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XVIII.
Die versunkene Glocke.

Wie mir das Bimbam fatal der Glocke vom ragenden Kirchturm,
Lieblich vom Grunde des Sees tönt die versunkene mir.

Von »Hannele« zur »versunkenen Glocke« führt ein anderer Weg als von den »Webern« zu »Florian Geyer«; aber weiter ist er nicht. Es wohnen eben zwei Seelen in der Brust unsers Dichters: die naturalistische Ehrfurcht vor der Wirklichkeit, in deren Abschilderung man vor nichts zurückschrecken darf, und die Sehnsucht hinauf zu Regionen, in denen der freie Flügelschlag der Phantasie durch keine Erdenschranke gehemmt wird. Und da man diesen schulwidrigen Trieb nicht wohl eingestehen und durch idealisierte Gestalten des wirklichen Lebens (in der Weise der alten Schule) befriedigen darf; das eine thun muß und das andre nicht lassen möchte, flüchtet man sich in den Mummenschanz der Allegorie und feiert Orgien der schönheitstrunkenen Seele hinter einer Maske, die man jeden Augenblick abwerfen kann: es war ja nur ein Scherz! hier habt ihr mein altes unverändertes Gesicht!

Die Allegorie in der »versunkenen Glocke« ist so durchsichtig; man muß erstaunen, daß ihr Sinn nicht von allen sofort begriffen wurde.

In irgend einer kleinen Gemeinde wohlmeinender, ehrbarer, übrigens herzlich beschränkter Spießbürger lebt ein Künstler (Maler, Bildhauer, Musiker, Dichter – gleichviel!); 313 ein noch jüngerer Mann, verheiratet mit einer ungebildeten Frau aus niederem Stande, nicht ohne persönlichen Reiz, die ihm zwei anmutige, prächtig aufblühende Kinder geschenkt hat. Nach gewöhnlichem menschlichen Ermessen hätte der Künstler allen Grund, sich glücklich zu fühlen. Er thut es nicht. Er weiß (oder glaubt) sich unverstanden von seinem Weibe, seinen Mitbürgern. In seinen vielen Werken (er ist ein überaus fleißiger Mann) sieht er nur Schüler- und Stümperarbeit. Sie haben nur Ton und Klang in den Niederungen des Alltagslebens; nicht auf den Höhen, die seine Seele ahnt, zu denen sie sich aufschwingen möchte und – nicht aufschwingen kann.

So ist ihm, wie dem Faust, »das Dasein eine Last, der Tod erwünscht, das Leben ihm verhaßt.«

Da, als ihm ein neues Werk, das seine Mitbürger als die Krone seiner Schöpfungen schon im voraus preisen, durch äußere Umstände zerstört wird, erreicht seine Verzweiflung den höchsten Grad. In dem Zufall sieht er einen Fingerzeig höherer Weisheit, die ihm seine Nichtigkeit klar machen will.

Und gerade in diesem Moment begegnet ihm in sehr fraglicher, von seinem sonstigen ehrbaren Milieu möglichst ferner Umgebung ein Mädchen, an dem von intellektueller und moralischer Bildung keine Spur, dessen natürliche Anmut und wundersame Schönheit ihn völlig berauschen, und in das er sich verliebt mit aller Leidenschaft, der seine künstlerische Seele fähig ist, nach der seine künstlerische Seele so lange vergeblich geschmachtet hat. Nun glaubt er gefunden zu haben, was ihm fehlte; nun den Anhauch des Genius zu spüren, der ihn zu den höchsten Leistungen emporflügeln wird. Die junge Schöne, die sittliche Bedenken nicht einmal von Hörensagen kennt, weiß sich in sein Haus einzuführen, wo niemand hinter ihrer Unschuldsmiene die Teufelinne 314 sieht, die sie ist. Mit leichter Hand löst sie die schwachen Fäden, die den Unglücklichen noch an seine Familie, seine bürgerliche Stellung knüpfen, und entweicht mit ihm. Nun ein freiestes Liebesleben der beiden; für ihn, wie es scheint, die Erfüllung seiner ausschweifendsten Künstlerträume. Ein neues Werk, das alles, was er bisher geplant, vollführt, in tiefsten Schatten stellen wird, baut sich auf vor seines Geistes Aug'. Er giebt sich an die Arbeit. Kaum geahnte Kräfte sprießen ihm; alles muß ihm zum besten dienen; die Natur selbst mit ihren innersten Gewalten scheint ihm frohnden zu müssen. Weib und Kinder, was sind sie ihm noch? Er hat Größeres im Sinn. Die Mahnung seiner alten Freunde und Gefährten, abzulassen von einem solchen Treiben, das ihn ins Verderben stürzen wird – sie klingt vergebens an sein Ohr.

