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V.
Streifblicke über den heutigen deutschen Roman.

Müßig stand ich am Markt, nun hierhin blickend, nun dorthin.
Prächtigste Ware vollauf! Fehlten die Käufer nur nicht!

Ranke behauptet gelegentlich, daß das intellektuelle und moralische Niveau der Menschheit so ziemlich zu allen Zeiten dasselbe gewesen sei. Das klingt befremdlich, ja völlig paradox. Das Jahrhundert des Perikles und gewisse Perioden des Mittelalters! Aber so hat der Weise es auch gewiß nicht gemeint. Er hat den Gipfeln ihr Glanzlicht nicht rauben wollen, sondern denkt an die Thäler, in denen es darum nicht völlig dunkelt, weil Wald, Wiese und Felder nicht gleißen wie eisumstarrte Firnen. An Winkelriedthaten, die im Kampfe um das tägliche Brot für Weib und Kind allerorten täglich von wackeren Männern geschehen, rühmlich und heroisch, obgleich kein Lied sie meldet, keine Klio von ihnen weiß. Und wenn Lessing einmal das Gute gesammelt wünschte, das sich in schlechten Büchern findet, wollte der große Litteraturkenner zweifellos hindeuten auf die Fülle von Kenntnissen, Geist, Witz und Phantasie, welche der Strom der Zeit achtlos mit sich fortschwemmt, wie die Wellen eines Flusses den goldhaltigen Sand.

Freilich an Sand, in dem man trotz alles mühsamen Suchens keine Goldkörner entdeckt, fehlt es heuer in der Litteratur so wenig, wie in jedem Jahr an Most, der darum noch keinen guten Wein giebt, weil er sich absurd ge 132bärdet. Das war so zu jeder Zeit. Aber nicht eben oft ward es einer Zeit so leicht, aus der Masse des Schlechten und Mittelmäßigen so viel Gutes, ja Vortreffliches zu sondern, wie der unseren.

Ich spreche jetzt speciell von dem Gebiete der Erzählungskunst, das zur Zeit eine seltene Fruchtbarkeit aufweist und besonders im Jahre 1896 einen Ertrag geliefert hat, der über das Niveau einer guten Mittelernte nicht unbeträchtlich hinausreicht. War doch zu Weihnachten das Angebot so groß, daß, trotz der Güte der Ware, die Nachfrage nicht mehr mit konnte und der gesamte Bedarf des folgenden Jahres bereits gedeckt schien! Neben altrenommierten Firmen und neueren, auch schon bewährten, thaten sich allerneueste auf, die noch kein gewissenhaftester Kritiker in sein Register eingetragen hatte. Jetzt, nachdem der Drang des Marktes vorüber ist, Kisten und Kasten, Heu und Stroh abgeräumt sind, wird man erst des Segens froh; kann gemächlich zwischen den aufgehäuften Schätzen umherwandern wie in einer Bildergalerie; vor einem und dem anderen Stück, das der Beachtung vorzüglich wert scheint, sinnend stehen bleiben und zu den begleitenden Freunden bescheidentlich seine Meinung äußern.

Da ist zuerst Peter Rosegger mit seinem Roman: Das ewige Licht.

Wenn Goethe gelegentlich seine Dichtungen eine Generalbeichte nennt, hat er damit nichts, das ihm besonders zukäme, zum Ausdrucke gebracht: jedes Werk eines wahrhaften Dichters ist in dem Sinne, welchen der Altmeister hier dem Worte verleiht, eine Beichte.

Denn es giebt kein echtes Dichterwerk, das der Dichter nicht mit seinem Herzblut schrieb, in welchem er nicht sein geheimstes Denken, Schauen und Fühlen offenbarte, er mag 133 nun die Absicht gehabt haben oder nicht. Hat er sie nicht gehabt, wird wahrscheinlich die Beichte um so vollständiger, inniger, aufrichtiger gewesen sein.

Nicht als ob es sich dabei immer um ein Individuellstes zu handeln brauchte: eine Leidenschaft etwa, die dem Dichter über den Kopf zu wachsen droht, wie in den Wahlverwandtschaften; oder gar um ein wirkliches Vergehen, eine unabweisbare, die Seele bedrückende Schuld, obgleich auch solche Geheimnisse – man denke an Byrons Manfred! – immerhin als Unterströmung mitlaufen und auf Tendenz und Stimmungsfarbe des dichterischen Prozesses ihren geheimen Einfluß ausüben werden. Wie der Dichter sich im Verhältnisse zu seiner Zeit sieht und fühlt; ob er mit ihr gehen kann, sich zu ihr im Widerspruche befindet – auch das ist ihm eine Gewissenssache, eine heilige Angelegenheit. Mehr als anderen Sterblichen. Liegt doch hier der Schwerpunkt seiner irdischen Mission; sieht er sich doch hier vor seine ganz eigentliche Aufgabe gestellt, die er nur lösen kann, wenn er – um mit Fichte zu reden – sein Ich mit dem Nicht-Ich, welches die Welt ist, reinlich und gründlich auseinandersetzt.

Es hat Zeiten gegeben, wo diese Auseinandersetzung für den Dichter ein verhältnismäßig leichtes Geschäft war; Perioden, in denen ein gemeinsames, durch Gebrauch, Sitte, Religion allseitig ausgeglichenes Denken und Fühlen den Höchststehenden des Volkes mit dem Niedrigsten verband; der König gern bei seinem Sauhirten zu Gaste kam; das Ritterknie sich ebenso willig vor dem Heiligenbilde bog, wie das des Bauers; der Kriegsherr seinen Söldnern ein »Verfluchte Kerls, wollt ihr denn ewig leben?« zudonnern und auf ein zweifelloses Verständnis seiner Morituri rechnen durfte.

Wir Menschen fin de siècle sind nicht in dieser beneidenswerten Lage. Wir können kein rings umfriedetes 134 Idyllen-Dasein führen; nur noch das des Hinterwäldlers, der mit der geladenen Büchse an der Seite schläft. Die Amme Gewohnheit betrachten wir mit mißtrauischem Auge; was grau vor Alter, erscheint uns keineswegs heilig. Da ist die Kirche – wir wälzen unser schlummerloses Haupt auf dem Kissen, ob wir nicht morgen hingehen sollen und unseren Austritt erklären. Da ist die Kunst – wir schritten freudig unseres Weges, umgrinsten uns nicht überall Lemuren, die uns ein vorzeitiges Grab schaufeln möchten. Da ist der Staat – es ließe sich leidlich in ihm leben, wenn die greulichen Agrarier nicht wären, oder die dito Freihändler, oder die dito Reaktionäre, oder die dito Socialdemokraten. Da sind die vereinigten Staaten Europas, für die wir schwärmen; da ist der ewige Friede, nach dem wir uns sehnen; nur daß die schöne Zukunft in so nebelgrauer Ferne liegt und wir, bis sie kommt, doch lieber unser Pulver trocken halten wollen.

So wogt, schiebt, drängt, hastet, schreit, tobt es auf dem Weltmarkt. Und wir können und dürfen nicht mit verschränkten Armen, müßig gaffend, beiseite stehen. Wir müssen, wie wenig uns danach zu Mute sein mag, Partei ergreifen. Vor allem, wie wir sahen, muß es der Dichter.

Er ist kein Reichstags-, Landtags-, Bezirksvereinsredner, wenn er auch, wie sie, zur Sache zu sprechen verpflichtet ist. Nur daß er es auf seine Weise muß thun dürfen. Seine Weise aber ist, in Bildern zu sprechen und sich, wie der immer identische Proteus, in immer neue Gestalten zu hüllen, von denen eine oder die andere denn doch mit besonderer Vorliebe dem Ego als Alter ego substituiert wird. Walter Scott sah sich gern in der Maske eines frisch-frei-frommen jungen Landedelmannes; Goethe liebte die impressionabeln Zweiseelen- und Herzensmenschen. Wer Rosegger kennt, wird ohne weiteres zugeben, daß es ihm nicht schwer fallen 135 kann, sich die Rolle eines armen Waldpfarrers, sozusagen, auf den Leib zu schreiben.

Kennt er doch den Wald – den Wald da oben auf seinen steierischen Bergen – so gut wie wenige. Was Armut heißt – er weiß aus seiner Jugendzeit ein Lied davon zu singen. Und was den Pfarrer betrifft – den katholischen selbstverständlich – wie er ihn studiert hat, bis er sich mit ihm eins weiß, eins ist, dafür bietet sein oben genanntes jüngstes Werk den glänzendsten Beweis.

Der Nebentitel besagt, daß die Erzählung »aus den Schriften« des Helden genommen ist. Es sind darunter Aufzeichnungen zu verstehen, die er, der Mitteilungsbedürftige, aus Mangel einer teilnehmenden Seele für sich selbst macht. Ein Tagebuch also – die Romanform, welche – die Briefform etwa ausgenommen; aber wer bedient sich ihrer heute noch! – am leichtesten verunglücken kann, nur unter der Hand eines Meisters nicht verunglückt.

Als ein solcher bewährt sich Rosegger in diesem Werke, das trotz seines relativ bedeutenden Umfanges – es zählt 400 und einige Seiten – den Leser auch nicht einen Augenblick ermüdet, das Sprunghafte, Fragmentarische des Vortrages niemals empfinden läßt. Überdies stellt sich für den Sachkundigen bald heraus, daß hier, wie in jedem echten Kunstwerke, die Form nicht etwas Willkürliches, vielmehr durch die Natur der Aufgabe Gefordertes und die Schale ist, welche allein diesen Kern passend umschließen konnte. Handelt es sich doch nicht darum, einen dramatischen Knoten rasch zu schürzen, noch rascher zu lösen, sondern eine lange Zeit hindurch – vierzehn volle Jahre – den Helden zu begleiten bis an das Ende seiner Bahn.

Eine dornenvolle Bahn! Ein tieftragisches Ende!

