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IV.
Albert Bielschofskys Goethebiographie.

Goethe. Sein Leben und seine Werke. Von Dr. Albert Bielschofsky. In zwei Bänden. Erster Band (München, C. H. Becksche Verlagsbuchhandlung, 1896).

Also machtvoll der Stern, der dir im Leben geleuchtet:
Ihm, der dein Leben beschreibt, schimmert noch heute sein Licht.

Das bekannte Goethesche Rezept zum Verständnis eines Dichters: man solle in seine Lande gehen, muß natürlich für ihn, der es unternimmt, eine Dichterbiographie zu schreiben, noch besonders obligatorisch sein. Nur möge der gewissenhafte Mann bedenken, daß es damit nicht gethan ist. Auch nicht, wenn wir das Wort in seiner weitesten Bedeutung nehmen und unter des »Dichters Landen« seine Heimat verstehen, seine Sippe, das Milieu, in welchem er aufwuchs und sich fürder bewegte; dazu die intime Kenntnis der socialen und politischen Bedingungen, die auf ihn eingewirkt; schließlich die Beherrschung der einschlägigen Litteratur und des sonstigen gelehrten Apparates. Zu dem allen gehört noch etwas, das, trotzdem es die sine qua non conditio einer guten Dichterbiographie ist, gar nicht so häufig, vielmehr äußerst selten angetroffen wird, nämlich: daß der Biograph ein poetisches Gemüt habe, in welchem die von dem Dichter angeschlagenen Töne rein wiederklingen; eine Phantasie, die der Dichterphantasie in alle Regionen leicht zu folgen vermag; ein instinktives und ausgebildetes Gefühl 124 für das, was die Kunst, als solche, kann und also wollen darf, und der betreffende Künstler in dem gegebenen Falle gewollt und gekonnt hat. Es mit einem Worte zu sagen: daß der Dichterbiograph selbst ein Stück Dichter sei.

So denn verhält es sich mit dem Litteraturgelehrten anders als mit seinen Kollegen von den anderen Disciplinen: dem Mathematiker z. B., der nur Mathematiker, dem Physiker, der nur Physiker zu sein braucht, um das zu seiner Wissenschaft ressortierende Objekt richtig beurteilen zu können. In jedem Dichter und in jedem Dichtwerk steckt ein X, das keine bloße Gelehrsamkeit herauszurechnen vermag; ein Imponderabile, das nur der zu taxieren weiß, den die Muse mindestens mit ihrem Flügel gestreift hat.

Und daß sich alle, die sich Litteraturgelehrte nennen, dieser hohen Gunst gewürdigt glauben, ohne mit seltensten Ausnahmen es zu sein; ohne etwas anderes zu sein als Kompilatoren, Sammler und Sichter – das ist es, was uns so viele Litteraturgeschichten unerquicklich und unerfreulich macht; uns so oft zum Widerspruch herausfordert; ein Buch der Art nach dem andern lesen läßt ohne anderen Gewinn als den von ein paar neuen Daten und Zahlen, die unsern Durst nach tieferer Einsicht in das Wesen des Gegenstandes wahrlich nicht stillen.

Da ist es denn doppeltes Labsal, einmal auf ein Werk litterarischer Gelehrsamkeit zu stoßen, dessen Verfasser eben nicht blos Gelehrter in dem obigen Verstande ist, sondern sich als Geistes- und Seelenverwandten des Dichters, den er uns in seinem Leben und seinen Werken zu schildern unternimmt, auf jeder Seite, in jedem Satze, möchte ich sagen, legitimiert.

Als ein solches Werk möchte ich Albert Bielschofskys Goethebiographie bezeichnen und sie dem Teil des Publikums, 125 der sich die Ehrfurcht vor unserm größten Dichter und die Freude an ihm noch nicht hat rauben lassen, auf das dringendste empfehlen.