Das geht nun so, so lang es geht. Nicht lange. Dann kommt der Rückschlag. Wäre er der echte Genius, würde er auch unter den früheren mißlichen Verhältnissen unsterbliche Werke geschaffen haben. Er ist es nicht; deshalb kann er sie jetzt ebensowenig schaffen, wo er sich von jedem Zwang, der ihn drückte, gelöst und die Ellenbogen völlig frei hat; die Natur selbst mit ihm im Bunde scheint. Alles Schein. Die Mächte der Natur, die er sich dienstbar gemacht zu haben glaubte, verweigern ihn dem Gehorsam. »Der erhabene Rausch« fängt an zu verfliegen, ist verflogen. Die Zuversicht verläßt ihn. »Die Brust, der Blick ermattet; der Seele klares Vorbild schwindet hin.« Das große Werk rückt nicht aus der Stelle, da »dies mißrät und jenes nicht gedeiht.« Vergebens, daß er sie »die Schwinge seiner Seele« zu Hilfe ruft. Sie war das nie; war nur ein Anhauch, der ihn buhlerisch umspielte, und auf dem er sich durch alle Himmel tragen lassen zu können wähnte. Eine wächserne Schwinge 315 im besten Fall, die in der Sonnennähe des Ideals wegtropfte und den kühnen Aufflug in einen jähen, schmählichen Fall verwandelte. Noch einmal rafft er sich auf; treibt die alten Freunde, die seine Widersacher geworden sind, zu Paaren; dann ist es aus. Die Reue, der er sich so lange erwehrt, packt ihn mit fürchterlicher Gewalt. Was er an Weib und Kind gefrevelt, erhebt sich wider ihn. Die Dirne, die ihm die Verwirklichung seiner Träume schien, sieht er in ihrem wahren Licht. Mit Abscheu stößt er sie von sich, flucht ihr und sich und sucht Rettung in der Rückkehr zu seinem alten Leben.

Für ihn keine Rückkehr, keine Rettung. Nach dem Wahnsinnsrausch, in welchem er dahingetaumelt, würde ihm das Alltagsleben von früher ekel, schal, unersprießlich und unerträglich erscheinen, fände er es wieder. Er findet es nicht. Die Frau hat sich aus Gram um ihn das Leben genommen; die Kinder sind – er weiß nicht, wo. Er möchte in den alten Rausch zurück. Das ist ebenso unmöglich. »In demselben Flusse schwimmst du nicht zum zweitenmal.« Das große Werk, dem er alles geopfert – in der Ermattung seiner Seele war es ja schon kläglich gescheitert. Die Geliebte hat sich eines andern besonnen und sich einem alten reichen Freier, der sie schon lange umworben, hingegeben. Sie kennt ihn nicht mehr; will ihn nicht mehr kennen. Der Sterbende kann von Glück sagen, daß sie sich, in Erinnerung vergangener schöner Nächte, noch einmal erbarmend über ihn beugt.