»Kein Mensch,« ruft der Held einmal aus, indem er 136 einen jungen Menschen beschwört, die verlassene geistliche Laufbahn nicht wieder zu betreten, »kein Mensch kann heutzutage so schlimm enttäuscht werden als ein Weltpriester, der Ideale hat.«

Das ist das Thema probandum.

Ein Thema, das offenbar an jenes von Anzengruber in seinem »Pfarrer von Kirchfeld« behandelte vernehmlich anklingt.

Aber auch nur anklingt. Im Grunde ist es ein wesentlich anderes, wie es denn auch hier eine andere Behandlung erfährt und anders gelöst wird.

Der Pfarrer des Dramas tritt uns sogleich – in der großen Scene mit dem Grafen Finsterberg – als ein Mann entgegen, der seiner Sache sicher ist; sicher, daß er seine Ideale – nicht durchführen, wofür ja niemand sich zu verbürgen vermag – wohl aber gegen eine Welt verteidigen wird. Seine Priesterschaft kann man ihm nehmen, seine Überzeugungen muß man ihm lassen. An dieser seiner festen Haltung verändert das Stück nichts. Die Versuchung, die in der Liebe zu dem herzigen »Dirndl aus St. Jakob« an ihn herantritt, überwindet er; sie ist auch nur die Gelegenheitsursache, den latenten Konflikt zwischen ihm und seiner geistlichen Behörde zum Ausbruch und Austrag zu bringen. Was die Behörde auch beschließen mag – nach Canossa geht der Mann nicht. Er wird Gut und Blut und Leben für eine »freie Kirche« einsetzen und dafür, daß »die Ideen, welche die Zeit auf ihre Fahne schreibt, mächtiger sind als eines Menschen Wille«.

Das ist ein Stoff, wie er sich für ein Drama, besonders ein Volksstück, vortrefflich eignet: ein nicht fernes, kaum verschleiertes Ziel, dem mit raschen Schritten, kecken Sprüngen zugestrebt wird. Hier findet keine Entwickelung statt; man kann nur von einer Auswickelung, wenn man das Wort zulassen will, reden.

137Für den Romandichter liegt die Sache, ich will nicht sagen: schwieriger – was unentschieden bleiben mag, sich auch wohl kaum entscheiden läßt – aber ganz gewiß nicht so einfach, deshalb, weil er mit einer so gestellten Aufgabe nicht viel anzufangen wüßte, und sie sich eben anders stellen muß. Was nach meiner Auffassung dasselbe sagt, wie: seinem Helden einen andern Charakter, ein anderes Temperament zu geben genötigt ist.

Einen biegsameren Charakter, ein milderes Temperament, wie es nach einem alten bewährten Rezept für den Roman das Vorteilhafteste scheint. Auch dem Pfarrer von Kirchfeld ist die Liebe »das ewige Licht«; aber es ist, wie wir sehen, die streitbare Liebe. Für unsern Waldpfarrer ist es die des Korintherbriefes schlechtweg, die nicht eifert, alles verträgt, alles glaubt, alles hofft, alles duldet. Diese duldende Liebe ist sein Rüstzeug; ein anderes hat er nicht. Sie läßt ihn dem Bischof, der ihn für seine zaghaften humanitären Velleitäten grimmig abkanzelt und auf seine Strafpfarre schickt, demutvoll die Hand küssen; getrost seine Lenden gürten und zu dem weltvergessenen Dorfe hoch oben im Gebirge hinaufziehen, mit dem festen Vorsatze, als ein treuer Hirt für die siebenhundert Seelen zu sorgen, die »am Tage des Gerichtes der Herr von ihm fordern wird«. Läßt ihn langmütig und freundlich bleiben, so sauer auch seine trotzigen, rauflustigen Pfarrkinder mit den harten Herzen und engen Schädeln ihm das Leben machen; seinen atheistischen Küster, weil er sonst ein braver Kerl, im Dienste behalten; zu dem Mäuslein, das ihm das Öl aus der heiligen Ampel trinkt, sprechen: »Wenn du gar zu hungrig bist, labe auch du dich an dem ewigen Licht!«

Und mit seinen Bauern, so schlimme Gesellen sich auch darunter befinden, wäre er doch noch fertig geworden – in 138 dem Grunde dieser rauhen Herzen wurzelt trotz alledem des alten zweifellosen Glaubens mystische blaue Blume – nun aber drängt die Welt da draußen in sein umfriedetes Gebirgsthal. Erst vereinzelte Touristen und Bergfexe; dann Sommerfrischler in immer dichteren Scharen, bis aus dem stillen Bergdorfe ein fashionabler Kurort wird voller Vergnügungsjäger, Modenarren und -Närrinnen mit dem obligaten nichtigen Brimborium. Aus dem Kurorte wieder ein Industrieort, in dessen Zimmerholz- und Brettersägen, Glasfabriken, Hochöfen, Walzwerke, Kohlengruben Tausende von socialdemokratisch geschulten Arbeitern strömen, die den alten Glauben zum alten Eisen geworfen haben; den guten Pfarrer gründlich verhöhnen, als er einen christlich-socialen Verein unter ihnen stiften will; randalieren, skandalieren, revolutionieren und ihm in jeder denkbar widerwärtigsten Weise zu Gemüte führen, daß »die Ideen, welche die Zeit auf ihre Fahne schreibt, mächtiger sind als eines Menschen Wille«. Ach, und dieser eine Mensch will ja nichts, kann ja nichts als lieben, immer nur lieben! Das ist der Kampf der Ohnmacht gegen die Macht. In dem Bewußtsein, in diesem Kampfe hoffnungslos unterliegen zu müssen, unterlegen zu sein, bricht dem Manne das Herz, kommt ihm der Verstand aus dem Geleise, verfällt er dem Wahnsinn und sucht in der Felsenöde zwischen den Urwaldstannen Tag und Nacht mit der Laterne die siebenhundert Seelen, die er dem Herrn schuldet und von denen er keine einzige mehr finden kann.

Und was diesen Ausgang erst wahrhaft tragisch macht: der böse Feind, den er in der Welt da draußen – der neuen Welt, die sich auf den Trümmern der alten aufrichten will – sein greulich spukhaftes Wesen treiben sieht – er hat sich auch in seine Seele zu schleichen gewußt. 139 Der strenggläubige Priester von ehedem ist er nicht mehr. Wider Willen imponieren ihm diese neuen Menschen. Er findet, daß die Yark & Co. – die Gründer des Industrieortes – in der Zähigkeit ihres Willens und ihrer Thatkraft »andere Kerle sind, als unsereiner«. Es thut ihm beim Erwachen bitter leid, daß er der »napoleonische Soldat« nicht ist, als den er sich geträumt hat, mit den Kameraden fluchend, würfelnd um ein braunes Mädchen und dabei singend, was aus der Kehle geht: »Puli pap, pap! Puli bum! Im Böhmerland geht's um.« Er fragt sich zweifelssorgenvoll: »Sollte am Ende in jedem einzelnen die ganze Menschheit eingeschachtelt sein mit allen ihren Lastern und Lächerlichkeiten auch?« Als er in der Schule über »Gott, den Gerechten« lehrt, ruft ein friulisches Arbeiterkind: »Gott ist keiner nicht, hat mein Vater gesagt«; und ein anderes setzt rasch hinzu: »Aber ein Teufel ist, und das ist der Werksherr«. Er hat keine Hand, die vorlauten Buben zu züchtigen, und notiert trauernd-nachdenklich die gotteslästerlichen Reden in seinem Tagebuche. Schließlich stellt es sich heraus, daß er in einem inspirierten jungen Dörfler, der oben im Gebirge, halb und manchmal ganz nackt, ein wunderlichstes Einsiedlerleben führt, den »Ur-Christen« und sein Ideal sieht.

Ich sagte oben, daß in diesem Buche, wie in jedem echten Kunstwerke, eine Beichte niedergelegt sei, und lasse mich in dieser Behauptung nicht irre machen durch den Einwurf, es habe der gemütvolle Dichter, der von jeher sein weltlich Evangelium so frei predigte und mit so manchem launigen Schwank und Sang illustrierte, doch gar so wenig von einem strenggläubigen katholischen Priester. Einer frappanten Ähnlichkeit zwischen dem Dichter und seinem Helden bedarf es bei diesen gewollt-ungewollten, bewußt-unbewußten Selbstbekenntnissen durchaus nicht. Der katho 140lische Pfarrer lag dem Katholiken natürlich bequemer; ein protestantischer aber hätte es mutatis mutandis auch gethan. Oder gäbe es keine protestantischen Prediger, die einer Welt, in welcher der Kampf ums Dasein allerorten bis aufs Messer mit einer Verbissenheit geführt wird, die keinen Pardon kennt, den Gottesfrieden bringen zu können wähnen, so es ihnen nur gelänge, das verdunkelte »ewige Licht« in hellem Glanze strahlen zu machen? Und gläubig vertrauen, es werde ihnen gelingen? Und die wohl zusehen mögen, daß sich ihnen ihr »ewiges Licht« nicht zum schwelenden Flackerflämmchen einer Laterne wandle? Ja, braucht man gerade ein Priester zu sein, um zu erfahren, wie weh es thut, seine Ideale vor dem Widerstande der stumpfen Welt eines nach dem andern in den Staub des Alltagslebens sinken zu sehen? Nagen die Geier des Neides, der Scheelsucht, der Verleumdung nicht an jedem prometheischen Herzen? Erweist Unwert dem schweigenden Verdienst nicht allerorten jede nur erdenkliche Schmach? Und wieder: fehlt es in der Politik, der Wissenschaft, der Kunst, in allen Berufen an Schwachgemuten, deren Ideale nur deshalb zerbröckeln, weil sie sie vor dem eigenen ätzenden Zweifel nicht zu schützen vermögen? An würdelosen Feiglingen sogar, die bei dem neuen Pharao, der nichts von ihnen weiß und wissen will, um ein Ämtchen betteln? Wenn alle diese Unglücklichen ihre Beichte ablegten – das Publikum würde seltsame Dinge zu hören bekommen!

