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ΠΑΝΤΑ ΡΕΙ.

Uraltes, orphisches Wort von unergründlicher Tiefe,
   Wie der Abgrund, in dem Faustus »die Mütter« befragt.

Das Spinozistische: Suum esse conservare bedeutet, in unsere moderne Anschauungsweise und Sprache übersetzt, nicht mehr und nicht weniger, als: »der Kampf ums Dasein.« Denn da, was ist, mit allen Kräften ringt, sich in seinem Sein zu behaupten; hinter dem aber, was ist, eine Welt steht, die dasein möchte, und ebenso alles daran setzt, ins Dasein zu gelangen, tritt Schillers Wort in Kraft: »Wo eines Platz nimmt, muß das andre rücken. Wer nicht vertrieben sein will, muß vertreiben; da herrscht der Streit; und nur die Stärke siegt.« Freiwillig weicht eben keiner. Höchstens findet einmal ein ganz Weiser, wie I. Kant, daß alt werden für den Betreffenden eine Unbilligkeit gegen die jüngere Generation einschließe, die doch Raum für ihre Existenz haben will und muß. Das Leben nimmt sich deshalb auch der ganz Weise nicht. Der nicht Skrupulöse sagt gelassen: J'y suis, j'y reste. Verdränge mich, wenn du kannst! Wobei er sich mit der Hoffnung schmeichelt, der andre werde es nicht können. Oder sich wenigstens, ist er seiner Sache nicht ganz sicher, einzureden sucht, daß jener seinen Platz einzunehmen keineswegs verdiene; er selbst infolgedessen es nicht mit einem legitimen Nachfolger, sondern frechen Usurpator zu thun habe. Ist man dann ein Franken 2könig Chlodwig, schlägt man ganz einfach dem Frechling mit der Streitaxt den Schädel ein; überantwortet ihn, als konstitutionelle Regierung, dem Staatsanwalt; schickt ihn, als Zar, nach Sibirien; schleudert, als Papst, gegen ihn den Bannstrahl und setzt seine Bücher auf den Index; bekämpft ihn, als Schriftsteller, mit Broschüren und Zeitungsartikeln; macht ihn, als Professor, vom Katheder herab seinen Beifall trampelnden Schülern lächerlich – alles zu dem identischen Zweck: die Macht, die man hat, den Einfluß, den man ausübt, die weltlichen Vorteile, die einem diese Macht, dieser Einfluß gewähren, wenn es und soweit es möglich, zu konservieren.

Das ist so klar und einfach; so tief in der Menschennatur begründet – es versteht sich von selbst.

In diesem Kampfe ums Dasein nun, der keinen Gottesfrieden kennt, befindet sich der aktuelle Platzinhaber seinem Gegner gegenüber in der wesentlich günstigeren Position. »Sei im Besitze, und du wohnst im Recht; und heilig wird's die Menge dir bewahren.« Die unkritische Menge, die den Besitztitel gelten läßt, ohne seine Legalität zu untersuchen; ohne danach zu fragen, ob das behauptete Recht nicht möglicherweise doch nur ein Scheinrecht oder verjährt oder sonst brüchig und hinfällig geworden ist.

Da wird dem andern nun die mehr oder weniger schwierige Aufgabe, jenen Rechtsboden, auf dem das Alte steht, in seiner Zerbröckelung und Schadhaftigkeit aufzudecken; den Nachweis zu führen, daß es nicht mehr im stande ist, als der feste Grund zu dienen, auf dem inzwischen neu entstandene Verhältnisse sicher ruhen und sich weiter entwickeln können.

