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II.
Die epische Poesie und Goethe.

Festvortrag, gehalten in der 10. Generalversammlung der Goethe-Gesellschaft in Weimar am 8. Juni 1895.

Anders nicht ist es: »Der Deutsche, zum Dogma macht er sich alles« –
Heiliger Goethe, wie klar sahst du voraus dein Geschick!

Hätte Schiller in jenem denkwürdigen, sein ästhetisches Endurteil über Wilhelm Meister zusammenfassenden Briefe an Goethe vom 20. Oktober 1797 recht mit seiner Behauptung, daß »jede Romanform schlechterdings nicht poetisch sei, ganz nur im Gebiete des Verstandes liege, unter allen seinen Forderungen stehe und auch an allen seinen Grenzen participiere«, so wäre damit für unsre Tage der Tod der epischen Poesie besiegelt, könnte von epischer Poesie in einem höheren Sinne nicht mehr als von einer existierenden gesprochen werden.

Denn heute giebt es keine wahrhaftige und ernsthaft zu nehmende epische Poesie außer in der Form des Romans, wobei ich zu bemerken bitte, daß ich unter diese Bezeichnung auch die Novelle einrechne, trotz der wesentlichen Verschiedenheit der beiden nahverwandten Dichtungsarten, über die ich noch im Verlauf zu berichten haben werde.

Es kann nicht anders sein: sämtliche Bedingungen, unter denen das eigentlich sogenannte Epos: das Volksepos zu stande kommt, fehlen heute; Mythos und Sage, die tiefen Quellen, aus welchen es sich nährt, sind versiegt; das Volk dichtet nicht mehr mit seinem Sänger; die Buntscheckigkeit 53 der Gesellschaft; ihre Zerklüftung in zahlreiche, durch Bildung, Vermögen, Ansehen streng geschiedene Klassen; das Raffinement der Kulturverhältnisse; die Teilung der Arbeit ins endlose; der Weltverkehr, welcher die Erdfernen rastlos miteinander verbindet und an den Unterschieden der Rassen und Nationalitäten nagt, wie die steigende Flut am Ufersaum – alles sind unüberwindliche Hindernisse für die Palingenese des Volksepos. Seine Form war und mußte sein die gebundene Rede: der Vers, ein Spiegel gleichsam der Harmonie, in welcher der Dichter sich mit seinem Volke fühlte, und adäquates Ausdrucksmittel für die Schilderung einer in religiösen Satzungen und altväterlicher Sitte streng gebundenen, in ihrer räumlichen Beschränktheit vollkommen übersichtlichen Welt. Was heute, wo diese Harmonie zwischen dem Dichter und seinem Volke schlechterdings nicht mehr besteht; er für seine völlig individuelle Weltanschauung unabweislich eines individuellen Ausdrucksmittels bedarf, in gebundener Rede den Nachklang des Volksepos in unsrer Seele wachzurufen sucht – es sind, recht betrachtet, entweder alexandrinisch-epigonische Imitationen, wie Goethes Achilleis, Jordans Nibelunge; oder Kulturbilder mit etwas novellistischem Zusatz, wie Hamerlings Ahasver, König von Sion; oder Bearbeitungen von Sagen- und Märchenstoffen, wie Julius Wolffs anmutige Dichtungen; Novelletten mit stark lyrischer Beimischung, wie Alexis und Dora; richtige Novellen, wie Hermann und Dorothea; endlich humoristisch-satirische Capriccios, von denen ich nur das größte, das unerreichbare seines Genre nennen will: Byrons Don Juan.

So denn mein Fundamentalsatz noch einmal in erweiterter Form: der legitime Erbe des alten Volksepos ist einzig und allein der moderne Roman, der seine Aufgabe, die weite Welt zu umschweifen und sich liebevoll in das kleinste De 54tail zu versenken, nur lösen kann, wenn er das Wort – ?pïò – ledig der Fesseln von Metrum, Rhythmus und Reim, zur völligen Freiheit entbindet als Organon des durch kein ästhetisches Dogma, keine traditionelle Gepflogenheit beschränkten, völlig freien, die Welt durch das Medium der Phantasie betrachtenden Geistes.

Übrigens ist mir fraglich, ob es Schiller mit seiner Verwerfung des Romans als vollberechtigter Dichtungsart unerbittlicher Ernst gewesen. Man sollte es meinen, wenn er mit weit übertriebener Geringschätzung von seinem eigenen Geisterseher spricht; und wird wieder zweifelhaft, wenn er den Wilhelm Meister enthusiastisch als ein vollwertiges Dichtwerk preist.