Das ist, in die Prosa der Wirklichkeit übersetzt, die Fabel der »versunkenen Glocke«. Keine eben neue, wie man zugeben wird. In recht vielen Romanen, Novellen, Schauspielen ist sie bereits bearbeitet. Aber in der Kunst kommt es nicht sowohl auf das Was, sondern auf das Wie an, 316 insofern wenigstens, als ein originelles Wie auch ein scheinbar abgebrauchtes Was neu beleben kann. Ja, man darf sagen: gerade in der neuen, eigenartigen Form, in welche der Künstler einen alten Stoff zu gießen verstand, bewährt sich sein Genius am glänzendsten. So gesehen ist »Die versunkene Glocke« ein herrlicher Beweis von Gerhart Hauptmanns Künstlerschaft.

Denn neu, als hätten wir sie nie gesehen, erscheinen in dem magischen Licht, das er um sie breitet, die alten wohlbekannten Gestalten. Die scharfen Konturen, die sie in Dichtungen gewöhnlicher Art haben und haben müssen, hat das »Märchen« verwischt, sie in weiche, in dem phantastischen ambiente verschwimmende Umrisse verwandelt. Der Künstler in Zolas L'œuvre – wie genau wissen wir, was er kann und was er nicht kann! Selbst Faust, so stark das mystisch phantastische Element in der Tragödie zur Geltung kommt, läßt es nicht an einem scharf umrissenen Programm seines Wollens und Strebens fehlen. Wie seltsame Windungen auch der Weg macht, den er in seinem dunklen Drange geht, wir können sein Thun und Lassen stets mit wünschenswerter Genauigkeit kontrolieren. Bei dem Helden der »versunkenen Glocke« müssen wir das aufgeben. Er ist seines Zeichens Glockengießer. Die Glockengießerei gehört zu den höheren Handwerken. Wir sollen ihn für einen Künstler nehmen. Wie aber das große Kunstwerk geartet ist, das er da oben »in der Höhe« mit Hilfe der Zwerge schaffen will, bleibt uns völlig rätselhaft. Trotz seiner Schilderung S. 100:

»Es ist ein Werk, wie ich noch keines dachte:
ein Glockenspiel aus edelstem Metall,
das aus sich selber, klingend, sich bewegt.
Wenn ich die Hand, wie eine Muschel, lege
so mir ans Ohr und lausche, hör ich's tönen –
schließ ich das Auge, quillt mir Form um Form
der reinen Bildung greifbar deutlich auf –«

317 Hier freilich können wir noch immer an eine besonders beschaffene Glocke trotz der beiden letzten Verse denken; aber an anderen Stellen scheint es sich um ganz etwas anderes zu handeln. S. 117:

»– – – – Wie ohne deine Kraft (des Zwergen)
gelänge mirs, den hochgetürmten Bau
des Werkes, das ich will, in sich zu stützen,
zu gründen, hoch in einsam freie Luft
zur Sonnennähe seinen Knauf zu heben?«

Aber dürfte man sagen: die Wunderglocke verlangt einen Glockenturm. Den baut er sich zu seiner Glocke, wenn auch die »alte Wittichen« S. 159 sagt:

»Do iis a Moan geweßt, der hat's gebaut:
hoalb ane Kerche, hoalb a Kenigsschluß« –

Indessen mit dem Architekturverständnis der guten Frau mag es nur schwach bestellt gewesen sein; oder Heinrichs kapriciöses Genie schwelgte, wie das so mancher modernen Künstler, in der Vermischung sich sonst widersprechender Stilarten.

Wie dem auch sei: es ist ganz vergeblich, sich von seinem Wirken eine bestimmte Vorstellung zu machen. Wir müssen uns begnügen zu sagen: er plant etwas Ungeheures, das in der künstlerischen Linie liegt; und geht zu Grunde, wie so viele, die das Maß ihrer Kraft überschätzten und sich für wirkliche Prinzen aus Genieland hielten, während sie doch nur Usurpatoren und betrogene Betrüger waren.