Zwar ist vor der Hand nur der erste, den Leser bis zur Rückkehr Goethes aus Italien führende Band des auf zwei Bände berechneten Werkes erschienen; aber man darf mit Sicherheit darauf rechnen, es werde der Verfasser die noch restierende und vielleicht schwierigere und minder dankbare Hälfte seiner Aufgabe mit nicht geringerer Einsicht, Kraft und Anmut bewältigen und so sein rühmliches, wahrlich aufs innigste zu wünschendes Ziel erreichen: »auf Grund des reichen Materials, das die wissenschaftliche Forschung, die Eröffnung des Goethearchivs und glücklichste Funde im letzten Menschenalter zu Tage gefördert haben, eine neue Darstellung von Goethes Leben und Werken zu geben, die den weitesten Kreisen zugänglich und nützlich sein sollte

In diesem letzten Zusatz liegt der Schwerpunkt seines Unternehmens. »Den weitesten Kreisen zugänglich!« Das sind die biographischen und ästhetischen Studien, die seit dem Bestehen der Goethe-Gesellschaft in ihren Jahrbüchern und Schriften jahrein jahraus niedergelegt werden, gewiß nicht; wollen und können es auch nicht sein. Sie werden innerhalb der esoterischen Goethegemeinde angestellt und kommen nur dieser zu gute. Die draußen stehenden »weiten Kreise« haben herzlich wenig davon. So wenig, daß man es begreiflich finden würde, wenn ihnen, was da drinnen vorgenommen wird, als eitel Kärrnerarbeit erschiene.

Und sie hätten ja von ihrem Standpunkte in der That recht, wenn sonst nichts dabei herauskäme; die mit so unsäglicher Mühe und Geduld gewonnenen, im einzelnen an sich oft minimalen, nur im ganzen ponderabeln Resultate 126 Geheimbesitz von ein paar hundert oder tausend Menschen blieben; der Menge der Gebildeten und nach Bildung Strebenden kein Gewinn daraus erwüchse; die Summe ihres Fühlens und Denkens sich nicht erhöhte durch ein besseres Wissen und Verstehen ihres größten nationalen Dichters. Diese Umprägung der Goldbarren der Wissenschaft in die Münze, welche im Geistesleben der Menge, es befruchtend und steigernd, cirkuliert, ist die Legitimation der Goethe-Gesellschaft gegenüber ihrem Volke. Und für die beide, die Gesellschaft und das Volk, den, der sie ins Werk zu setzen verstand, zu gleichem Danke verpflichtet sind.

Ich habe nicht den Fürwitz, die wackeren Männer, welche sich früher und später das Umprägungs- und Vermittelungsgeschäft haben angelegen sein lassen, nach dem Wert ihrer Leistungen miteinander zu vergleichen. Das bleibe den Gelehrten überlassen. Und so gebe ich es lediglich als meine individuelle Empfindung, daß uns in Bielschofsky ein deutscher Lewis erstanden ist, will sagen: ein Mann, der seine unsäglich schwierige Aufgabe unternommen hat, ausgerüstet mit dem Wissen seiner Zeit und der allezeit – zumal in Deutschland – höchst seltenen Gabe, sich in die Seelen der Nichtwissenden zu versetzen und, den Magister draußen lassend, als Mann von Welt mit und zu den Weltkindern zu reden.

Bei welchem Dichter wäre das nötiger, als bei ihm, der sich selbst mit Vorliebe das Weltkind nannte und seine Werke ein weltlich Evangelium? Und es durfte, weil ihm, wenn einem, nichts Menschliches fremd war? er nach nichts eifriger strebte, als sich zu einem vollen, runden Menschen auszugestalten? Und sein hohes Ziel soweit erreichte, daß »alle, die ihm näher traten, den Eindruck empfingen, als hätten sie nie einen so ganzen Menschen gesehen?« Und, 127 während er mit einer Ausdauer, Geduld, Innigkeit ohnegleichen nach Wahrheit, immer nur nach Wahrheit rang, sein ganzes unsagbar reiches Leben an ihre Erforschung setzend, den denkwürdigen Ausspruch thun konnte: es ärgere die Menschen, daß sie so einfach sei?