Die Beichte aber, die der Dichter seinem Werke anvertraut, hat das Unschätzbare, daß sie ihn von der Last und Qual, die auf seine Seele drückte, in seiner Seele wühlte, befreit und losspricht.

Und er nun mit frischem Mut und verjüngter Kraft, erhobenen Hauptes, seinen Weg weiterschreiten kann.

141 Für den Leser bleibt »Das ewige Licht« deshalb nicht weniger ein tief melancholisches Buch; also keine Lektüre für jedermann. Auch schon darum nicht, weil es alles, nur nicht »spannend« ist, wie der greuliche Leihbibliothekarausdruck lautet.

Ebenso wie ein anderes, das, wie weit ab es auch durch sein Thema, die Art der Behandlung, die Natur seines Autors von dem eben besprochenen zu rücken scheint, wenn man nur das düstere Kolorit auf sich wirken läßt, ihm seltsam nahesteht. Übrigens auch darin gleicht, daß es das Werk eines echten Dichters ist. Ich meine Georgs von Ompteda » Sylvester von Geyer«.

Dem Romancier, der sich vor die Aufgabe gestellt sieht, das vielgestaltige Leben getreulich abzuschildern, ist zweierlei aufs innigste zu wünschen: einmal, selbstverständlich, das rechte, gottbegnadete Talent; sodann – was nicht minder selbstverständlich ist, obgleich es nicht so scheint – eine möglichst reiche Erfahrung. Beides gehört durchaus zusammen: Talent ohne Erfahrung ist leer, Erfahrung ohne Talent ist blind. Die innige Verschmelzung des einen mit dem andern in der Seele des Dichters ist die conditio sine qua non eines Romans, einer Novelle, die auf mehr als den flüchtigen Zeitvertreib des Lesers und ein ephemeres Dasein Anspruch erheben.

Wie wenig Talent ohne Erfahrung vermag, können wir täglich mitleidsvoll beobachten an den Produktionen jugendlicher Verfasser beiderlei Geschlechts, die sich in immer bedrohlicherer Menge auf den belletristischen Markt drängen. Glaubt doch heute jeder und jede sich zum Schreiben berechtigt, dessen oder deren junge Brust eine erste Liebe in Wallung gesetzt hat; dessen oder deren unreifer Kopf über die Rätsel des Lebens eben zu grübeln beginnt! Nicht als ob es diesen gärenden Talenten – ich nehme an, daß 142 wirkliches Talent vorhanden ist – an jeglicher Erfahrung gebräche! Ein Stück Erfahrung ist schon da: eben jener erste Herzenskonflikt, jener erste Vorstoß in die Ideenwelt. Und weil diese Erfahrung so frisch ist, es sich hier um ein thatsächlich Selbsterlebtes handelt, das ohne banges Zagen und Zaudern, frei und fröhlich zum Ausdruck und zur Darstellung gebracht wird, umwittert solche Produktionen nicht selten ein eigener Zauber, der den Leser besticht, rührt und ihm frohe Hoffnungen auf die kräftige Fortentwickelung des »schönen Talents« erweckt, die – sehr selten in Erfüllung gehen. Das zweite Werk bleibt hinter dem ersten zurück, das dritte hinter dem zweiten. Zuletzt stellt sich heraus, daß der Verfasser, die Verfasserin nur ein Buch zu schreiben hatten. Mein verstorbener Freund Hjalmar H. Boyesen wollte diese Beobachtung hunderte von Malen in Amerika gemacht haben; wer die deutsche Belletristik mit Aufmerksamkeit verfolgt, kann mit demselben leidigen Resultat aufwarten.

Die Ursache liegt auf der Hand. Was dem Musiker, Bildhauer, Maler, Schauspieler, Sänger zum höchsten Vorteil gereichen mag: früh in sein Metier gekommen zu sein und die Technik seiner Kunst bewältigt zu haben, ehe er noch an die selbständige Produktion geht, kann leicht ein Verderben für den Romancier werden. Mit dem coin de la nature, das der Dichter durch ein tempérament sehen soll, hat es schon seine Richtigkeit. Nur daß dieser Winkel nicht zu spitz sein darf; er in dem Maße, als das Talent sich festigt, die Technik sicherer wird, weiter werden, größere Perspektiven eröffnen, dem Talent, der Technik verstatten muß, sich höhere Aufgaben zu stellen, fernere, stolzere Ziele aufzurichten. Dazu kommt es aber schwerlich, wenn der junge, zu früh in sein litterarisches Museum gebannte, vielleicht – und 143 ach! wie oft ist es der Fall! – in enge ökonomische Verhältnisse geklemmte Dichter die wirkliche große Welt nur an einem seltenen »Feiertage«, nur »von weitem« sieht; infolgedessen den Leser mit ermüdender Hartnäckigkeit immer wieder in denselben, einmal von ihm beobachteten Winkel blicken läßt; mit denselben studentischen und Backfisch-Reminiscenzen; den breiten Schilderungen derselben interesselosen jugendlichen Ausschreitungen und des obligaten Katzenjammers unterhalten zu können glaubt. Oder gar sich aufs Fabulieren ins Blaue legt und die Welt, die er nicht kennt – wie der Deutsche nach Heine das Kamel – aus der Tiefe seines Gemüts zu konstruieren sich vermißt.

Es gab eine Zeit – und sie ist noch nicht eben lange her – als das letztere zu unternehmen keineswegs für vermeßlich bei uns galt; ja, wo man es wohl als die Regel nehmen konnte, die nur von seltenen kühnen Ausnahmen unterbrochen wurde. Heute ist umgekehrt die Ausnahme Regel geworden, der sich fügen muß, wer nicht unerbittlich auf den Altenteil gesetzt sein will. Erfahrung und nochmals Erfahrung; Beobachtung und nochmals Beobachtung lautet die Parole.

Und da man Erfahrungen nicht wohl machen, Beobachtungen nicht füglich anstellen kann, man habe denn zu beiden die nötige Gelegenheit in ausgiebiger Fülle gehabt; eine derartige Gelegenheit sich aber nur dem bietet, der geraume Zeit im wirklichen, handelnden Leben stand; in ihm, von ihm odysseisch umgetrieben und so zum vielgeprüften Menschen wurde – im Sinne des Goetheschen Motto auf dem Titelblatt von Wahrheit und Dichtung – ist es da zu verwundern, wenn heute häufiger als sonst die Schar der Romanciers solche in ihren Reihen sieht, die ihre Lebenslehrjahre nicht in der Bücherei des Gelehrten, dem Bureau 144 einer Zeitungsredaktion, sondern im Kaufmannskontor, auf gefahrvollen Reisen im dunklen Weltteil, im Gerichtssaal, auf dem Kasernenhofe, dem Manöverfelde, dem Parkett vornehmer Salons, in der ahnungsvollen Heimlichkeit von cabinets particuliers durchgemacht haben?

Von diesen diversen Vorschulen stellt die des Soldaten auffallend viele Freiwillige zu der romantischen Gilde; und dazu darf man sich nur Glück wünschen. Mit ihren Genies freilich hält Mutter Natur schier überstreng Haus und einen Cervantes wird sie der darbenden Welt sobald nicht wieder schenken. Dennoch: eine bessere Vorbereitung zu dem Metier des Romancier als das Kriegshandwerk möchte es schwerlich geben. Stellt es doch seinen Mann möglichst früh fest in seine Schuhe; schmeidigt seinen Körper; schärft ihm die Sinne, öffnet ihm Aug' und Ohr; lehrt ihn die schwere Kunst des Gehorchens, die noch schwerere des Befehlens; die Formen und den Takt des Umgangs mit den Höchststehenden dieser Erde und dem gemeinen Mann; macht ihn vertraut mit dem soliden Glanze und dem glänzenden, ach wie so oft noch viel solideren Elend!

Die Vortrefflichkeit dieser Vorbereitungsschule scheinen die hervorragenden Leistungen zu beweisen, die wir auf dem Gebiete der Erzählungskunst gerade gewesenen Offizieren zu danken haben. Unter ihnen nimmt Georg Freiherr von Ompteda unbestritten eine der ersten Stellen ein.

Wenn nicht früher schon, so doch zweifellos nach seiner neuesten Leistung: dem Werke, dessen Titel oben genannt wurde.

Ich bekenne gern, seit langer Zeit keinen Roman gelesen zu haben, der mich innerlich so tief bewegt, den ich mit einem so herzlichen Gefühl der Befriedigung aus der Hand gelegt hätte. Dabei scheint das Thema das möglichst un 145ausgiebige. Was auch wäre Merkwürdiges an der Geschichte eines Jünglings aus verarmter altadliger Familie, der auf dem Gymnasium nicht recht fortkommt; als pis aller in das Kadettenkorps gesteckt wird; mit neunzehn Jahren es rite zu den Epauletten bringt; als Offizier in einer kleinen verschlafenen Garnisonstadt mehr oder weniger eifrig seine verdammte einförmige Pflicht und Schuldigkeit thut, um mit fünfundzwanzig Jahren, nicht im freien Feld, auf grüner Heid', sondern im Bett an einer landläufigen Krankheit zu sterben, ohne irgend etwas erlebt zu haben, was über das Alltagsleben auch nur um eines Strohhalms Breite hinausginge? Und an dessen Wiege keine einzige der neun Musen die kleinste Gabe dargebracht hat? Der im Gegenteil ein ganz gewöhnliches Menschenkind ist: der richtige Durchschnittsmensch, aus dessen Munde eher ein Mäuslein springen würde als ein geistreiches Wort? Dessen Leistungen in dem eigenen Fach ebenso auf dem Alltagsniveau bleiben und sicher immer geblieben wären? Ein übrigens von Herzen guter, grundehrlicher Mensch, was nach einem, freilich etwas hochmütigen Worte Lessings so herzlich wenig bedeuten will?