Das ist der Held.

Mit der Geliebten, seiner »Seelenschwinge«, hätte der Dichter des landläufigen Romans, des gewohnheitsmäßigen Drama ebenfalls seine liebe Not gehabt, um der allbekannten seelenlosen Kokette, der in jeder Pose photographierten bohémienne, der nicht mehr ganz seltenen Salonschlange – denn etwas derart erforderte das Thema – irgend einen neuen 318 Reiz abzugewinnen. Unser Dichter macht aus ihr ein »elbisches Wesen«. Da die Naturgeschichte diese species generis feminini nicht kennt, kann die Phantasie aus ihr und mit ihr machen, was ihr beliebt. Soll man aber den Dichtern Glauben schenken, sind sie sehr wandlungsfähig, die elbischen Wesen: ein Proteus könnte noch von ihnen lernen. Dem menschlichen Auge erscheinen sie u. a. als wunderschönes Mädchen mit üppigem Haar, das wie Sonnenstrahlen glänzt; können aber auch ebensogut, wie in der Luft, im Wasser leben und sich mit Adamssöhnen so wohl gatten, als mit der Sippe Kühleborn, die in unserm Drama »Nickelmann« heißt. Verstehen aber – auf elbische Parole! – noch viel mehr:

»– – – – Durchs Gebirge flog ich,
bald wie ein Spinngeweb im Winde treibend,
bald wie 'ne Hummel schießend, taumelnd dann
von Kelch zu Kelche wie ein Schmetterling.
Und jedem Pflänzlein, Blümchen, Gras und Moos,
Pechnelke, Anemone, Glockenblume,
kurz allem nahm ich Eid und Schwüre ab:
sie mußten schwören, nichts dir anzuthun.«

Daß es ihnen nach solchen Leistungen nicht schwer fällt, mit den Nixen auf der Wiese im Mondschein Ringelreihe zu tanzen, Zauberkreise zu ziehen und dergleichen Kleinigkeiten, nimmt man als selbstverständlich an.

»Nickelmann!« Der Brave könnte sehr wohl in dem Prosa-Roman, dem Drama so heißen, und würde dann vermutlich ein alter Lebemann sein: vielfacher Hausbesitzer, Millionär, Bankier – irgend etwas derart sein, dem es, dank seinem Reichtum, trotz seines wenig einnehmenden Äußeren, der Last seiner Jahre und seiner recht zahlreichen Familie an Frauenbekanntschaften nimmer fehlt; und der sich eine ausgesprochene Vorliebe für junge schöne Mädchen bewahrt hat, die er, kann er sie nicht aus erster Hand haben, 319 auch wohl aus zweiter nimmt. Das wäre denn unter Umständen eine sehr lebenswahre, aber vermutlich wenig ergötzliche Figur geworden.

Und was hat unser Märchendramendichter aus ihr gemacht!

Wenn der Nix prustend, mit den an das Tageslicht nicht gewohnten Augen zwinkernd, sich über den Brunnenrand hebt – nun ja: Ehre dem Schauspieler, der das phantastische Gebilde so glaubhaft-überzeugend auszugestalten verstand! Viel größere Ehre aber doch dem Dichter, der das aller Erfahrung spottende Gebilde in seines Geistes Auge sah!

Und, wie Rautendelein und den Nickelmann, so den »Waldschrat« sah, in der Prosa des Lebens (und der Dichtung) ein sehr frecher, höchst lüderlicher, grauenhaft cynischer junger Herr: der Pflastertreter der Großstadt, der Bummler der Ateliers, Theaterfoyers, Cafés chantants, cabinets particuliers; hier, im Märchendrama »ein bocksbeiniger, ziegenbärtiger, gehörnter Waldgeist«, der seine Natur zu offen zur Schau trägt, als daß man ihm wegen seines krausen, nicht selten obscönen Humors gram sein könnte. Der eben einfach drollig wirkt, wie Rautendelein trotz ihrer Seelenlosigkeit und des Unheils, das sie gleichmütig in die Familie des Künstlers trägt, durchaus lieblich, anmutig, liebenswert erscheint – das vollendete Bild und die Quintessenz aller dieser Eigenschaften; in ihrem Schwebeleben jenseits von Gut und Böse, der moralischen Kritik völlig entrückt.