Und der, immer mit festen, markigen Knochen auf der wohlgegründeten, dauernden Erde stehend; immer sicher ruhend auf der breiten, unerschütterlichen Basis dieser lautersten Wahrhaftigkeit, die Pyramide seines Daseins und wahrlich nicht minder seines dichterischen Schaffens so hoch gipfelte, daß uns andere der Schwindel erfaßt, wenn wir hinaufblicken, wohin mit eigener Kraft zu gelangen wir niemals hoffen dürfen?

Diese Simplicität, die den flachen Köpfen ärgerlich ist, diese Höhe, die alle strebend sich Bemühenden mit tiefster Ehrfurcht erfüllt, in Goethes Leben und Werken aufzuweisen; zu erklären – versuchen wenigstens zu erklären – wie ein solches Phänomen möglich war; während man sich doch bescheidet, trotz alles Mühens mit seinem Erklärungsversuch nur zu einem gewissen Punkte zu kommen, über den hinaus wir zu Tiefen gelangen, in deren purpurnes Dunkel kein wissenschaftliches Senkblei hinabreicht – das scheint mir die Quintessenz der Aufgabe des berufenen Goethebiographen.

Eine Aufgabe, deren annähernde Lösung freilich die Inangriffnahme und relative Bewältigung noch so mancher anderer, recht sehr schwieriger in sich schließt.

Keine vielleicht schwieriger als der Nachweis, wie weit dieser wahrhaftigste und zugleich beweglichste aller Dichtergeister – der vorliegende erste Band handelt naturgemäß fast ausschließlich von dem Dichter – Finder und wie weit er Erfinder war. Wer, aus diesem oder jenem Grunde, bei der Beantwortung der schwierigen Frage sich kurz zu 128 fassen hat, wird, weil zu einer schematischen Methode gezwungen, immer Gefahr laufen, selbst von Wohlwollenden mißverstanden zu werden und der Nörgelsucht Übelgesinnter Thor und Thür zu öffnen. Der Biograph, der hier ausführlich sein kann und muß, ist besser daran. Er darf, über die Regel hinweg, gleich zu den Beispielen gelangen, aus denen sich dann jeder nach seinem Vermögen die Regel abstrahieren mag.

So geht unser Autor von der stillschweigenden Voraussetzung aus, daß, wenn Goethe, der Dichter, einen Stoff in Angriff nimmt, es niemals ein willkürlicher sein kann, sondern aus einer Keimzelle gewachsen sein muß, die, nur der Befruchtung harrend, in seiner Seele lag; niemals von einer generatio aequivoca die Rede sein kann, immer nur von einem legitimen Produkt seines Geistes und Gemütes in inniger Durchdringung. Und ebenso die Ausgestaltung des Stoffes in steter Abhängigkeit ist von der Masse seiner Beobachtung und Erfahrung in Welt- und Menschenleben. In so großer Abhängigkeit, daß, wo einmal der Nachweis nicht gelingt, der Biograph in der Lage des Astronomen ist, dem seine Berechnungen sagen, es müsse da und da ein Stern stehen, und es nur an der Unzulänglichkeit der ihm zu Gebote stehenden Instrumente liegt, wenn er sich und den andern das Phänomen nicht ad oculos zu bringen vermag. Kann, ja muß man doch Goethe, ohne sich zu widersprechen, den zugleich subjektivsten und objektivsten aller Dichter nennen. Das erstere, weil er schlechterdings nichts schaffen konnte, es hätte sich denn sozusagen selbst geschaffen, indem er es zuvor in dem Bann seiner Seele durchlebte; das letztere, weil keiner befähigter war als er, das subjektive Seelenerlebnis rein herauszugestalten als etwas, für das er in keiner Weise, außer in der künstlerischen, verantwortlich war.