Mir deucht, wenn nicht in diesem Falle, der ihm vielleicht persönlich zu nahe lag, so doch in tausend andern Fällen, die sich seiner objektiven Betrachtung boten, hätte dem scharfsinnigen Ästhetiker der gewaltige Unterschied zwischen dem Romanschreiber und dem Romandichter zum Bewußtsein kommen müssen; und daß sein herabsetzendes Wort von dem »Halbbruder des Dichters« die Meister des Fachs so wenig trifft, wie das Drama um seine Würde dadurch gebracht wird, daß auf einen wirklichen dramatischen Dichter tausend Dramenfabrikanten kommen. Gerade aber die Konfundierung des dichterischen mit dem nicht dichterischen Roman hat meiner Ansicht nach das Mißverständnis zuwege gebracht; und so dürfte in der reinlichen Trennung jenes von diesem die einzige Möglichkeit der Erklärung des Widerspruchs zu finden sein, wie ein Werk, das »ganz in dem Gebiete des Verstandes liegt«, es dennoch fertig bringt, »das Herz mit allen Kräften der Dichtkunst zu ergreifen und einen immer sich erneuernden Genuß zu gewähren«.

Was verlange ich von einem »dichterischen Roman?«

55 Dies: daß er zuerst – und ich möchte sagen: und zuletzt – wie das homerische Epos, nur handelnde Personen kennt, hinter denen der Dichter völlig und ausnahmslos verschwindet, so, daß er auch nicht die geringste Meinung für sich selbst äußern darf: weder über den Weltlauf, noch darüber, wie er sein Werk im ganzen, oder eine specielle Situation aufgefaßt wünscht; am wenigsten über seine Personen, die ihren Charakter, ihr Wollen, Wähnen, Wünschen ohne seine Nach- und Beihilfe durch ihr Thun und Lassen, ihr Sagen und Schweigen exponieren müssen.

Weiter: daß die handelnden Personen, wie im homerischen Epos, ständig in Bewegung sind, so daß die Gesamthandlung – an welcher sie alle, jede in ihrer Weise participieren – nicht einen Augenblick ins Stocken gerät.

Die Gesamthandlung, über die laxere Praxis des homerischen Epos hinaus, wie einen bestimmten Anfang, so ein bestimmtes Ende hat.

Wenn sie ihren Lauf vollendet, wie bei jedem wahrhaften Dichtwerk, ein bedeutendes Stück Menschenleben und -Treiben übersichtlich vor dem Leser liegt, so daß es als pars pro toto zwanglos genommen werden kann.

Daß ich zu den Erfordernissen eine sprachliche Darstellung zähle, durch welche jede Absicht des Dichters mit völliger Klarheit hindurchscheint; und die, weil die Absichten des modernen Dichters überaus mannigfaltig und höchst subtil sind, auf die gebundene Rede verzichten muß, mag hier noch einmal flüchtig berührt werden; mit größerem Nachdruck die Bedingung der obligaten plastischen und farbenkräftigen Herausarbeitung der Natur, in welche die Menschen gestellt sind, und des gesellschaftlichen Milieu, in welchem sie sich bewegen, obgleich auch die Erfüllung dieser Forderung eine notwendige Folge des ersten Kardinalsatzes ist. Denn das 56 Handeln des Menschen erweist sich in steter Abhängigkeit von der Natur und dem Milieu; und jenes kann vollständig, wie es doch soll, nicht dargestellt werden, ohne daß diese nicht mit in die Betrachtung und Darstellung gezogen werden müßten. Wohlverstanden: soweit die Abhängigkeit reicht. Keinen Schritt weiter! Der Frühlingsmorgen, wenn er zufällig für den handelnden Romanmenschen gleichgültig ist, existiert auch für den Dichter nicht. Nur mit den Sinnen seiner Menschen erfaßt der epische Dichter die Welt.