So mühen sich seit Jahren an diesem Nachweis gegenüber der bestehenden Gesellschaftsordnung die Socialdemo 3kraten ab. Mögen, sagen sie, der Wunderglaube, den ihr Religion nennt; eure monarchisch-konstitutionelle Regierung; eure kapitalistische Wirtschaft früher immerhin, weil sie den Verhältnissen entsprachen, zu Recht bestanden haben – heute sind sie schreiendes Unrecht. Eure Religion zwingt uns zum Austritt aus der Kirche, oder macht uns zu Heuchlern; euer Königtum von Gottes Gnaden mit seiner feudalen Gefolgschaft und seiner Beamtenhierarchie ist ein trauriger Anachronismus in den Augen eines mündigen Volkes, das sich selbst zu regieren gelernt hat; eure Wirtschaftstheorie und Praxis liefert Millionen, die denselben Anspruch, wie ihr, auf ein menschenwürdiges Dasein haben, rettungslos dem Proletariat und seinen fürchterlichen Folgen aus. So denn, da eure Institutionen offenbar den aktuellen Verhältnissen nicht mehr gewachsen sind, ja, ihnen Hohn sprechen, müssen sie fallen und dem socialdemokratischen Gemeinwesen Platz machen, als der den jetzigen Kulturzuständen der Menschheit einzig und allein homogenen Form.

Vermutlich werden das die Redner der Partei noch recht oft wiederholen und ihre Blätter es drucken müssen, bevor ihnen ihrer Mühe Lohn wird, denn »hart im Raume stoßen sich die Sachen«.

Nun sollte man meinen, es werden in der Welt der Gedanken, die ja bekanntlich »leicht bei einander wohnen«, dergleichen nötig gewordene Besitzveränderungen im Handumdrehen vor sich gehen. Aber das ist keineswegs der Fall. Auch hier will man durchaus den Platz nicht räumen, auf dem man solange mit Ehren gesessen; auch hier die Thür nicht öffnen, an welche, die da draußen stehen, ungeduldig pochen.

Beweis: die Fehde, welche auf den Gebieten der schönen Litteratur und Kunst zwischen den Anhängern der älteren 4 und den Verfechtern der neueren Richtung nun bereits solange geführt wird; eine Fehde, welche die Wohlwollenden auf beiden Seiten gern schließen möchten und doch nicht schließen können, weil sie nicht im stande sind, die Quelle zu verstopfen, aus der sie fließt.

Denn in Kunst- und litterarischen Dingen verhält es sich nicht anders als in socialen. Wie dort eine Wirtschaftsform sich nur dadurch legitimieren kann, daß sie die Bedürfnisse der aktuellen Gesellschaft befriedigt, so ist die Rechtfertigung einer bestimmten Kunst und Poesie ihre Übereinstimmung mit dem jeweiligen Kulturzustande ihres respektiven Volkes; oder, es anders zu sagen: der von ihr zu führende Nachweis, daß sie die Mittel hat, diesen Kulturzustand zu einem möglichst adäquaten poetisch-künstlerischen Ausdruck zu bringen. Wie die homerischen Gesänge, die attische Tragödie und Komödie, die deutsche Heldendichtung, der Minnesang, die Dramen Shakespeares und seiner Genossen, die Poesie Corneilles und Racines, Goethes und Schillers wohl als ein solcher Ausdruck gelten dürfen. Ja, man könnte behaupten: cum grano salis jede zeitweilige Poesie und Kunst, solange man in ihren Schöpfungen ein treues Spiegelbild der aktuellen Gesellschaft erblickte. Das war ihre Aufgabe und ihr Rechtstitel. Vermochte sie die Aufgabe nicht mehr zu erfüllen, erlosch der Rechtstitel, und es blieb ihr nichts, als einer andren Platz zu machen, welche durch die That bewies, daß sie der Aufgabe gewachsen sei.

So denn wird es von dem schnelleren oder langsameren Tempo, in welchem sich die Umbildung der kulturellen Verhältnisse vollzieht, abhängen, ob Poesie und Kunst einer schnelleren oder langsameren Wandlung unterliegen sollen. Ihre Wandlung selbst ist notwendig und unaufhaltbar.