Und doch! und doch!

Weshalb verfolgt man die Schilderung dieses armen, armseligen Lebens, das so dahinschleicht – ohne Wirbel, ohne Welle, langsam sich fortbewegend wie ein Wiesenbach zwischen seinen flachen, einödigen Borten – mit einer Teilnahme, die von einer Seite, auf der nichts vorgeht, zur andern Seite, wo abermals nichts geschieht, ständig zunimmt, als hätte man es mit einer sensation novel zu thun? Weshalb wächst man mit den Schicksalen dieses nüchternsten aller Romanhelden zusammen so innig, als wären es die eines geliebten Bruders oder Sohnes? Teilt redlich seine bescheidenen Freuden und seine Alltagsleiden? Hofft, wünscht, 146 zweifelt, verzweifelt, amüsiert sich, ach! und enuyiert sich mit ihm – alles, als begegnete es uns selbst? Und ertappt sich an mehr als einer Stelle dabei, trotzdem keine sogenannte »schöne« in dem ganzen Buche ist, daß einem die Augen heiß werden, wohl gar eine Thräne aus den Wimpern langsam auf die anspruchslosen Blätter tropft?

Ich weiß nur eine Antwort darauf: Die Verse in Freiligraths feierlich schönem »Requiescat«:

Und auch dies ist Poesie,
Denn es ist ein Menschenleben.

Hier liegt das Geheimnis: ein simpelstes Menschenleben, aber uns vorgeführt und dargestellt in seinen intimsten Details, seinem feinsten Geäder, rund und ganz. Die souveräne, ungeheure Kraft der Wahrheit, die auf sich selbst ruht und sich selbst verbürgt. Die, trotzdem sie ja nur eine der Kunst, völlig als Natur erscheint – naiv unbefangen, achtlos der Wirkung, die sie auf uns übt, wie das Wirken und Walten der Natur – und die gerade deshalb sich als unwiderstehlich erweist.

Wahrheit! nichts als Wahrheit! Aber auch die ganze Wahrheit?

Ich möchte sagen: nein, und meinen, daß hier – in diesem mehr oder weniger der Wiedergabe des in der Wirklichkeit Beobachteten – der Unterschied liegt zwischen dem französischen und deutschen Realismus. Wenn Zola sich dieselbe Aufgabe stellte, die unser Dichter auf seine Weise gelöst hat, würde er ohne Zweifel an seinem Objekt eine häßliche Seite, eine partie honteuse aufstöbern; uns kein noch so unfreundliches Detail seiner mikroskopischen Beobachtung erlassen. Auch keinesfalls verabsäumen, mit langen Reihen von terminis technicis zu prunken; durch sorgfältiges Nachbilden der Sprachweise in den betreffenden Kreisen sich 147 den Anschein einer noch ganz besonders tiefen Sachkenntnis zu geben und dem Leser das Verstehen zu erschweren.

Unser Autor ist nach beiden Seiten zartfühlender, bescheidener. Daß er von den Requisiten des naturalistischen Romans à la Zola, auf die ich hier hindeute, die erstere völlig in seiner Gewalt hätte – man braucht nur an die toll übermütigen Geschichten in »Unter uns Junggesellen« zu denken, um darüber nicht in Zweifel zu sein. Aber jede Mutter kann diesen Roman, der zum größten Teil unter jungen unreifen Burschen spielt und frisch gebackenen Offizieren, denen eben der Bart sproßt, ihrer Tochter getrost in die Hand geben. Und von dem »Jargon« hören wir nur gerade so viel, wie das Kolorit der Gedanken- und Empfindungssphäre, in der wir uns bewegen, notwendig macht und die Schilderung des Metier, mit dem wir es zu thun haben, ungezwungen mit sich bringt.

So ist denn »Sylvester von Geyer« eine überaus erfreuliche Erscheinung, und der Leser wird, wenn er das Buch aus der Hand legt und er ein sinniger Mensch ist, wie ich annehme, noch lange so still vor sich hin sitzen, Betrachtungen nachhängend, die das Buch in ihm erweckt hat. Unter anderen über die fürchterliche Gleichgültigkeit, mit der die Walze des modernen Lebens über Tausende und Tausende von Existenzen weggeht, sie knickend und platt auf den Boden drückend, wie nutzloses Kraut. Und wie diese Gleichgültigkeit doch wohl nur eine scheinbare ist und das plattgewalzte Kraut den Humus bildet, aus dem das Leben eines Volkes seine Kraft zieht. Die sich zusammensetzt aus zahllosen Imponderabilien, von denen doch jede ins Gewicht fällt. Und weiter, daß, wenn wir heute im stande sind, diese kleinen und kleinsten Größen genauer zu wägen und zu messen, als es frühere Generationen ver 148mochten, wir diesen Fortschritt der modernen Kunst verdanken mit ihrem liebevollen Sichversenken in das Detail, ihrer, der Wissenschaft entlehnten, Achtung vor dem scheinbar Unbedeutendsten.

Nur ist dabei eines zu bedenken. Diese realistische Methode, so große, in die Augen springenden Vorzüge vor der älteren idealistischen sie hat, muß dafür doch einen schweren Preis entrichten. Den Preis der Großheit und Heiterkeit, welche die Merkmale der echten idealistischen Kunst sind. Man kann eben in der Kunst wie im Leben nicht alles zu gleicher Zeit haben und sein. Aber ich meine, die realistische Kunst, muß sie schon auf gewisse idealistische Prärogative verzichten, könnte und sollte, den Verlust möglichst wett zu machen, öfter und eifriger die Hilfe eines Genossen in Anspruch nehmen, der sich ihr willig bietet, nur auf ihre Einladung zu warten scheint.

Ich sehe aber diesen Genossen in dem Humor. Seltsam, wie unbeachtet er heute am Wege unserer Realisten steht, während ihre sehr gescheiten Vorfahren, die englischen Romanciers des achtzehnten Jahrhunderts, lustig über den Graben sprangen, ihn an beiden Händen ergriffen und eifrigst baten: Sei unser Gesell! zieh mit uns unsere Straße! Und doch könnte das Beispiel eines unter ihnen, in dem sie mit Fug ihren Großmeister verehren, sie darüber belehren, welche unschätzbare Vorteile der Bund gewährt, wenn man ihn ehrlich schließt und gewissenhaft hält. »Effi Briest« ist gewiß auch ein melancholisches Buch, aber traurig macht es uns nicht. Wir lächeln mit dem Dichter über die Menschen, die so sehr viel mehr thöricht als schlecht sind. Und wenn wir uns in tiefsinnige Spekulationen über die Abgründe in unserer Brust versenken wollen, bleiben wir doch lieber davon und sagen mit Effis Vater: »Das ist ein zu weites Feld.«

149 Ja, Theodor Fontane versteht es meisterlich, mit dem Humor Hand in Hand zu gehen, und ist eben deshalb, oder doch nicht zum wenigsten deshalb, der große Meister. Ein wie großer, das hat er neuerdings wieder in seinen Poggenbuhls bewiesen. Mein Gott, was ist das für eine Liliputwelt, die er da vor uns aufbaut! Sie ähnelt in vieler Beziehung der in dem »Sylvester« Omptedas, und auch dort macht uns der Dichter die Misere, die er nun einmal schildern wollte, durch Humor erträglich. Aber Fontanes ist doch breiter, behaglicher; ist, ich möchte sagen: souverän. Und mußte es hier sein. Denn die Misere in der Poggenbuhlschen Familie ist noch viel gründlicher als die in der Geyerschen. Und was diese kleinen Menschlein treiben, denken, sprechen, im Grunde noch wesentlich unbedeutender. Vielmehr nicht im Grunde, dem tiefen Grunde, in den uns der Dichter blicken läßt, und der unergründlich dunkel sein würde, schiene nicht das Licht seines Humors hell hinein. Hell und goldig, das Kleine und Kleinste mit feinem holden Schimmer umkleidend, daß wir es nun in seinem Wert und seiner Würde schätzen und verehren lernen. Und wieder einmal begreifen, wie sich das Große und Größte aus ihm aufbaut; unter anderem der preußische Staat nicht wäre, müßte er auf seine Poggenbuhls verzichten. Auf die Zähigkeit, mit der in so ganz verarmten Familien die Tradition heilig gehalten; die Kraft der Resignation, mit der die bitterste Entbehrung ertragen; die Großmut der Treue, mit der an dem Staate festgehalten wird, der für sie, die ihm ihren letzten Blutstropfen zu weihen jederzeit bereit sind, schlechterdings nichts thut.