129 In der successiven Herauskehrung der beiden Seiten von Goethes dichterischem Genius finde ich unsern Autor musterhaft. Man lese das wundervolle, dem Werther gewidmete Kapitel, um mir zuzugeben, daß kein Lob, welches seinem in dieser und jener Richtung bewiesenen Spür- und Tiefsinn gespendet wird, zu hoch und herzlich sein kann. Dann wieder das Kapitel »Innere Kämpfe«, in welchem er uns durch die Kunst seiner Darstellung zwingt, den sehnsüchtigen Drang, der Goethe aus der Dumpfheit und dem Wirrsal seiner Weimarer Verhältnisse nach Italien trieb, in seiner ganzen herzbeklemmenden Gewalt mitzuempfinden; und den Anfang des folgenden Kapitels, wo uns die Atemlosigkeit packt, mit der der Dichter dem Augenblick entgegenharrt, der ihn nach Rom führen wird, immer fürchtend, es könnte ihn der Neid der Götter zuletzt doch noch um sein höchstes Erdenglück betrügen.

In besonders günstiger Lage scheint mir der Biograph eines Dichters auch deshalb zu sein, weil er nicht verpflichtet ist, an seine Werke mit einem absoluten kritischen Maßstab heranzutreten; und sich so im Einvernehmen mit dem Geiste der Zeit findet, welche den Resultaten solcher Messungen ein nicht unberechtigtes Mißtrauen entgegenträgt. Es wird seinem Takte überlassen bleiben, wie weit er sich auf eine Kritik der Art einlassen will. Auch in dieser Beziehung, meine ich, hat unser Autor durchaus das Richtige getroffen. Er begnügt sich, von jedem Werke: Götz, Werther, Iphigenie, Tasso, die möglichst vollständige Entstehungsgeschichte zu geben; eine sorgfältige feinsinnige Analyse der Charaktere mit beständigem Hinweis auf die Modelle, die der Dichter benutzt hat, oder benutzt haben möchte. Er verschweigt mit schönem Freimut nicht, wo er Sprünge und Risse, Mängel und Fehler in der Charakteristik oder in dem Aufbau des 130 Ganzen zu bemerken glaubt. Hat er aber auf diese Weise alles in das rechte Licht gerückt, überläßt er die Gesamtschätzung ruhig dem Leser. So dem gewissenhaften Gärtner gleichend, der jeder Blume seine Sorgfalt zuwendet und darauf sieht, daß sie zu dem Ihren kommt, ohne die Rose mit der Nelke, die Hyacinthe mit der Levkoje in einen Wettstreit der Schönheit und des Duftes zu bringen; oder sie gar an denen zu messen, die in des Nachbars Garten blühen.

Daß der ungelehrte und nun gar der gelehrte Leser mit dem Verfasser nicht in jeder Einzelheit übereinstimmen wird, ist selbstverständlich. Es wird mit mir solche geben, die es aus ästhetischen, psychologischen und zumal sittlichen Gründen für unmöglich halten, der »Satyros« sei ebenso auf Herder gemünzt, wie die bekannte, wenig frühere Farce auf Wieland; und ich bin überzeugt, der Verfasser wäre zu einem andern Resultat gekommen, hätte er sich in diesem Falle, wie überall sonst, von der eigenen Empfindung leiten lassen, anstatt auf die Stimme eines anderen zu hören, wie gut auch der Klang sei, dessen sie sich mit Recht in der Gelehrtenrepublik erfreut.

Doch ich gerate da auf ein Feld, das ich nicht betreten wollte. Meine Absicht ging und geht nur dahin, mir den Dank der Leser zu verdienen, welche sich durch diese Zeilen bewogen fühlen, Bielschofskys »Goethe« zur Hand zu nehmen; und dem Verfasser ein herzliches Glückauf! zu der Vollendung seines schönen Werkes auf den mühevollen Weg zu wünschen.

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