Wobei es gar nichts verschlägt, daß man in der Welt 5Litteratur und -Kunst hier und da auf Werke trifft, welche die Zeit von ihrer Entstehung bis heute überdauert haben und nach menschlicher Voraussicht noch lange überdauern werden. Für wen? für die happy few einer exquisiten Bildung, deren geringe Zahl mit der Zeit immer geringer werden dürfte. Wenn bereits Horaz die Entdeckung zu machen wagte, daß der gute Homer manchmal schlafe, so darf man sich nicht wundern, wenn der Enthusiasmus eines Herman Grimm für die Ilias als Ganzes und in jeder Einzelheit heute nicht mehr vor Spott sicher ist. Führt einem jetzigen Parterre den Lear vor, und seid gewiß, der alte König wird dem weitaus größeren Teile zweifellos kindisch erscheinen, nur in einem andren Sinne als der Dichter beabsichtigte und seine Bewunderer wünschen. Der blutige Scherz, daß der Wallenstein des Drama spreche und sich geriere, wie ein geheimer Hofrat, der von der fixen Idee eingenommen ist, der Herzog von Friedland zu sein, hat für die Ohren sehr vieler längst nichts Blasphemisches mehr. Aber für uns handelt es sich gar nicht um einzelne, auserlesene, das gewöhnliche Maß auf unbegreifliche und unnachahmliche Weise überragende Werke. Denn unsere Frage lautet: Kann man von der Masse der Menschen einer bestimmten Kulturepoche vernünftigerweise erwarten und verlangen, sie solle Freude haben an der Gesamtheit der Kunst- und Litteratur-Produktion einer vorausgegangenen Periode, in welcher sie ihr Spiegelbild nicht mehr zu erblicken vermag? Worauf denn die Antwort lauten muß: Nein! Darf man ihr immerhin, wie der klassisch-griechischen, einen relativ hohen Wert beimessen – zum täglichen Brot, das die Notdurft der Seele stillt, taugt sie nicht mehr. Jede Periode hat ihr unbestreitbares Anrecht auf ihre eigne Kunst und Litteratur.

6 Hieran unmittelbar schließt sich eine andere Frage, die uns in den Mittelpunkt unserer Betrachtungen führt: Ist denn nun die Wandlung, welche in den – sagen wir: – letzten zwei Menschenaltern die Kulturverhältnisse erfahren haben, so groß, daß sie eine andere Litteratur und Kunst notwendig macht?

Die Frage wäre mehr als unvorsichtig, wollte sie sich nicht sofort begrenzen und auf die deutschen Verhältnisse einschränken. Mögen sich zwischen den Metamorphosen, die wir durchzumachen, und denen, welche die andern Kulturvölker zu befahren hatten, noch so viele Parallelen ziehen lassen, und mag die Aufgabe noch so leicht und interessant sein – die unsere ist sie nicht. Und daß auch nach dieser Einschränkung im knappen Rahmen eines kurzen Aufsatzes von einer detaillierten Geschichte unserer Entwickelung in den letzten Jahrzehnten nicht die Rede sein kann, der Leser vielmehr die Güte haben muß, sich mit Andeutungen zu begnügen, liegt auf der Hand.