Wie mißlich es um die realistische Kunst steht, die den Bund mit dem Humor verschmäht (vielleicht aus demselben Grunde, der manchmal den Kaiser verhindert, zu seinem 150 Rechte zu kommen), kann man an nur zu weiten Partien unserer modernen Novellistik beobachten, nicht zum wenigsten an I. R. zur Megedes Roman Unter Zigeunern. Nicht als ob es diesem Autor, der, soviel ich weiß, erst ganz neuerdings in die Schranken getreten ist, an Talent fehlte! Ich spreche ihm sogar ein großes zu und will – im ganzen wenigstens – die Welt, die er uns zeigt – meinetwegen: das Stück Welt, le coin de la nature, um mit Zola zu sprechen – als richtig gesehen und richtig dargestellt gelten lassen. Aber wie trostlos häßlich ist diese Welt! Wie können wir uns beim besten Willen so gar nicht dazu bringen, an diesen Menschen herzlichen Anteil zu nehmen, ihre Lose fallen nun süß oder sauer! An diesen blasierten Männern mit den Tigerkrallen in den Glacéhandschuhen! diesen raffinierten Weibern, deren jedes Lächeln Lüge ist! Und dann – der Autor möge es mir verzeihen! – wenn ich auch, wie gesagt, die Richtigkeit seiner Zeichnung im allgemeinen willig zugebe, im einzelnen kann ich mich gelinder Zweifel nicht erwehren. Ich glaube doch, mein Berlin, in dem ich seit über ein Menschenalter wohne, auch einigermaßen zu kennen und bin insonderheit während der langen Zeit durch recht viele Salons gekommen; aber durch keinen, wie er ihn schildert und den er gewissermaßen zum Mittelpunkt seines Bildes macht. Anklänge an solche, die ich seiner Zeit frequentierte, o ja, die finde ich; ich glaube sogar, ich könnte hier und da eine Person bezeichnen, die ihm Modell gesessen hat. Ich werde mich wohl hüten, es zu thun. Von ihren Zügen sind nur die genommen, die ihnen nicht gerade zur Schönheit gereichten, und noch dazu so vergröbert und verzerrt, daß aus dem Unschönen ein abschreckend Häßliches wird. Darüber will ich mit dem Autor nicht rechten; das ist eine Freiheit, die dem Dichter gestattet 151 sein muß, oder er mag sein Metier nur aufgeben. Aber ich finde die Gesellschaft, die sich in dem »Salon Linker« versammelt, aus gar zu heterogenen Bestandteilen komponiert. Ich glaube nicht, daß die schöne, feinfühlige, im Grunde tugendhafte Frau Professor hineingehört, oder zum zweitenmal den schlanken Fuß über die Schwelle gesetzt hat. Vor allem bezweifle ich aufs äußerste den Einfluß, der diesen Herren Litteraten vierten und fünften Ranges zugeschrieben wird, und der so weit gehen soll, daß sie nach Belieben einen litterarischen Ruhm kreieren oder vernichten können. Es wäre auch schlimm, wenn sie es könnten; wenn die Hauptmann, Sudermann, Fulda ihre Kränze aus solchen Händen entgegennehmen, von solchen Händen zerrissen sehen müßten. Nein! es giebt Gott sei Dank noch Richter in Berlin; nur im »Salon Linker« verkehren sie nicht.

Die realistische Kunst hat ein zweites Mittel, ihre Gebilde von dem Odium des Banalen und im schlimmen Sinne Prosaischen, das ihnen nur zu leicht anhaftet (in den Augen vieler existiert es freilich nicht), zu erlösen: wenn sie nämlich versteht, das Dämonische, welches die Wirklichkeit viel öfter birgt, als es scheint, zu entdecken und zu entfesseln. Zola hat es – im Germinal z. B., in La bête humaine, in L'œuvre und sonst – meisterlich verstanden. Zur Megede streift in dem eben besprochenen Roman wiederholt daran. So hat Frau Lo in der infernalischen Kälte ihres Herzens etwas, das an das Dämonische grenzt; einen Schritt weiter, und die infernalische Region thäte sich uns voll auf.

Sie thut es in der Novelle Kismet, nach welcher der sie enthaltende Band trotz der zwei zugegebenen Piecen: Frühlingstage in St. Surin und Schloß Tombrowska, mit Recht den Titel führt. In diesen beiden kommt das 152 Landschaftliche: die Ufer des Genfersees dort, die Wüstenei unserer polnischen Grenzlande hier – sehr gut heraus, wie denn auch sonst in dieser Richtung eine der Hauptstärken unseres Autors liegt. Aber in den »Frühlingstagen« ist die Erfindung nicht eben originell, der novellistische Konflikt von keinem hervorragenden Interesse, die Lösung unschwer vorauszusehen. Im »Schloß« wird ein starker Ansatz zum Dämonischen gemacht, der eben schon um deshalb mißlingen mußte, weil – es ist eine Gespenstergeschichte – die spukenden Herrschaften uns nicht im mindesten interessieren.

Anders steht es mit »Kismet«. Abgesehen von allem anderen haben wir es hier mit einer schön in sich abgerundeten Komposition zu thun, in der die Ausführung der einzelnen Teile nichts zu wünschen läßt. Die handelnden Personen – es sind eigentlich nur zwei – stehen mit greifbarer Klarheit vor uns: er, ein geschwenkter Kavallerieoffizier, der in dem abenteuerlichen Leben, das er nun zu führen gezwungen, mit einer Energie, durch die er sich unsere Teilnahme sichert, gegen den Untergang siegreich kämpfte und es schließlich zu einer bescheidenen bürgerlichen Stellung brachte. Nun kann er ein armes Mädchen heiraten, daß ihn in seinem Glanze als schneidigen Steeplechase- und Manöverreiter gesehen, bewundert, geliebt hat. Aber ein Wurm nagt an der holden Blüte des jungen Eheglücks. Sie kann sich nicht vergeben, daß er durch sie in einer ihm unwürdigen Armut festgehalten, durch sie um eine Zukunft, die sie sich trotz alledem in höchstem Glanze ausmalt, gekommen sein soll. Das ist so menschlich, so echt weiblich. Sie liebt den Geliebten so, daß sie, wie sie selbst sagt, ihn aus der Alltagsmisere zu retten, ein Verbrechen begehen könnte. Und sie begeht das Verbrechen. Auf der Rückreise 153 von Rom, wo er für sein Haus eine bedeutende Summe einzukassieren hatte, verspielt sie in Monte Carlo das Geld, das er ihr zur Bewahrung anvertraute, und nimmt sich, da ihr brennender Wunsch, ihn reich zu machen, in fein fürchterliches Gegenteil umgeschlagen, das Leben. Er versucht, die Schuld auf sich zu lenken, und folgt ihr freiwillig in den Tod. So denn hat sich sein »Kismet«, sein Fatum, an das er, der alte Spieler, festiglich glaubt, als das Dämonische, Unwiderstehliche, des Menschenwillens Spottende ausgewiesen. Um so grausiger, als nicht er direkt das Unvermeidliche heraufbeschwört, sondern das geliebte Mädchen, das durch ihre Liebe ein Teil von ihm geworden ist, den seine Vergangenheit ein für allemal jenen Mächten ausgeliefert hat, von welchen Wallenstein sagt, daß keines Menschen Kunst sie vertraulich macht.

Wie vortrefflich diese Novelle ist und wie freudig man den Dichter zu ihr beglückwünschen darf, ich müßte fürchten, mein bißchen kritisches Renommee einzubüßen, hätte ich gar keine Ausstellungen zu machen. Die erste bezieht sich auf die Unwahrscheinlichkeit, ja, Unmöglichkeit, daß ein zum Tode verwundeter Mensch, dessen Stunden gezählt sind, bei einer Fiebertemperatur von vierzig Grad zu dieser ausführlichen, detaillierten, vortrefflich stilisierten, schriftlich-eigenhändigen Relation seiner Fata im stande sein soll. Es wird dem idealistischen Dichter so sehr verargt, wenn er »gesteigerte Gestalten« schafft; da darf man doch wohl von dem realistischen erwarten, daß er weder in den Voraussetzungen seines Werkes, noch im Werke selbst uns Dinge zumutet, bei denen selbst Judäus Apella, der Heilige der Leichtgläubigen, den Kopf schütteln müßte. Und ist es wahrscheinlich, daß der Held die Summe, die er in Rom auskassiert hat – 80 000 Mark – bar bei sich führt? Und wenn hier nicht eine Anweisung 154 an der richtigen Stelle gewesen wäre – ist es motiviert, daß er seiner Melitta das Geld, von dem er sich sonst Tag und Nacht nicht trennt, anvertraut, weil er einen Spaziergang in die Berge machen will, während sie unwohl im Hotel zurückbleibt? Das schmeckt doch allzusehr nach Absicht, nach dem Streben, die Katastrophe quant même herbeizuführen.

Was ich oben über den problematischen Wert eines Erstlingserfolges gesagt, möchte ich nicht auf eine Arbeit bezogen wissen, die, was ihren ästhetischen Gehalt betrifft, sich wohl mit »Kismet« messen darf. Ich meine: »Die Siegerin« von Clara Sudermann. (Wien, Wiener Mode.)

Die Dame, Hermann Sudermanns Gattin, tritt meines Wissens hier zum erstenmal mit einem Buche vor das Publikum; aber sie handhabt die spröde Form der Novelle mit einer Sicherheit und Gewandtheit, die eine vielfache Übung voraussetzen. Das sehr schwierige Thema: der Verrat der jüngeren an der älteren, von ihr, soweit sie lieben kann, geliebten Schwester – ist vorzüglich durchgeführt. Die Charakterzeichnung beider: der älteren, verheirateten, die ganz Sanftmut und Liebe, der jüngeren, welche in der Welt eine Auster sieht, die sie sich auf jeden Fall öffnen will, ist ohne Bruch und Tadel. Nicht minder die des Vaters Oberförster, dessen äußere Korrektheit mit seiner Herzenskälte so vortrefflich paktiert; des weichen, unentschlossenen Liebhabers, des brutal-egoistischen Gatten. Das ländliche Milieu: die Oberförsterei, der Wald, das adlige Gut trefflich herausgebracht. Dabei, wie es für den geschulten Novellisten heutzutage einfach obligatorisch ist, nirgends eine direkte Schilderung, nirgends eine grelle Farbe, alles in feinen Übergangstönen – symbolisch für die zwischen Gut und Bös, Kraft und Haltlosigkeit schwankenden Menschen. 155 Jede Scene, ohne daß man den Umriß merkt, reinlich von der vorhergehenden, der folgenden sondernd; einzelne, wenn sie den Stoff dazu in sich tragen, von hinreißender Macht der Darstellung. So die unmittelbar vor der Hochzeit der jüngeren Schwester, als die ältere den geliebten Mann in den geschmückten, hell erleuchteten Zimmern allein findet; sie in unwiderstehlichem Drange sich zum erstenmal in die Arme sinken; ihr sittlicher Instinkt der Frau sagt, daß die Ehe, die da eben geschlossen werden soll, eine moralische Ungeheuerlichkeit, ein Verrat an dem Heiligsten ist; der Heroismus ihrer Liebe sofort nach dem einzigen Ausweg drängt, der ihnen bleibt; und der Feigling von Mann sich nicht zur Flucht entschließen kann, den Augenblick der Rettung versäumt und den nächsten herbeikommen läßt, der beide für immer elend macht – klein, wie die Scene ist, so groß ist sie gedacht, mit so – ich möchte sagen: elementarer Kraft ist sie ausgeführt.