Ein so zu stande gekommenes Werk aber erfüllt völlig die Bedingung, die man an ein poetisches stellen kann und muß, nämlich: daß es, wie im ganzen, so im einzelnen und einzelnsten, ein Produkt der Phantasie sei. Im ganzen: denn nur die Phantasie vermag, vorwärts und rückwärts schauend, ein so vielgegliedertes Gebilde zu überblicken; im einzelnen und einzelnsten: weil, wenn, wie zweifellos, die Poesie kein andres Mittel hat, in der Phantasie des Lesers oder Hörers Personen lebendig zu machen, als sie handelnd darzustellen, diese Darstellung wieder einzig und allein der Phantasie gelingt. Die bloße prosaische Deskription vermag es nicht. Muß man doch selbst vom Porträt, wie es die Malerei oder Bildhauerkunst mit ihren so viel reicheren Mitteln zuwege bringen, behaupten, daß es im tieferen Sinne Leben hat nur durch die Darstellung des inneren Handelns, welches als vergangenes und gegenwärtiges seine Spuren in die Erscheinung grub und gräbt.

Ich gehe noch weiter. Ein allen diesen Anforderungen völlig entsprechender Roman ist, trotz seiner Einkleidung in Prosa, als poetisches Werk dem vorzüglichsten versifizierten Drama, d. h. dem poetischen Produkt, welches, nach Aristoteles Vorgang, so ziemlich allgemein als das Höchste der Gattung angesehen wird, durchaus ebenbürtig; ja, es wäre 57 eine wohl aufzuwerfende Frage, ob er nicht, rein ästhetisch genommen, den Vorrang vor diesem beanspruchen darf. Man möchte es fast glauben, wenn man bedenkt, daß man die vollendeten Romane aller Zeiten und Völker beinahe an den Fingern seiner Hände herzählen kann, während es doch der Dramen, welche allen strengsten Ansprüchen genügen, eine erkleckliche Anzahl giebt.

Und welche dichterische Qualität und Potenz, derer der Dramatiker bedarf, müßte denn nicht auch der Romandichter in vollstem Maße besitzen? Die Handlung in ihrer Totalität, darf er sie weniger klar übersehen, als dieser? Und ist die Übersicht für ihn nicht vielleicht in dem Grade schwieriger, als seine Handlung wahrscheinlich eine viel kompliziertere ist, als die jenes? Darf das Verhältnis des Einzelnen zum Ganzen ihm in jedem Augenblicke weniger gegenwärtig sein? Die Rechenschaft, die er sich von den Charakteren seiner Personen, den Motiven ihres Handelns zu geben hat, weniger klar? Wobei man noch wohl bedenken mag, daß er sich bei ihrer Darstellung nicht auf einen so geschickten Helfershelfer gelegentlich verlassen kann, wie ihn der Dramatiker an dem Schauspieler besitzt; keine willigen Komparsen ihm die Vorführung eines komplizierten Auftritts erleichtern; kein Coulissenmeister ihm die Scenerie, in welcher der Vorgang sich abspielt, fertig liefert; keine geschäftige Hand ihm in seinen Zimmern die Wände dekoriert und die Möbel zurechtrückt. Freilich, sieht man nur auf die augenblickliche Wirkung, wird der Romandichter immer hinter dem ästhetisch nicht höher zu schätzenden Dramatiker zurückstehen; aber auch hinter dem, welcher ohne besondere dichterische Qualitäten einzig auf den Effekt gearbeitet hat. Doch dieser Effekt und die oft recht unlauteren Mittel, durch welche er hervorgebracht wird – was wiegen sie auf der ästhetischen Wage?

58 Wie war es nun möglich, daß der scharfsinnige, feinfühlige Schiller ein so, ich will nicht sagen: wegwerfendes, aber geringschätziges Urteil über den Roman fällen konnte?