Wir brauchen für unseren Zweck nicht einmal zwei Menschenalter zurückzugehen. Noch vor dreißig Jahren war unser Vaterland politisch und auch vielfach kulturell in zwei große, sehr diskrepante Heerlager geteilt, wobei ich der nördlichen politischen Enclaven des deutschen Südens: Hannover, Hessen, Sachsen nicht weiter gedenken will. Der Krieg von 1866 mußte kommen, die Mainlinie wenigstens aus der politischen Geographie Deutschlands zu entfernen. Aber sehr viel fehlte daran, daß auch die Herzen und die Seelen sich gefunden hätten. Denn hier bildete nicht etwa ein Strom die Grenze; zwischen ihnen klaffte ein viel tieferer Riß; und der keineswegs zu lokalisieren, sondern hic et ubique war. Da gab es einen älteren Stamm von Leuten, die der große Napoleon als Ideologen bezeichnet haben würde; einen andern 7 jüngeren, der sich lieber von praktischen Gesichtspunkten leiten ließ, und als dessen representative man – obgleich er dem Lebensalter nach zu der ersten Kategorie gehörte – man Bismarck nehmen darf. Jene waren noch durch die Schule Kants und Hegels gegangen; verehrten in Goethe und Schiller die niemals zu übertreffenden poetischen Dioskuren; waren auf Mozart und Beethoven eingeschworen; politisch in ihrer Gesinnung Republikaner und nicht wenige von ihnen hatten 1848 ihre Doktrin praktisch bethätigt; immer bereit, für jede Emancipation einzutreten – die der Juden nicht in letzter Linie; in dem Kriege mit Österreich, der hereindrohte, sahen sie ein crimen laesae majestatis populi germanici. Nun aber das crimen wurde begangen; Österreich hatte sich ein für allemal nicht weiter in deutsche Angelegenheiten zu mischen, die fortan von Preußen allein besorgt wurden mit freundnachbarlicher Hinzuziehung der andren Staaten, denen es aus diesem oder jenem Grunde ihre Existenz und einen minimalen Rest von Selbständigkeit gelassen hatte. Was 1866 begonnen, vollendete 70-71: Deutschland als kompakte Weltmacht war geschaffen. Gar nicht so, wie die Ideologen es gewünscht und geträumt. Was blieb ihnen übrig, als sich in die veränderten Verhältnisse wenigstens äußerlich zu schicken, im Herzen Groll und Mißmut bewahrend. Nur ganz Geschmeidige unter ihnen brachten es fertig, mit den leitenden Männern der neuen Zeit eine intime Fühlung zu gewinnen.