Welche Vergünstigung »die alte Wittichen« gleicherweise für sich in Anspruch nehmen kann: in Wirklichkeit vermutlich ein »Weib, wie auserlesen zum Kuppler- und Zigeunerwesen«; hier eine hexenartige Alte, die sich aber gelegentlich doch zur Würde einer Norne, Druide erhebt, voll Tief 320blicks in die menschlichen Dinge über alles menschliche Maß hinaus.

Und um diese, in ihren Konturen verschwimmenden und doch (oder gerade deshalb) typischen Gestalten wogt und wallt nun die ganze Magie der deutschen Märchenwelt mit ihren Elfen, Zwergen, Holzmännerchen, Holzweiberchen; der grause und der holde Spuk des Zauberwaldes in einer Pracht, wie sie keiner unsrer Romantiker, die doch auf diesem Gebiet etwas leisten konnten, glänzender entfaltet hat. Nur Shakespeare, der Titan, mit seinem »Sommernachtstraum« und seinem »Sturm« wäre hier in einem Atem zu nennen. Der sinnige Leser fühlt sich in diese Welt entrückt schon während der Lektüre; sie umfängt, umstrickt ganz und gar den, der das Glück gehabt hat, einer der in jeder Hinsicht meisterlichen Vorstellungen des Berliner Deutschen Theaters beizuwohnen. Er darf sagen, daß er um einen künstlerischen Hochgenuß bereichert ist.

Kann sich das deutsche Drama der Bereicherung durch das Wundergebilde der »versunkenen Glocke« ohne alle Einschränkung rühmen? Ich möchte es bezweifeln; halte sogar die Frage für berechtigt, ob »Märchendrama« nicht eine contradictio in adjecto enthält. Eine sichere Kontrole der Märchendramengeschöpfe, sahen wir, ist unmöglich. Rautendelein wendet sich von dem geliebten Menschen zu dem Wasserungetüm – wir verstehen es nicht; wir müssen es glauben. Und wir verstehen wiederum nicht, wie sich in ihr, nachdem sie sich einmal von Heinrich gewandt, noch eine Zärtlichkeitsregung für ihn findet. Ist sie einmal das seelen- und herzlose Naturwesen, so sei sie es ganz. Ihr: »Ich habe dich nie gekannt« beim letzten Wiedersehen ist verständlich. Dabei sollte es bleiben. Ihr »halb schluchzendes, halb jauchzendes«: »Heinrich!!!« ist eine Sentimentalität, die 321 dem elbischen Wesen um so weniger zu geziemen scheint, als sie menschliche Schwestern hat, die ohne derartige Velleitäten ganz gut auskommen.

Aber wer darf hier sagen: dies kann sein; dies kann nicht sein? Warum soll das alte Hexenweib nicht Sprüche tiefster Weisheit sprechen, wenn sie der Dichter gerade braucht? Weshalb der brave Nickelmann trotz seines aristophanisch-naturalistischen »Quorax!« und »Brekekekex« dem Pfarrer nicht ins Handwerk greifen und, obschon er selbst ein höchst unmoralischer Wassergreis zu sein scheint, Heinrich den Standpunkt klar machen, daß es ein Vorstandsmitglied des ethischen Vereins nicht besser könnte:

Vergeblich ringst du, denn du ringst
mit Gott! Gott rief dich auf, mit ihm zu ringen –
und nun verwarf er dich, denn du bist schwach!
Umsonst sind deine Opfer: Schuld bleibt Schuld!
Den Segen Gottes hast du nicht ertrotzt,
Schuld in Verdienst, Strafe in Lohn zu wandeln. (S. 120.)