Und das humoristische, das dämonische Element?

Ich habe nicht gesagt, daß die realistische Dichtung es überall erfordert, sondern nur da, wo sie trivial zu werden droht.

Aber an der »Siegerin« ist nichts trivial, am wenigsten der Titel mit seiner schneidenden Ironie.

*

Der Standpunkt des älteren Naturalismus: es sei der Nachweis ihrer Wahrheit der völlig ausreichende Rechtstitel jedweder künstlerischen Schilderung, darf jetzt wohl als überwunden gelten. Freilich nur in der Theorie; in der Praxis ist sein Ansehen längst nicht gebrochen. Er hat da noch Anhänger, sehr strebsame, sehr talentvolle sogar; und so ist es nicht sowohl verstattet, sondern geboten, auf den nur schein 156bar veralteten Satz, der die Wirklichkeit dauernd mit solcher Kraft beeinflußt, von Zeit zu Zeit zurückzukommen.

Liegt es doch auch auf der Hand, wie es den Künstler reizen muß, wenn er die Virtuosität seiner Technik, seiner Mache, in der naturgetreuen Wiedergabe eines Gegenstandes leuchten lassen kann! Und ist dieser Gegenstand ein häßlicher, abstoßender, widerwärtiger, um so besser. Er pflegt derbere Züge, eckigere Konturen und, wenn nicht glänzendere, so doch drastischere Farben zu haben, als der schöne, anziehende, anmutende. Das hat den doppelten Vorzug der größeren Leichtigkeit in der Wiedergabe und der bedeutenderen Wirkung auf das Publikum. So rentiert sich die Armeleutemalerei (in Farben und Worten); und der socialdemokratische Zug der Zeit spricht seinen Segen über den humanen, gesinnungsvollen Künstler. Nicht daß er um diesen Segen buhlte! durchaus nicht! Seine socialpolitischen Ansichten können in eine ganz andere, vielleicht die entgegengesetzte Richtung weisen; möglicherweise hat er überhaupt keine (was ihm ja, als Künstler, nicht zum Verbrechen gemacht werden kann). Nein! jener Segen kommt ihm ganz ungewollt von oben, weil er eine Saite berührte – als Künstler nur, ganz absichtslos –, die in der Brust des modernen Menschen eine so starke Resonanz hat.

Diese Extravergütung wird dem naturalistischen Künstler aber keineswegs zu teil, wenn seine Wahl auf einen Gegenstand fiel, mit dem in der Wirklichkeit des Lebens niemand Sympathie hat und haben kann: weder der Konservative, noch der Radikale; weder der Skeptiker, noch der Gemütsmensch; der vielmehr allen gleich verhaßt und widerwärtig ist, die natürlich ausgenommen, welche sich sogleich verstehen, sobald sie in einem gewissen Element zusammentreffen. Ich will damit nicht etwa auf Pierre Louys »Aphrodite« und 157 ähnliche pornographische Romane französischer Provenienz hingedeutet haben. Einmal handelt es sich in diesen Artikeln ausschließlich um deutsche Novellistik; sodann liegt das Genre, das ich meine, in einer anderen Richtung, nach der man harmlose Wanderer freilich auch nicht weisen darf, aus welcher man sich aber bald wieder rettet, mit einem gesunden Gefühl gründlichen Abscheus freilich, aber ohne sonst an seiner unsterblichen Seele Schaden gelitten zu haben. Denn wie widerwärtig auch das hier geschilderte Laster sein mag – verlockend, verführerisch ist es ganz und gar nicht. Die Sorte Laster, von der uns I. R. zur Megede (s. den I. T. des Artikels!) in seinem »Unter Zigeunern« einen unerfreulichen Vorschmack gab, nur daß andere uns dasselbe Gericht, sehr viel kräftiger gewürzt und mit einer weitaus pikanteren Sauce, vorsetzen, ohne es dadurch schmackhafter zu machen. Es könnte einem weh thun, den prächtigen Georg von Ompteda in dieser Gesellschaft zu sehen; und daß man ihn da sieht, ist ein Beweis, welche dämonische Anziehungskraft die Aufgabe, ein häßliches Objekt in seiner ganzen Abscheulichkeit wahrheitsgemäß zu schildern, auf den Künstler, der sich seiner Kraft bewußt ist, ausüben muß. Er hätte sonst seinen Roman Drohnen sicher nicht geschrieben. Auf der Welt wird niemand den Dichter von »Sylvester von Geyer« und »Unser Regiment« – den treuherzigen, gemütvollen, ritterlichen – auch nur einen Moment in dem Verdacht der Sympathie haben mit dem Gelichter, dessen unerfreuliche Bekanntschaft er uns in »Drohnen« machen läßt. Verworfenes Gelichter der schlimmsten Sorte, diese Lebemänner bei »Westfal unter den Linden«: Spieler, Schlemmer und Demmer mit den obligaten Dirnen! Wüstlinge – rien de plus! Keine Spur höherer Geisteskultur, von Geist schon gar nicht zu reden! Nichts, absolut nichts, 158 das einem doch in etwas mit dem moralischen Schmutz, der hier aufgedeckt und aufgewühlt wird – man kann nicht sagen: versöhnte – wer und was könnte einen mit Schmutz versöhnen? – aber ihn uns doch ein wenig erträglicher machte! Der einzig halbwegs Anständige – meinetwegen im Grunde Anständige – zieht sich bald von der Bande zurück. Einen Helden hat die Geschichte nicht, darf sie ja auch, als realistisches Produkt strenger Observanz, nicht haben.

Das Lob realistisch-naturalistischer Kraft und Wahrheit, welches dem Roman zweifellos zukommt, würde aus meinem Munde noch viel heller ertönen, könnte ich es auf seine Ehrenqualitäten hin besser kontrolieren. Dazu aber – ich gestehe es zu meiner Beschämung – fehlen mir die einschlägigen Kenntnisse, Erfahrungen. Doch habe ich von Eingeweihten gehört: es habe alles seine Richtigkeit.

Mit der nackten Gemeinheit, welcher der naturalistische Dichter so mutig auf den häßlichen Leib geht, hat sich Konrad Telmann sehr, sehr selten eingelassen, und wenn er es, wie »Unter dem Strohdach«, ganz gegen sein Empfinden, dennoch that, sehr zum Schaden seiner poetischen Seele. Denn mit dem Pathos, in dem seine Stärke liegt, ist der Bestie nicht beizukommen; seine realistische Kraft aber erwies sich nicht so groß, daß die Wahrheit der Schilderung die Abscheulichkeit des Geschilderten bis zu einem gewissen Maß vergessen machen konnte; und das Götterkind Humor war ausgeblieben, als so viele Genien sich vereinigten, an seiner Wiege Gaben darzubringen.

Wackerer Konrad Telmann! Mann, in dem kein Falsch war! edler Dichter! Als ich, diesen Artikel beginnend, mir die letzte seiner Novellen »Lukretia« zur Besprechung zurücklegte, lebte er – krank, wie immer; aber ihn krank zu sehen, an der Pforte des Todes – daran waren wir ja seit Jah 159ren gewöhnt, hatten wir uns gewöhnen müssen; jedes als einen Gewinn betrachtend, dessen Sommer ihn aus seiner italienischen Verbannung auf ein paar Wochen in seine nordische deutsche Heimat führte. Denn, wie tief Italiens blauer Himmel und ragende Pinien seine schönheitsdurstige Seele befriedigen, wie wohlig die lauen italienischen Lüfte seine kranke Brust laben mochten; wie tief er in italienische Kunst und Litteratur eingedrungen war; wie viele Stoffe zu Novellen, Romanen und Gedichten der Aufenthalt im Süden ihm gewährt hatte – er war und blieb ein Deutscher vom Scheitel bis zur Sohle; deutsch in seinem Denken und Empfinden; in der innigen leidenschaftlichen Teilnahme, mit der er aus der Ferne den Gang der vaterländischen Dinge verfolgte; wo er glaubte, daß es nötig sei und nützen könne, mit feurig beredten Worten in die Debatte eingreifend. Nun hat uns – vor wenig Monden erst – die Trauerkunde seines Todes ereilt. Da – in dem Schmerz um seinen Verlust – will sich ein kritisches Licht, das eines, wohl längst nicht das bedeutendste seiner Werke streift, wenig geziemen; da müßte man die Summe seines litterarischen Daseins aufmachen. Und es wäre keine so schwere Aufgabe trotz der langen Reihe seiner Werke und der Verschiedenartigkeit der Themata, die sie zum Vorwurf hatten. Er blieb sich nach den ersten, etwas schwerfälligen jugendlichen Versuchen, in denen er von starken, ihm selbst freilich sicher völlig unbewußten Anlehnungen an Schriftsteller, die er für musterhaft halten mochte, nicht freizusprechen ist, seltsam gleich, bis er sich in seiner letzten Zeit in seinem Schaffen von der »Moderne« mehr als recht beeinflussen ließ. Ich meine: mehr als ihm recht und der Art seines Wesens und Dichtens vorteilhaft schien. Denn wie klar auch sein Blick war und wie scharf er zu sehen vermochte, seine Art blieb 160doch die idealistische, welche die Dinge nicht lassen kann, wie sie ursprünglich beobachtet sind, sondern an ihnen modeln und bilden, sie aus der brutalen Lokalfarbe in ein abgetöntes Licht rücken, aus dem pragmatischen Zusammenhang nehmen und in einen anderen stellen muß, der das, was dem Künstler als »Idee« vorschwebt und worauf es ihm im Grunde allein wirklich ankommt, zur Geltung bringt oder doch zu bringen scheint. Wo er diesem seinem innersten Drange nachtwandlerisch folgt, leistet er Vortreffliches; wo er ihm untreu wird – es ist, wie gesagt, nur in seiner letzten Periode der Fall, und die hätte er sicher bald überwunden –, thut er es denen nicht gleich, deren Hand naturalistisch geschult war, wenn auch ihre künstlerische Begabung sonst an die seine nicht hinanreichte. Und in seiner eigentlichen Sphäre? der der idealistischen Kunst? Es wäre ja unhaltbar, wollte man ihn zu den Großmeistern, den führenden Geistern rechnen. Er, der so hoch von seiner Kunst dachte, würde für eine solche Behauptung nur ein Lächeln gehabt haben. Sein Talent äußerte sich durchaus in einer mittleren Sphäre des Vermögens, über die hinaus es sich nicht erheben, unter die herab aber auch nicht sinken konnte, ungleich dem Genie, das neben seinen Götterbildern auch Fitzliputzis, oder – was viel betrüblicher ist – ganz hausbackenes Zeug schafft. Er gehört zu der Species überaus schätzbarer Künstler, ohne die weder das Theater noch die Litteratur bestehen kann; die, da die Genies, die Schöpfer, höchst sparsam gesäet sind, sonst in die Hände der Nichtse fallen, d. h. zu Grunde gehen müßten. Sie, welche die Garriks freilich nicht ersetzen können, aber auch keine schwierigste Rolle verderben, keinen »Faust« schreiben, aber auch keine »Aufgeregten«; sie, denen die große Tradition etwas Hochheiliges ist, das sie denn auch so halten – sie sind es, die den Thespiskarren über 161 eine sonst allzu öde Strecke hinausführen auf grünes Land, das Schiff der Litteratur aus einer rücklaufenden Ebbe in frische Flut. Darum sind sie unschätzbar und alle ihnen zu innigster Dankbarkeit verpflichtet, die großen Genies vielleicht am allermeisten. Würden sie es doch trotz alledem kaum weiter bringen als der unglückliche Sisyphus, wenn der Stein, an dem ihre Kraft erlahmt – einmal erlahmt ja auch die größte –, von diesen wackeren Händen vor dem völligen Zurückrollen in den tiefsten Abgrund nicht bewahrt würde!