Desto leichter fanden sich die jüngeren in die so gründlich veränderten Verhältnisse, in welche die noch jüngeren ja erst hineingeboren wurden, um in ihnen aufzuwachsen. Von Ideologie war bei ihnen wenig mehr zu spüren. Die Welt war eine Auster, die es zu öffnen galt. Erfolg wurde Trumpf. Mit der Philosophie hatte man gründlich gebrochen. Man 8 glaubte Schopenhauer aufs Wort, daß Hegel ein Charlatan gewesen sei; aber von Schopenhauers Mystizismus und Weltverneinung wollte man, nachdem man eine Zeitlang pessimistisch für ihn geschwärmt, auch nicht mehr viel wissen. Der Pessimismus steht ja, besonders jüngeren Gesichtern, soweit ganz gut; aber er ist verzweifelt unpraktisch; und eine Welt, die man erobern will, zu verneinen, ist, recht betrachtet, ein Nonsens. Waffen zu schmieden, mit denen man sie erobert, darauf kommt's an. Die Naturwissenschaften sind solche Waffen. Es leben die Naturwissenschaften! Es lebe Darwin, der uns mit seiner Lehre von der Descendenz und Anpassung gezeigt hat, wie's gemacht wird! Die etwaige erbliche Belastung ist freilich eine üble Sache. Aber ist man auch in der Wahl seiner Eltern in unverantwortlicher Weise beschränkt, und infolgedessen vielleicht etwas zu kurz gekommen, muß man es durch geschickte Anpassung wieder einzubringen suchen; auf die Gefahr hin, ein Streber genannt zu werden – als ob nicht selbst der ideale Goethe dem immer strebend sich Bemühenden die Krone zuerkannt hätte! – sich den Wünschen der Machthaber gefügig zeigen; in dem neuen Kurs zu steuern wissen; vorsichtig sein in der Wahl seiner Freunde; Feinden, denen von vorn nicht gut beizukommen ist, in den Rücken fallen; lieber noch in den Rücken fallen lassen von irgend einem Mohren, der gehen kann, wenn er seine Schuldigkeit gethan; und so alle Künste üben, von deren rücksichtsloser Anwendung der Nietzsche'sche Übermensch nicht zurückschrecken darf, will er sich in dem erdrückenden Gewimmel der Herdenmenschen den ihm gebührenden Raum schaffen. Wobei er denn freilich in eine Reihe höchst unbequemer Widersprüche geraten kann mit seinem Herzen, das von Haus aus gut und weich ist, und seinem Verstande, der das fatale logische Denken nicht lassen 9 will. Und Herz und Verstand raunen ihm zu, daß die Sache der socialdemokratischen Herdenmenschen, bei Licht besehen, eigentlich recht viel für sich hat; ist denn wirklich, was dem einen recht, dem andern billig. Nach Utopien wird die Reise freilich nicht gehen; aber vielleicht doch nach einem Lande, wo die armen Teufel, wenn nicht ihr sonntägliches Huhn im Topf, so doch mit Weib und Kind ein leidliches Auskommen haben. Und dann, man ist ein geistreicher Mensch. Soll einem da die Angst nicht Spaß machen, mit der die beati possidentes lauschen, ob der Bataillonschritt der Enterbten etwa schon herandröhnt, oder ob man noch die fällige Couponserie in Ruhe abschneiden kann? Auch ist die Intelligenz, die diese Herdenmenschen an den Tag legen, eigentlich respektabel, und Bebel doch der einzige im Reichstage, den anzuhören sich der Mühe verlohnt. Und dann ihre straffe Disciplin, ihr organisatorisches Geschick; ihr Überzeugungsmut in einer Welt, in der sonst keiner mehr von irgend etwas überzeugt ist; die Schneidigkeit, mit der sie in Schrift und Wort für ihre Doktrinen eintreten! Dazu das dunkle Gefühl, daß in möglicherweise bereits absehbarer Zukunft nicht dem Über-, sondern dem Herdenmenschen die mit Telegraphen- und Telephondrähten übersponnene, von Eisenbahnzügen und Dampfern nach allen Richtungen befahrene, bald bis in die letzten Dörfer elektrisch beleuchtete Erde gehören wird! Schließlich, lieber Freund, auch dich drückt der Schuh an mehr als einer Stelle. So denn, recht bedacht: von diesen, übrigens höchst unerfreulichen Herdenmenschen tua res agitur!

Daß eine, auf so andre materielle und ökonomische Basis gestellte, in ihrer Gefühlsweise und Denkungsart, ihren Strebungen, Wünschen, Hoffnungen gründlich veränderte Welt sich nicht wiederfindet in dem Spiegelbilde, welches Litteratur 10 und Kunst vor dreißig Jahren ihren Menschen zeigte und getrost zeigen durfte, weil es deren treues Konterfei war, kann uns nicht wundernehmen. Hatte sich das Objekt gewandelt, mußte auch das Bild ein anderes werden.

Und das in zwiefacher Hinsicht: stofflich und formell. Es gab etwas anderes zu sehen, und – man sah dieses andere anders.

Denn mit der unerhörten Bereicherung der Stoffwelt hatten sich auch die Organe der Beobachtung in seltsamer Weise geschärft, war die Methode der Untersuchung eine viel feinere, exaktere geworden. Wo man sich früher auf seine beiden gesunden Augen verlassen, nahm man jetzt das Mikroskop zu Hilfe; der Maler, der sich sonst mit einer Skizze seines Objektes begnügt, wagte nicht an die Ausarbeitung zu gehen, bevor er die Richtigkeit seiner Studie durch eine Photographie kontroliert; die Leser, die ehemals zufrieden gewesen waren, hatte ihr Romancier die vorgeführte Gesellschaft in ihren großen Zügen dargestellt, verlangten jetzt von ihm Detailstudien. Der Dichter verlangte sie von sich selbst und, wenn er einst die Liebe geschildert, wie Essen und Trinken frei, präparierte er sich nun zu diesem Zweck durch eingehende physiologische Studien. Alles sollte im hellsten, klarsten Licht, im Freilicht stehen. Die angedeutete verschleierte Wahrheit that es nicht mehr; es mußte die vérité vraie, die ganze, volle, nackte Wahrheit sein; nicht die sogenannte poetische, sondern die der Wissenschaft, ohne deren Autorisation der Künstler keinen Schritt mehr wagte. Dann aber freilich auch alles wagte, wofür sie einen Freibrief hat; schien es der Darstellung förderlich, keine schreiendste Farbe auf der Palette behaltend, kein Wort in seinem Vokabularium, mochte es noch so fürchterlich in keusche Ohren klingen.