Ich sehe darin eine Folge des Umstandes, daß die beiden großen Freunde in ihren gemeinsamen ästhetischen Untersuchungen der dramatischen und epischen Dichtkunst hinsichtlich der letzteren fast ausschließlich die homerischen Epen im Auge hatten, aus ihnen die epischen Gesetze deduzierten und mit dem Bilde, welches sie sich von ihnen gemacht, das Drama konfrontierten, anstatt für das Epos den Roman, als die heute noch einzig mögliche epische Dichtungsart, zu substituieren und ihn und seine Anforderungen mit dem Drama und seinen Anforderungen in Parallele zu stellen. Es wäre dann wohl evident geworden, daß die ästhetischen Gesetze für den alten Epiker und den modernen Romandichter genau dieselben sind trotz der so verschiedenen Bedingungen, unter denen sie arbeiten; und daß gewisse Differenzen, die riesengroß erscheinen, wie das Hereinragen und Eingreifen der Götter- und Wunderwelt in das Menschen treiben, derer der moderne Romandichter freilich entraten muß, mit dem Wesen der epischen Poesie, als solcher, schlechterdings nichts zu thun haben. Nun, da die Reduktion der epischen Gesetze von den großartigen Verhältnissen des alten Epos auf die bescheideneren Dimensionen des modernen Romans ausblieb, ergab sich für sie in der Ästhetik der epischen Poesie eine gewisse Unsicherheit und Unklarheit, aus welchen es einzig zu erklären ist, wie es möglich war, daß Schiller zu dem Schauplatz seines Geistersehers ein Lokal nahm, das er nie mit eigenen Augen gesehen, ein Milieu, welches er niemals hatte studieren können; sich mit einem Epos aus der Friedericianischen Zeit tragen; Goethe andrerseits an eine epische Behandlung der Tell-Sage denken, 59 schließlich die Achilleis in Angriff nehmen mochte, während doch gerade Wolfs prolegomena, aus welchen er die Autorisation zu seinem Beginnen schöpfen zu dürfen glaubte, ihn von dessen Unmöglichkeit hätten überzeugen sollen.

Und dieselbe Unsicherheit und Unklarheit finden wir auch bei ihren Helfern und Mitarbeitern in der großen Frage. Wie muß Wilhelm von Humboldt in seinen so überaus wertvollen »Ästhetischen Versuchen über Hermann und Dorothea« sich winden und drehen, das bewunderte Gedicht dem homerischen Epos gegenüber in seinem Werte zu behaupten? Um dann nach hundert Verklausulierungen glücklich herauszubringen, daß es eine »bürgerliche Epopoe« sei? Wie seltsam berührt es, wenn der scharfsinnige Rosenkranz über ein halbes Jahrhundert später bei seiner Analyse desselben Gedichtes daran erinnern zu sollen glaubt, daß die »Maschinerie des Wunderbaren« darin fehle! Oder daß es »seiner Natur gemäß nur episodische Momente aufweise, während die Theorie des Epos bekanntlich Episoden erfordere«, als ob nicht einfach die Kürze des Gedichtes, welche für Episoden keinen Raum ließ, die übrigens richtige Beobachtung genügend erklärte!

Und darf man es nicht als eine Inkonsequenz unsers unvergeßlichen Wilhelm Scherer betrachten, wenn er in der »Poetik« S. 246 ff. mit direkter Polemik gegen meine Theorie »die Einmischung des Dichters der epischen Erzählung in sein Werk« als durchaus erlaubt entschieden behauptet, und in der »Geschichte der deutschen Litteratur« S. 682. gelegentlich der Wahlverwandtschaften bemerkt, »Goethe verschmähe es in diesem Werke nicht, mit direkter psychologischer Analyse her 60vorzutreten und dergestalt die epische Objektivität zu verletzen!«

Hätte der Treffliche doch diesen letzteren Standpunkt immer inne gehalten! Wieviel hätte er bei der großen Autorität, der er sich mit so viel Fug erfreute und immer erfreuen wird, zur Klärung der epischen Theorie beigetragen! Wieviel williger würde man mir heute zugeben, daß jede dieser Einmischungen, jede dieser psychologischen Analysen gleichbedeutend ist mit einer zeitweisen Aufhebung des dichterischen Geschäftes, da sie nicht mehr und nicht weniger als ein Ausschalten der Phantasie hinüber und herüber bedingt: auf seiten des Dichters, der jetzt nicht mehr an die Einbildungskraft seiner Leser oder Hörer, sondern an ihren Verstand appelliert; auf seiten dieser, die so zur Kritik herausgefordert werden und sich berechtigt fühlen, gegen die subjektive Ansicht und Meinung des Dichters die eigene subjektive Ansicht und Meinung auszuspielen! Scheinen mir doch gerade diese möglicherweise an und für sich ganz interessanten, vielleicht sehr geistreichen, immer aber prosaischen Intermezzi das Moment gewesen zu sein, welches für Schillers Urteil den Ausschlag gab! Darin aber würde ich völlig auf seiner Seite stehen: ein Roman, eine Novelle, wann immer und soweit sie sich solcher prosaischen Hilfsmittel bedienen, sind keine Dichtwerke; und freilich, wenn, wie nur zu oft, dieser prosaische Unfug die poetischen Partien überwuchert, überhaupt nicht mehr zu ihnen zu zählen. Vergl. zu diesem Thema das 24. Kapitel der Poetik des Aristoteles.