Sehr viel schwerer in eine bestimmte Rubrik unterzubringen ist ein anderer, jüngerer Schriftsteller, der die happy few, die ihn kennen, höchlichst interessiert und sehr viele interessieren würde, nur daß sie ihn leider nicht kennen. Ich spreche von dem Hamburger Otto Ernst.

Schon seine Vielseitigkeit macht dem Kritiker zu schaffen, denn er ist Novellist, Dramatiker, Lyriker, Essayist, gelegentlich Humorist und Satiriker pur sang. Die eigentliche Schwierigkeit, über ihn zu einem abschließenden Urteil zu gelangen (soweit von einem solchen bei einem Schriftsteller die Rede sein kann, der sicher noch eine lange Bahn zu durchlaufen hat), liegt wo anders. Nach gewissen Symptomen wäre man geneigt, ihn zu den ganz Modernen zu rechnen; nur daß da wieder andere Seiten sind, wegen derer man ihn als Idealisten ansprechen möchte. Zu den ersteren zähle ich seine Neigung zur Armeleutemalerei in der obligaten pessimistisch dunkelsten Farbengebung; das trotzig kecke Herauskehren seiner Subjektivität, mag darüber die künstlerische Form immerhin geschädigt werden; zu den letzteren sein tiefes, manchmal bis zur Sentimentalität weiches Empfinden; seine entschiedene Neigung zur Träumerei mit offenen, sonst so hellen Augen. Aus seiner Schwärmerei für Goethe läßt sich kein Schluß ziehen: der steht so hoch, daß er von sehr 162 weit auseinander gelegenen ästhetischen Standpunkten unter demselben Gesichtswinkel der Bewunderung gesehen wird.

Wie ist solchem Proteus beizukommen? Es würde mir ein leichtes sein, die Quintessenz seines Wesens klarzustellen, dürfte ich ihm durch alle seine wechselnden dichterischen Metamorphosen folgen. Das muß ich mir hier leider versagen: es darf mich hier nur der Novellist näher angehen. Aber das Talent dieses Mannes hat eine so entschiedene Prägung – cachet nennen es die Franzosen –, man unterscheidet seine Produktionen mühelos von denen anderer Talente; sie haben zwar alle unter sich die family likeness, die der gute Pfarrer von Wakefield bei seinen sämtlichen Kindern non sine gloria konstatierte; nicht im mindesten die Allerweltsähnlichkeit – Gott sei Dank!

Also der Novellist Otto Ernst. Hier stock ich abermals. Unter seinen bis jetzt herausgekommenen Werken (sämtlich bei Konrad Kloß, Hamburg) befinden sich allerdings zwei – nebenbei nicht eben starke – Bände, von ihm Novellen und Skizzen genannt, mit den Separattiteln »Aus verborgenen Tiefen« und »Kartäusergeschichten«. Man müßte also billig von dem »Novellenschatz« die Skizzen abziehen. Es blieben dann etwa sechs Piecen, unter denen der Dichter Novellen verstanden haben wird, neben sieben, für die er selbst eine andere Bezeichnung vorzog. Nun ist Skizze ein vieldeutiger Begriff, und so läßt sich vielerlei unter ihn subsumieren. Mit der Novelle steht es anders und besser. Zwar schwankt auch ihre Definition in der Ästhetik; aber man glaubt doch zu wissen, daß sie die Erzählung einer merkwürdigen Begebenheit sein soll. Das ist sie denn auch bei den alten Meistern, denen sich noch unser Kleist ruhmreich anreihte. Dann haben früher und später große Künstler, wie Goethe, Tieck, Brentano, Storm, Keller, 163 Heyse – und wer wäre da nicht noch zu nennen! – das alte, etwas enge und trockene Schema erweitert und bereichert, bis das Gebilde schließlich eine frappante Ähnlichkeit mit den letzten Akten oder dem letzten Akte eines Dramas hatte, von denen oder dem es sich fast nur noch durch das Wegbleiben der dialogischen Form unterschied.

Nun käme man in große Verlegenheit, wäre man gezwungen, die »Novellen« Otto Ernsts der einen oder der anderen Kategorie zu überweisen. Einige, wie »Anna Menzel«, »Der Tod und das Mädchen«, »Der Herr Fabrikant« scheinen mehr in die erste, die man sonst auch wohl Erzählung nannte, zu gehören; andere wieder, wie »Die Kunstreise nach Hümpeldorf«, »Der Kartäuser«, »Überwunden« in die zweite aufgeschlossenere, reichere. Schließlich kommt man dahin, zu thun, was man gleich hätte thun sollen: sie als das zu nehmen, was sie sind: durchaus eigenartige dichterische Gebilde, bei denen vielleicht das Was, das Stoffliche, nicht immer von packendem Interesse ist, dafür aber desto mehr das Wie: wie der Dichter den Stoff behandelt hat. Oder, wenn das auf das Technische hinauszuwollen scheint (woran ich hier durchaus nicht denke): wieviel und was er von seinem Temperament – um mit Zola zu sprechen –, von seinem Gemüt, seinem Geist, seiner Weltanschauung – wie ich es ausdrücken möchte – in die Geschichte, die er uns erzählt, die Verhältnisse, mit denen er uns bekannt macht, hineingelegt hat. Hinein hat legen müssen, wäre richtiger, weil er nichts erzählen und schildern kann, ohne daß ihm das Herz dabei aufgeht oder zusammenkrampft; und er, was in dem Herzen jubiliert oder klagt, heraus sagen, singen, schmettern, stöhnen muß. Thackeray macht einmal die Bemerkung: wieviel köstliche Bücher es wohl geben würde, wenn die Verfasser, was ihnen während des Schreibens sonst durch 164 Herz und Hirn gegangen, am Rande notiert hätten. Nun, er hat von der Freiheit des Notierens am Rande reichlichen Gebrauch gemacht, und in der That sind diese (dann allerdings in den Text, so gut es ging, verwebten) subjektiven Parabasen nicht das am wenigsten Köstliche an seinen Romanen.

Ähnlich ist es bei Otto Ernst. Ein paar Beispiele für hunderte.

Ein armer geplagter Schullehrer korrigiert die Schülerhefte, in halb wahnsinniger Qual und Verzweiflung über das ewig wiederkehrende: tu aimes ton père …

»Wie schmeichelnd strömt der Duft des Abends herein!

Wie Kinder in der lauschigen Abenddämmerung, so spielen meine Gedanken unermüdlich im Zauber der dunkelnden Luft. Immer wieder ruf ich sie herein ins Haus – und immer wieder entrinnen sie mir, den Verlockungen des Abends gehorsamer als mir.«

Wir haben es hier allerdings mit Tagebuchaufzeichnungen zu thun, wo solche Exkurse (wenn man den Geist und das Herz dazu hat) wohl berechtigt sind. Aber sie kommen unserem Dichter auch in geschlossenen Erzählungen, wie in der »Reise nach Hümpeldorf«. Unter Hümpeldorf hat man sich ein beliebiges Dorf in der Nähe von Hamburg zu denken, und in diesem Augenblicke besteht die Reise darin, daß zwei Freunde (die Helden der Geschichte) dorthin (wo der eine von ihnen sein Liebchen wohnen hat) eine Wanderung machen, wobei der eine (der Verliebte) immer hundert Schritte voraus ist, der andere hinterdrein. »So hielten wir es auf Spaziergängen, und selbstverständlich wurde nicht gesprochen.« Man kann Hamburgs Umgegend – von gewissen Partien der Flußufer abgesehen – nicht romantisch nennen: Äcker, Wiesen, holsteinische Heckenwege. »Nur hier und da am Wiesenrand oder fern am Horizont ein paar einsame, träu 165mende Bäume.« Wohl! Und nun lese man die folgenden Seiten, auf denen der Dichter die Gesichte schildert, die dem hinter dem Freunde herschlendernden Freunde in dieser reizlosen Umgebung kommen! Wie da jedes Bäumchen, jede Hecke, jedes Rasenplätzchen, jeder Grabenlauf, jede Hügelwelle Sprache gewinnt, Erinnerungen weckt, so lieb und traut, so zart und duftig – wir wandern durch elyseische Gefilde, bis uns des Freundes Zuruf aus unseren Träumen weckt.