11 So kam die neue Kunst und Litteratur in Deutschland, so kam sie auf der ganzen Welt zu stande, wobei es ziemlich gleichgültig ist, ob bei dieser Umhäutung die eine Nation der andern ein paar Jahre voraus war, oder hinter ihr zurückblieb. Das hing lediglich von dem langsameren oder schnelleren Tempo der Wandlung der Kulturverhältnisse des betreffenden Landes ab. Auch mit der sklavischen Gefolgschaft, in welche bei dem Wettkampf um den prägnantesten litterarisch-künstlerischen Ausdruck des Zeitgeistes eine Nation von der andern zu geraten schien, hat es so viel nicht auf sich. Soll das Kontagium wirksam sein, muß es einen wohl vorbereiteten Boden finden. Ibsen hätte sich nicht Deutschland erobern können, wären nicht Tausende deutscher Herzen bereits vorher gut ibsenianisch gewesen; und wenn, wie es scheint, Wagners Siegeszug in Frankreich unaufhaltsam ist, so wird damit nur der Beweis geliefert, daß die gallischen Nachbarn schon längst sehnsuchtsvoll harrend am Fuß ihres Hörselberges standen, und nur der Zauberer zu kommen brauchte, der das Sesam sprach.

Haben wir es demzufolge in diesen Bewegungen mit einer Naturnotwendigkeit zu thun, ist es bare Thorheit, wider den Stachel zu lecken und sich über Freilichtmalerei, den naturalistischen Roman, das naturalistische Drama, die unendliche Melodie zu ereifern, als über etwas, das besser nicht wäre. Sie sind. Und weil sie sind, müssen sie ihre Existenzberechtigung haben; sonst wären sie eben nicht.

Anders liegt die Sache, könnte sie wenigstens liegen, wenn wir diese Erscheinungen nicht auf ihre Existenzberechtigung prüfen, sondern auf ihr Verhältnis zu den ewigen Kunstgesetzen.

Aber giebt es deren? Sind sie nicht ein Aberglaube, dessen sich ein aufgeklärter Mensch zu schämen, eine Vor 12eingenommenheit, die er mit andern der Art so schnell wie möglich loszuwerden hat?

Die Neuern von der strikten Observanz behaupten es. Nach ihnen ist, was man früher in einem Gemälde Komposition nannte, in einem Drama Handlung (mit dem obligaten Helden); im Roman Ordnung der Begebenheiten, wiederum mit einem Helden, und Anfang, Mitte und Abschluß; in einem lyrischen Gedicht den Grundaccord, auf den das Stück abgestimmt sein mußte – alles eitel Konvention, überwundener Standpunkt, atavistischer Rückfall in abgelebte Anschauungen.

Man braucht kein Pedant zu sein, um so weit nicht zu gehen; vielmehr anzuerkennen, daß in jedweder Kunst gewisse Gesetze existieren, die, weil sie aus ihrem Wesen resultieren, nicht ungestraft verletzt werden können. Eine freieste Bewegung innerhalb der Grenzen dieser Gesetze aber soll und muß erlaubt sein. Es soll und muß zugegeben werden, daß ein Drama ohne Monologe, eine Oper ohne Arien und Chöre – Dinge, die man früher für obligatorisch hielt – sehr wohl bestehen und ein vortreffliches Drama, eine ausgezeichnete Oper sein kann; und – vice versa. Ledig der Fesseln, soll jeder in seiner Kunst wagen dürfen, wovon er den Beweis durch die That zu führen vermag, daß er es wagen darf. Wobei dann vielleicht dem ruhigen Zuschauer die Beobachtung sich aufdrängt, daß nicht alle frei sind, die ihrer Ketten spotten; und gar mancher sein künstlerisches Rüstzeug, ohne es zu wollen und zu wissen, einer inneren Notwendigkeit folgend, aus demselben Arsenal holt, das er feierlich für eine Rumpelkammer erklärt hat.

