muß, daß ihm Homers ἔργα ϑαλάσσης ein Buch mit sieben Siegeln waren!

Das unglückselige Kind! Es hätte besser nicht gelebt. Aber muß es wirklich erst sterben, damit Charlotte, die uns als so feinfühlig geschildert wird, zu der Einsicht gelangt, daß sie zu der Scheidung, in die sie jetzt willigt, »sich schon früher hätte entschließen sollen?« Und der Dichter erst jetzt 113 die Bemerkung machen kann: »allein, wie war es zu verkennen, daß beide Frauen, mit allem guten Willen, mit aller Vernunft, mit aller Anstrengung, sich in einer peinlichen Lage nebeneinander befanden,« – als ob diese Pein nicht von dem Moment datierte, da Ottilie wußte, daß sie Eduard liebte und ihr Herzenszustand für Charlotte kein Geheimnis war!

Die Sache ist: diesen peinlichen Unwahrscheinlichkeiten hatte der Dichter nun schon so weit Raum gegeben, daß er sie gar nicht mehr zu bemerken scheint. Oder wie soll man es anders nennen, wenn er Ottilie, sobald sie nach dem Ertrinken des Kindes das Haus betreten, in Ohnmacht fallen, aus der Ohnmacht in einen halbwachen Schlaf hinübergleiten und in diesem Zustande, wenn auch an Charlottens Knie gelehnt, die Nacht verbringen läßt, bis »der Morgen dämmert und das Licht erlischt?« Dabei wird ausdrücklich bemerkt, daß ein Arzt zugegen ist, – wenigstens im Anfang, – ein »erfahrener, kunstreicher, kluger Mann.« Und der erfahrene, kunstreiche, kluge Mann und die doch gewiß erfahrene, kluge Charlotte verfallen nicht auf das Selbstverständliche: daß man das unglückliche Mädchen erst einmal aus seinen nassen Kleidern und ins Bett schaffen müsse! Dafür läßt sie – Charlotte – sich das tote Kind bringen, das nun neben ihr auf dem Sofa in einem Korbe liegt, »in warme wollene Tücher reinlich eingehüllt – nur das Gesicht ist frei.« Als ob sie nicht fürchten müßte, daß Ottilie jeden Augenblick erwachen kann und dann ihr erster Blick auf das tote Kind fällt! Und der Hauptmann, der nun dazu kommt, findet sich ohne weiteres in die unglaubliche Situation und führt, über die zwischen ihnen lehnende Ottilie hin, mit Charlotten jenes lange Gespräch, das für die Ärmste, die jedes Wort hört – was die beiden freilich 115 nicht wissen, aber doch wenigstens fürchten müßten – das Todesurteil ist!

*

Wie leicht wiegen auf der ästhetischen Wage im Vergleich mit solchen Unwahrscheinlichkeiten und Unmöglichkeiten die, welche sich um Effis Nähtisch gruppieren! Im Fabulieren und Konstruieren ist der ältere Dichter dem modernen über; dafür bleibt die so viel einfachere Geschichte des letzteren um ebensoviel klarer, übersichtlicher, logischer; die Charaktere seiner Personen erscheinen so viel konsequenter, verständlicher; ihre Handlungen in Übereinstimmung mit ihrem Temperament, ihrer Bildung, ihrer Lebensauffassung. Sehr, sehr selten, daß wir bei ihrem Thun und Lassen nicht recht wissen, wie wir es zu verstehen, zu deuten haben. Oder eigentlich ist mir in Effi Briest nur eine einzige derartige Dunkelheit ausgefallen.

Sie betrifft den famosen »Chinesen«; nicht seine allerdings völlig unaufgeklärte Geschichte, sondern die notwendig aufzuwerfende Frage, ob Instetten an den »Spuk« glaubt, oder nicht. Einmal versichert er es Effi gegenüber, wenn auch mit einer gewissen Einschränkung (S. 362): »Gewiß glaub' ich dran. Es giebt so was. Nur an das, was wir in Kessin davon hatten, glaub' ich nicht recht.« Dem aber widerspricht völlig, was uns der Autor selbst von dem Mann mitteilt (S. 27): »Er glaubte nicht an Zeichen und Ähnliches; im Gegenteil, wies alles Abergläubische weit zurück.« Wir müssen also annehmen, daß er in der ganzen Angelegenheit Komödie spielt. Dann aber zu welchem Zweck? Den doch möglichen Übermut der jungen Frau durch den »Spuk« zu dämpfen? sie durch die so erregte Furcht vor etwaigen Extravaganzen zu hüten? oder, wie Major Crampas – der Liebhaber – es ausdrückt, »erzieherisch zu 116 wirken?« Nur daß dies Mittel dann doch mindestens ein höchst sonderbares, schwer verständliches und nebenbei sehr zweischneidiges ist. Einem Vögelchen, das man gefangen hält und an das Bauer gewöhnen will, setzt man doch nicht eine Katze daneben! Was Instetten thut, ist aber gerade so zweckwidrig und sinnlos. Warum es dem Dichter nicht gefallen hat, uns über den Punkt aufzuklären, ist mir unerfindlich.