Man könnte einwenden: es ist Heinrichs böses Gewissen, das im Schlafe so zu ihm spricht. Aber dann: warum so bedeutende Reden dem Fischmenschen, dem Nickelmann in das Karpfenmaul legen? Zu Gretchen in der Kirche spricht auch nicht die Hexe, oder die Meerkatze, sondern ihr »böser Geist«. Das versteht man.

Und diese Unkontrolierbarkeit, die in dem allegorischen Wesen der reinen Märchengeschöpfe noch eine halbe Entschuldigung fände, erstreckt sich auch auf die Menschen, wo sie unentschuldbar erscheint. Ist Frau Magda wirklich das unbedeutende Alltagswesen, das sie sein muß, wenn Heinrich keine Erquickung in ihrem Umgang fühlen soll, kann sie ihm unmöglich ein so herrliches Bild seines Künstlertums entwerfen, wie sie mit den Worten thut (S. 65):

322

– – – – – Ein Mensch, wie du,
begnadet, überschüttet mit Geschenken
des Himmels, hoch gepriesen, allgeliebt,
ein Meister seiner Kunst. Wohl hundert Glocken
in rastlos froher Wirksamkeit gebildet:
sie singen deinen Ruhm von hundert Türmen;
sie gießen deiner Seele tiefe Schönheit,
gleichwie aus Bechern, über Gau und Trift.
Ins Purpurblut des Abends, in das Gold
der Herrgottsfrühe mischest du sie ein.
Du Reicher, der so vieles geben kann,
du Herrgottsstimme! – der du Geberglück
und Geberglück und nichts als dies geschlürft,
wo Bettlerqualen unser Gnadenbrot –:
du siehst mit Undank auf dein Tagewerk?

Das sind köstliche Worte; nur eine Magda kann sie nicht sprechen. Oder aber ein Heinrich, der selbst eingestehen muß:

– – – – – Nun hast du selbst geklungen
so tief und klar, wie meiner Glocken keine,
so viel ich ihrer schuf –

er läßt ein solches Weib, dessen unschätzbarer Wert ihm endlich aufgegangen ist, für ein Rautendelein nicht fahren; oder kehrt doch nach dem ersten, bald überstandenen Rausch reuig zu ihr zurück.

Diese Märchenmenschen soll und darf man nicht zur Verantwortung ziehen. Einen Hamlet, einen Othello, einen Wallenstein, einen Räuber Moor sogar kann und muß man fragen: warum thust du dies? warum unterläßt du das? Märchenwesen stehen nicht unter dem logisch-psychologischen Gesetz.

Aber sind sie dann noch echte dramatische Geschöpfe?

Man muß es bezweifeln.

So darf sich denn der Dichter nicht wundern, wenn sein Werk, trotzdem der menschliche Gehalt, wie ich gezeigt zu haben glaube, höchst einfach und nichts weniger als neu ist, 323 so viele und verschiedenartige Auslegungen gefunden hat; ja nicht wenigen als ein Buch mit sieben Siegeln erscheint. Was er an persönlichen Erfahrungen, Empfindungen, an selbsterlebten Freud und Leid hineingelegt hat – ich weiß es nicht, will es nicht wissen. Ich weiß nur, daß jeder Künstler über eine und die andre versunkene Glocke zu klagen hat, und in jedes Künstlerleben ein und das andre Rautendelein hineinspielt. Und weiter, daß der echte Künstler – wie Hauptmann einer ist – sich durch versunkene Glocken wohl verstimmen, aber nicht stumm machen läßt; und die Rautendelein, die mit ihm spielen zu können glaubten, jedesmal zu ihrem Schaden herausfinden, daß er es war, der mit ihnen spielte.

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