Das im einzelnen nachzuweisen durch die sorgsam geführte Vergleichung der Werke unserer modernen Koryphäen mit den besten der vorangegangenen Periode, durch die Klar 13legung der hinüber und herüber leitenden zarten Fäden, wäre eine dankbare Aufgabe, der sich nach meiner Ansicht die vornehmen kritischen Journale, die Litteraturprofessoren und Kunstgelehrten, die es ehrlich mit ihrer Wissenschaft meinen, nicht entziehen dürften. Daß für die Produzierenden selbst der Paragraph des Code Napoleon: La recherche de la paternité est interdite sakrosankt ist, begreift sich leicht. Aber für die Wissenschaft sollte er es nicht sein. Und wie mühelos wäre nicht oft die Vaterschaft nachzuweisen! wie sicher der Weg, der von den Neuen und Neuesten zu Gutzkow und Freytag, vielleicht noch weiter, vielleicht nicht einmal so weit zurückführt! Leider scheint es, als ob heute die Burg, in welcher die wohnen, denen es nur um die Sache zu thun ist, viele leere Räume hat, und gar niemand mehr auf der bekannten höhern Warte stehen mag, sondern sich – wie weiland die athenischen Bürger in unruhigen Zeiten – gedrungen fühlt, Partei zu ergreifen. Zum großen Schaden der Sache, die dabei immer heilloser verfahren wird. Bei dem Streit, ob Freytags »Journalisten«, oder Hauptmanns »Weber«; Gutzkows »Ritter vom Geist«, oder Sudermanns »Es war«; Rietschels »Lessing«, oder Begas' »Schiller«; Knaus' »Goldene Hochzeit«, oder Liebermanns »Harlemer Schweinemarkt«; Webers »Freischütz«, oder Wagners »Tannhäuser« das größere Kunstwerk ist – was kann dabei viel herauskommen? Desto mehr, scheint mir, bei der lichtvollen Analyse der Gründe, weshalb damals so, wie es der Fall, gedichtet, gemeißelt, gemalt, komponiert werden, und heute mit dem veränderten Was auch das Wie sich wandeln mußte.

So dürfte denn wohl der letzte Schluß sein, daß man Kunst und Kunstanschauungen seiner Zeit, wie die Jahreszeiten, wie das Wetter des Tages, mit dem nötigen Gleichmut hinzunehmen hat. Auch sich lieber nicht den Kopf 14 darüber zerbricht, eine wie lange Dauer wohl ihnen beschieden sein mag. Vielleicht hat das Pendel noch längere Zeit zu schwingen, bevor es seinen äußersten Punkt erreicht; vielleicht ist es schon in der rückgängigen Bewegung.

»Und«, sagt der geistvolle Muther, dem man gewiß ein eigensinniges Kleben am Alten nicht nachsagen kann, am Schluß der Einleitung seiner Schilderung der neuesten Phase moderner Malerei: »Es ist leicht möglich, daß, wenn die Strömung, die uns jetzt umflutet, vorübergerauscht ist, und statt auf einen neuen Parnaß vielleicht in die alte Gemäldegalerie geführt hat, äußerst wenige von denen, die heute bewundert werden, aufrecht stehen bleiben.«

Drastischer könnte dann freilich das orphische Wort nicht illustriert werden, daß, während alles in beständigem Fluß ist, alles beim alten bleibt.

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