Zwar daß er es nicht durch ein nochmaliges direktes Eingreifen in die Geschichte gethan hat, dafür bin ich ihm dankbar. Er hätte sich schon jene erste Mitteilung über Instettens Denkungsart sparen sollen.

Wie steht Fontane zu dem von mir beständig verfochtenen Satz, daß, um mit W. von Humboldt zu reden: »der Leser, wenn er sich selbst vergessen soll, nicht an den Dichter erinnert werden darf?« Ästh. Vers. S. 74. Ich möchte dafür halten: er hat theoretisch zu ihm keine Stellung genommen und läßt sich in der Praxis nur von seiner vollblütigen, durchaus normalen dichterischen Empfindung leiten. Das heißt – um abermals mit dem Verfasser der Ästhetischen Versuche zu sprechen: »Er versetzt den Leser in die Mitte seiner Handlung, um alles übrige bleibt er schlechterdings unbekümmert.« Ibid. S. 75. Wobei ihm dann, wie dem Frommen, welcher zuerst nach dem Reiche Gottes und seiner Gerechtigkeit trachtet, solches alles zufällt. Nämlich: Klarheit und Folgerichtigkeit der Handlung, Durchsichtigkeit und Widerspruchslosigkeit seiner Charaktere. Selten, sehr selten, daß er in einem momentanen Nachlassen der Phantasiekraft, einer unwillkürlichen Flüchtigkeit anders handelt, wie ja auch wohl der sorgfältigste Stilist sich einmal einen Pleonasmus, eine Tautologie zu schulden kommen läßt.

117 Könnte man doch auch mit den Namen solcher stilistischen Gebrechen jene direkten Einmischungen des Dichters in der That bezeichnen, weil sie fast ausnahmslos ein Überflüssiges künden: etwas, was der Leser auf dem legitimen indirekten Wege bereits erfahren hat, oder – im Lauf der Geschichte – noch erfahren wird. Ich rechne dahin die direkten gegenständlichen lokal- und landschaftlichen Schilderungen, wie sie ebensogut in jeder Reisebeschreibung figurieren könnten. Dann, selbstverständlich, die direkten Personalbeschreibungen, von denen ich nicht begreife, wie ein Dichter sich auf sie einlassen mag, nachdem Lessing im Laokoon die dichterische Kunst verherrlicht hat, mit der Homer die Schönheit der heranwandelnden Helena sich in Aug' und Gemüt der Greise auf dem skäischen Thor spiegeln läßt. Und nun gar, als den schlimmsten aller schlimmen Verstöße: jene direkten Charakterschilderungen, wie die eben mitgeteilte Äußerung des Autors über Instettens Denkungsart. Aber, wie gesagt, dergleichen, überdies wenig belangreiche, Verstöße sind nur sehr spärlich in Effi Briest zerstreut, und es dürfte sie nur finden, der danach sucht und dessen Augen für solche Dinge berufsmäßig geschärft sind.

*

Wollte der Himmel, es ließe sich von den Wahlverwandtschaften dasselbe sagen! Aber mein Exemplar des Romans, den ich ad hoc noch einmal sorgfältig durchgelesen, zeigt durch die angestrichenen Stellen, daß der Text von Anfang bis Ende von diesen undichterischen Auswüchsen völlig durchsetzt ist. Und es ist mir kein Zweifel, daß wir es hier nicht mit Nachlässigkeiten, oder gar einem Nichtkönnen zu thun haben, sondern einem Nichtwollen des Dichters, der sich zu dieser Art der persönlichen Einmischung in die Erzählung für durchaus berechtigt hielt und sehr wohl »an den 118 Dichter erinnern« zu dürfen glaubte, da er durchaus nicht die Absicht hatte, daß »der Leser sich selbst über der Dichtung vergäße.« Eine Absicht, die er doch in Hermann und Dorothea so konsequent verfolgt, wo er ausnahmslos hinter den handelnden Personen verschwindet! Ich bekenne also die Praxis Goethes gegen meine Theorie zu haben, ohne mich dadurch in meiner Ansicht irgend erschüttert zu fühlen: daß, sollen Roman und Novelle sich zur Höhe von Dichtungen erheben, sie die dichterischen Pflichten erfüllen müssen, wie Homer sie verstand und Goethe selbst sie in Hermann und Dorothea geübt hat.