Derselbe Dichter aber in seinen Armeleutegeschichten – wenn es sich darum handelt, uns vor die pure, nackte Wirklichkeit zu stellen – mit welcher nichts verlindernden, nichts verkritzelnden Gewissenhaftigkeit waltet er seines traurigen Amtes! Siehst du, mein Freund, aus so hohlen Augen blickt das Elend! aus so frechen glotzt die Brutalität! Hörst du? so wimmert der Jammer! so wiehert die Gemeinheit! Aus diesen Geschichten (deren Krone »Anna Menzel« sein dürfte) ist der Humor verschwunden, die spielende Anmut gewichen; die Phantasie scheint sich in ihnen zu grausamer Wahrhaftigkeit versteinert zu haben. Zolas Doktrin feiert ihre Triumphe.

Glücklicherweise ist Otto Ernsts Naturalismus kein langweiliger Pedant, wie der des großen Meisters von Meudon. Im Gegenteil! er ist, wo es nur geht, zu Konzessionen geneigt; legt gern die strenge, magistrale Miene ab und läßt uns in das Gesicht eines Schalks blicken, voll Witz, Laune und übermütigen Possen trotz Yorik. So schon in den Novellen, wenn sich irgend der Raum dazu bietet; so noch viel mehr in den Skizzen, die, weil ihre Themata eigens dazu gewählt sind, dem Dichter volle Freiheit gewähren, seinen Humor über Stock und Stein zu tummeln. Da geht es denn freilich nicht gar zimpferlich zu. Le rire est un enfant nu, sagt Balzac; und wer nackte Kinder nicht sehen mag, 166 bleibt besser von dem Schauspiel weg, das uns anderen eine wahre Herzerquickung ist. Wie Hans von Bülow in »Hans im Glücke« die »Eroika« dirigiert und mit dem Herrgott konversiert, wird mancher frommen Seele Schauder erwecken; freie Geister bewundern in der kleinen himmlischen Anekdote ein Prachtstück jenes Humors, der vor nichts Respekt zu haben scheint, während der Grundzug seines Wesens doch tiefste Ehrfurcht vor dem Hohen und Heiligen ist.

Des ist die freudige Rührung Zeuge, mit welcher der sinnige Leser den zuletzt erschienenen Novellenband der Frau aus der Hand legt, die zweifellos die größte ist unter den lebenden deutschen Dichterinnen, und mit der man unter den dahingeschiedenen nur Annette von Droste in einem Atem nennen darf. Und mir steht Marie von Ebner-Eschenbach sogar noch höher als das geniale westfälische Freifräulein: mir deucht, bei ebenbürtiger poetischer Gestaltungskraft, ist ihr geistiger Horizont weiter, ihre Welt- und Menschenkenntnis umfassender und tiefer, ihr Herz reicher, ihr Humor süßer, ihr Witz leichter beschwingt. Von den beiden Erzählungen, die der Band enthält: Rittmeister Brand und Bertram Vogelweid, zeigt jede neben den anderen besonders jene letzteren unschätzbaren Vorzüge in gleich reichem Maße. In beiden sind die Helden für die sogenannten vernünftigen Leute Narren: der Rittmeister mehr im Stile Don Quichottes, dem ritterliches Denken, Fühlen und Handeln, es koste nun, was es will, selbstverständlich ist; Bertram Vogel, genannt Vogelweid, der Feuilletonist, in dem Genre des köstlichen Mr. Bramble in Smollets Humphry Clinker, der die dear sensibility seines überweichen Herzens, um sie vor Schädigung zu bewahren, in das Stachelgewand der Satire und des kaustischen Witzes hüllt. Es gehört der Mut eines starken Herzens dazu. Gestalten wie diese 167 auf der novellistischen Bühne von heute auftreten zu lassen vor einem Parterre, das für idealistischen Schwung nur ein skeptisches Lächeln hat; die Handlungen, die aus solcher Denkungsart fließen, mit dem Maßstab seiner nüchternen Alltagsweisheit mißt und sie dann selbstverständlich mindestens höchst extravagant und, bei Licht besehen, äußerst unwahrscheinlich, ja völlig unmöglich findet. Unmöglich! Was ist diesen klugen, respektablen Leuten nicht alles so! Ich weiß ein Lied davon zu singen. Wie oft habe ich nicht zu hören bekommen: »Alles ganz schön und gut, Verehrtester; aber dergleichen giebt es ja nicht! das kommt ja nicht vor! Ein Gefängnisdirektor, der seine Sträflinge herausführt, eine Wassersgefahr, die der Stadt droht, zu bekämpfen! Der Mann gehört ins Irrenhaus!« Und es ist noch kein Jahr vergangen, da melden die Zeitungen aus Schlesien nicht einen ähnlichen, nein! den völlig identischen Fall, nur daß der Held der Wirklichkeit seine Schar in ihre Mauern zurückgeleitet, der des Romans aus dem Kampfe mit dem Element als toter Sieger von ihr heimgetragen wird. Das alte Wort: truth is stranger than fiction, sie wollen es ja nicht glauben, die Neunmalweisen! Und da bewundere ich die Meisterschaft unserer Dichterin, die sich als Eideshelfer der Wahrhaftigkeit ihrer Gebilde den Humor herbeiruft, der mit scheinbarer Mitleidlosigkeit und völliger Inpietät seine Lichter über sie hinspielen läßt, daß alle Schroffen, Ecken und Kanten haarscharf hervortreten, und der Philister sagt: Verrückt ist der Kerl freilich; aber lachen muß man über ihn doch! – Was hat der nicht alles gewonnen, der den Philister zum Lachen bringt! und ihm, der sich über die dumme Welt so erhaben fühlt, gerade in diesem Augenblick des selbstgefälligen Triumphes die Ahnung wenigstens wirklicher Erhabenheit in die nüchterne Seele schmuggelt!

168 Und ein zweiter Beweis der künstlerischen Vollreife der bewunderungswürdigen Frau.

Goethe sagt gelegentlich: der Humor verdirbt zuletzt alle Kunst. Das hat seine volle Geltung, wenn man den Accent auf »zuletzt« legt; will sagen, wie Sterne in Tristram Shandy, den Humor fessellos schalten läßt, worüber dann freilich das Kunstwerk in Stücke geht. Unsere Dichterin ist so klug, wie sie weise ist. Sie sagt zu dem übermütigen Gesellen: bis hierher und nicht weiter! nicht einen Schritt! Innerhalb meiner künstlerischen Kreise darfst du dich tummeln, wie du magst; stören darfst du sie mir nicht! So sind denn die beiden Erzählungen, wie frei und ungeniert auch der Humor in ihnen rumort, wirkliche Novellen, dichterische Darstellung einer merkwürdigen Begebenheit, in welcher alles Handlung ist, die ohne Unterbrechung fortschreitet, den Personen Gelegenheit gebend, in den Konflikten, in welche sie geraten, ihr Innerstes herauszukehren.

Das ist viel; höher steht mir ein anderes.

Je älter ich werde, um so wertvoller wird mir bei der Betrachtung eines Kunstwerks der Blick, den es mich in die Seele seines Schöpfers, in sein tempérament thun läßt. Ich übersetze aber den französischen Ausdruck nicht mit »Temperament« – was nach meiner Ansicht einen ganz schiefen Sinn giebt – sondern etwa mit Gemütsverfassung, in der ja allerdings, was wir gemeiniglich unter Temperament verstehen, ein immerhin wichtiger Faktor ist. Durch diese Gemütsverfassung – das Resultat und der Niederschlag seiner durch natürliche Veranlagung, Erfahrungen, Erlebnisse, Nachdenken, Studien formierten Weltanschauung – muß der Dichter, der Künstler jedes Objekt sehen, das er zur Darstellung bringt. Und sie ist es im letzten Grunde, was über das Interesse, welches wir an dem Dichter nehmen, über 169 den Grad des Wohlwollens oder der Abneigung entscheidet, mit dem wir uns zu ihm hingezogen, von ihm abgestoßen fühlen. Das Subjekt trägt über das Objekt, der Darsteller über das Dargestellte, das Wie über das Was den Sieg davon; ist uns das Wichtigere, Merkwürdigere in dem Dichter Phänomen. Die Erinnerung an das Werk kann und wird im Laufe der Zeit bei uns verblassen; das Bild, das wir uns aus ihm und seinen Geschwistern von dem Urheber gemacht haben, bleibt; ja wird sich nur noch immer mehr vertiefen. Du hast die Einzelheiten von »Rittmeister Brand«, »Bertram Vogelweid«, vom »Gemeindekind«, »Lotti« u. s. w. vergessen, so gut wie vergessen. Sobald der Name Marie von Ebner genannt wird, umweht es dich wie Blumenduft aus einem Sommergarten; atmest du in einer Atmosphäre, in der es unerlaubt ist, ein häßliches Wort über die Lippen zu bringen, einer unlautern Empfindung nachzuhängen.

Ein Gewinn, mit dem kein anderer zu vergleichen ist. Die Bewunderung hoher Menschen erhöht uns selbst; in den Momenten inniger Verehrung einer wahrhaft schönen Seele streifen wir von uns ab, was uns ja sonst leider alle bändigt.

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