Ich stehe heute mit dieser meiner Überzeugung längst nicht mehr so vereinsamt, wie etwa vor dreißig Jahren. Dafür bürgt mir die Beobachtung, die ich täglich mache und jeder mit mir machen kann: daß aus dem modernen Roman (dem deutschen wenigstens) die Goethesche Gepflogenheit immer mehr schwindet; die besseren und guten Autoren ihr scheusam aus dem Wege gehen, sei es, weil sie sich zu meiner Theorie bekennen, sei es, weil die fleißig geübte dichterische Praxis ganz von selbst auf den rechten Weg drängt. –

Zu den Errungenschaften der modernen Erzählungskunst gehört mit in erster Linie, daß man die Sprechweise der Personen möglichst der, welche sie im wirklichen Leben haben würden, anzunähern sucht.

Ich kenne keinen modernen Erzähler, der es darin weiter gebracht hätte als Fontane. Er ist in dieser Beziehung einfach musterhaft. Nicht als ob er jedes Stottern und Stammeln der natürlichen Rede nachbildete, jeden lapsus linguae! Aber er giebt die Quintessenz, sozusagen, der Alltagssprache, sie so unmerklich stilisierend, daß jeder Leser schwören möchte: so und nicht anders müssen diese Menschen bei der betreffenden Gelegenheit, in der betreffenden Stim 119mung gesprochen haben. Und je nach dem Stand seiner Bildung, der Veranlagung seines Charakters, der Besonderheit seines Temperamentes spricht jeder seine besondere Sprache. So fein und doch so sicher nuanciert – aus dem Zusammenhange heraus würde man jede einzelne Person an ihrer Art, sich auszudrücken, erkennen. Den Ton selbst der Stimme glaubt man zu hören.

Von den Wahlverwandtschaften darf man gerade das Gegenteil behaupten: in der Gleichmäßigkeit des Vortrags ertrinkt jede individuelle Redeweise; es spricht der eine wie der andere. Und keiner so, wie er in der Wirklichkeit gesprochen haben, oder überhaupt jemand sprechen würde. Es ist eben durchweg geschriebenes Deutsch.

Und wiederum: von einem Nichtkönnen ist auch hier keine Rede. Wenn Goethe wollte und es für angezeigt hielt, verfügte er mit souveräner Macht über die individuellste volkstümliche Sprache. Das beweisen klärlich Götz von Berlichingen (ich denke besonders an die erste Niederschrift), Egmont; von ›Satyros‹, ›Götter, Helden und Wieland‹ und anderen kraftgenialischen Produkten gar nicht zu reden. Aber Schillers unselige Theorie, daß der Romancier nur der Halbbruder des Dichters sei, hielt ihn gefangen. Nun durfte er, so oft es ihm beliebte, den poetischen Strom ausschalten und die prosaische Reflexion, die prosaische direkte Schilderung an seine Stelle setzen; um dann wieder, der dichterischen Hälfte Rechnung zu tragen, im Vortrag einen erhöhten Ton anzuschlagen und die Rede seiner Menschen über »die Bescheidenheit der Natur« hinaus zu stilisieren. Als ein schlagendes Beispiel wolle man im zweiten Kapitel nachlesen, wie Charlotte ihrem Gatten die Charakterunterschiede Lucianens und Ottiliens klarzulegen sucht: »Wenn Luciane, meine Tochter, u. s. w.« Es folgen diesem ersten Satze nicht weniger 120 als fünf, die alle ebenso mit Wenn beginnen; Sätze von drei bis vier Zeilen Länge, mit dem Nachsatze von wiederum vier Zeilen eine Periode von 21 Zeilen bildend! Oder man nehme Worte, wie die folgenden, in welchen Ottilie Charlotten gegenüber die Werbung des Gehilfen zurückweist: »Er wird in mir eine geweihte Person erblicken, die nur dadurch ein ungeheures Übel für sich und andere vielleicht aufzuwiegen vermag, wenn sie sich dem Heiligen widmet, das uns unsichtbar umgebend allein gegen die ungeheuren zudringenden Mächte beschirmen kann.« In dem allen ist von natürlicher Rede kaum noch eine Spur und – soll es nicht sein.

*

Hier nun muß die Frage aufgeworfen werden, ob der moderne Roman, indem er auf diese ornamentierte Sprache ebenso verzichtete, wie auf den reicheren Auf- und Ausbau der Fabel, in Vergleich zu dem älteren Roman, alles in allem, gewonnen oder verloren hat. Die Antwort ist nicht so einfach, wie es denen erscheinen mag, die auf die »Moderne« schwören. Sie werden Effi Briest hoch über die Wahlverwandtschaften stellen. Denn, werden sie sagen, wenn es, wie doch zweifellos, gerade des Romans Aufgabe ist, der Zeit den Spiegel vorzuhalten, sehen wir sie nicht in Effi leibhaftig, im hellsten Freilicht, das den großen und den kleinen Zügen, den leuchtendsten und den dunkelsten Farben gleicherweise zu ihrem Rechte verhilft? Wogegen in den Wahlverwandtschaften eine künstliche Beleuchtung herrscht, in der jede Lokalfarbe verschwindet, wie hinter einem gefärbten Glase; die Personen ihre natürlichen Dimensionen einbüßen, wie ihre Rede den natürlichen Fall?

Könnte und müßte man darauf nicht erwidern: Freilich erscheint das alles uns so, den Menschen von heute; aber 121 erschien es gleicherweise denen von damals? Fanden sie sich in den Gestalten Eduards, Ottiliens, des Hauptmanns, Charlottens nicht ebenso wieder, wie wir uns in denen Effis, Instettens, des Majors, des alten Briests und seiner Frau? Konnten sie an den langen moralischen Diskussionen, den vielen mitgeteilten Briefen, den in Ottiliens Tagebuch zusammengetragenen Betrachtungen und Maximen, zwischen denen nur zu oft der bekannte rote Faden unfindbar bleibt – ich sage: konnten sie an diesen Dingen Anstoß nehmen, wenn sie selbst in der Erörterung sittlicher Fragen, in Korrespondenzen, Ausschreiben merkwürdiger Stellen aus tausend Büchern sich nie genug thaten? An einer umständlichen Redeweise, der sie selbst sich im täglichen Umgange befleißigten? An diesen endlosen Park- und Gartenkünsteleien, während sie selbst ihre Parks, Gärten und Gärtchen mit Tuffsteingrotten, Mooshütten, Freundschaftstempeln, Sandsteinungeheuern, chinesischen Pagoden und womit nicht noch sonst verschnörkelten? An diesem unbestimmten Krieg, in den Eduard zieht und aus dem er mit Ehrenzeichen geschmückt zurückkehrt, sie, die von Schlachten, wenn sie nicht in ihrer unmittelbaren Nähe geschlagen wurden, erst nach Tagen, manchmal nach Wochen keineswegs genaue Kunde erhielten?

Wie Kirschen schmecken, muß man Kinder und Sperlinge fragen; wie Romane munden, die Zeitgenossen.

Dann aber, wie sehr gerade Romane geneigt, ja gezwungen sind, die Farbe ihrer Zeit anzunehmen und in gewissem Sinne völlig als Produkte ihrer Zeit angesprochen werden müssen – in einem andern und sehr wesentlichen sind sie es nicht, sondern Kinder ihres Vaters, des Autors, der ihnen den unnachahmlichen Stempel seines Geistes aufprägte. Einen Stempel, schwer erkennbar für die Mitlebenden, desto deutlicher für die nachfolgenden Geschlechter.

122 Und da kann es wohl geschehen, daß ein älterer Roman, bei dem die Unarten einer falschen Technik, wie sie zur Zeit im Schwange waren, sehr deutlich hervortreten, dennoch durch das Genie seines Verfassers eine Bedeutung gewinnt, die ihn aus der Periode seiner Entstehung machtvoll hinüberträgt in spätere Perioden anders gearteter Menschen, deren Kunst sich von Manier und Künstelei glücklich befreit hat, oder doch, wie in Effi Briest, mit schönem Erfolg freizumachen sucht.

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Dies ungefähr sind die Betrachtungen, die sich mir aufdrängten, während ich einen berühmten älteren Roman mit einem ganz modernen, der berühmt zu werden verdient, auf ihre Technik hin verglich. Es soll mich freuen, wenn sie dem Leser einiges Interesse abgewonnen haben. Noch mehr, sollte ein und der andere unserer Litteraturforscher sich durch diese Aufzeichnungen veranlaßt sehen, ähnliche Konfrontationen notorischer Werke der Vergangenheit und der Gegenwart vorzunehmen, die Gleichheit bei aller scheinbaren Unähnlichkeit, die Unähnlichkeit bei aller scheinbaren Gleichheit herausstellend.

Und weshalb sich hier auf unsere Litteratur beschränken? Weshalb nicht einen Scottschen Musterroman, wie Waverley, oder, weiter zurückgreifend, Fieldings Tom Jones in Parallele bringen mit George Moores Esther Waters, oder G. du Mauriers Trilby? Die Nouvelle Héloise oder die Liaisons dangereuses mit den Romanen Maupassants oder Bourgets? Die Promessi sposi mit den Novelle Siciliane Vergas?

Selbstverständlich würden die betreffenden Landsleute die nächsten sein zu Untersuchungen, welche, von den verschiedensten Punkten der Peripherie ausgehend, vorausgesetzt, daß die Untersuchenden sich über gewisse Grundsätze der Romantechnik verständigen könnten, durch ihre konvergierenden Resultate ebenso überraschen wie belehren dürften.

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