Nun aber, da im ästhetischen Reich das Gesetz höher gilt, als der höchste unter uns, wird man mir verstatten müssen, offen zu bekennen, daß mir jene »Verletzungen der Objektivität« als ebensoviele Flecken auf dem blanken Schilde 61 von Goethes epischer Kunst erscheinen, die mich um so mehr schmerzen, als er, der epische Dichter von Gottes Gnaden, über den Gebrauch von Hilfsmitteln, zu denen nur mindere Poeten ihre Zuflucht nehmen, wenn es mit der Handlung nicht mehr aus der Stelle will, hätte erhaben sein müssen. Und auch überall erhaben ist, wo er sich, wie in Werthers Leiden, den ersten Büchern der Lehrjahre, Hermann und Dorothea in seiner Vollkraft zeigt, während allerdings die subjektive Willkür und mit ihr die laxere poetische Praxis bereits in den letzten Büchern der Lehrjahre und in den Wahlverwandtschaften zu häufigerer, den poetischen Wert der Werke beeinträchtigender Anwendung gelangen, bis sie in den Wanderjahren in einer Weise gepflegt werden, welche die schmerzliche Frage zuläßt, ob wir es hier überall noch mit einer Dichtung zu thun haben.

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Diesen trüben Ausgang, der seine Zweifel an dem ästhetischen Wert des Romans rechtfertigen zu wollen scheint, hat Schiller längst nicht mehr erlebt. Aber wo, wenn der Lebende von seiner hohen kritischen Warte scharfen Auges ausschaute, wären ihm bei dem gleichzeitigen Geschlecht, oder auch den litterarischen Generationen vor ihm jene der höchsten epischen Palme würdigen, ja, nur nach ihr mit heiligem Eifer ringenden Romane und Novellen erschienen? Zwar der eine Don Quichotte des Cervantes! Er hätte ihm den Romandichter, wie ich ihn definiere, auf der denkbar höchsten Höhe gezeigt. Doch darf man wohl annehmen, daß Schiller, trotzdem noch zu seinen Lebzeiten verschiedene Übersetzungen des unsterblichen Werkes herauskamen, seinen unschätzbaren ästhetischen Qualitäten niemals ein eingehenderes Studium gewidmet hat. Den Gil Blas, so erfreulich er sich durch so manches Kapitel liest, und ein so drastisches Zeitbild er, alles in 62 allem, bietet, kann man mit dem Epos von den Thaten und Leiden des Edlen aus der Mancha doch kaum in einem Atem nennen. Und Rousseaus Héloise, ein wie vielfach hochpoetisches und kulturhistorisch ewig denkwürdiges Werk es ist; die englischen Naturalisten und Humoristen: die Fielding, Smollet, Swift, Sterne; selbst der von Goethe in seiner Straßburger Zeit und auch später so hochgeschätzte Goldsmith – wie große Talente sie waren, und wie sie auch den Roman, jeder in seiner Weise, gefördert haben– eine dauernde Anziehungskraft mochten sie auf Schiller schwerlich ausüben und ganz gewiß ihn nicht davon überzeugen, daß der Novellist des Dramatikers ebenbürtiger Bruder sei. Wie gering mußte er doch von dem Roman denken, wenn er die Liaisons dangéreuses des Choderlos de Laclos zu den besseren, vielleicht guten rechnete!

Und die deutschen Romanciers? Ich darf und will mich hier nicht auf das hohe Meer der Literaturgeschichte hinauswagen; und so mögen denn die Wieland und Jakobi, die Gellert, Hippel, Thümmel, Müller, Heinse e tutti quanti und was sie in Roman und Novelle geleistet und – gesündigt haben, beiseite bleiben. Nur zwei Werke sei mir verstattet namentlich zu erwähnen, um das Niveau zu kennzeichnen, auf dem damals in Deutschland der Roman stand, und die Schiller in seine Horen aufzunehmen würdigte zum Beweis, daß er sie, wenn nicht für besser, so doch auch sicher nicht für schlechter hielt, als das Gros der gleichzeitigen Erzeugnisse: den »Herrn Lorenz Stark« von Engel und »Agnes von Lilien« der Frau von Wolzogen. Glauben wir nicht Staub zu schmecken, wenn wir die ehrwürdigen Bände von Schillers journalistischem Schmerzenskind nach jenem Produkt eines trockensten Geistes durchblättern, der sich so krampfhaft bemüht, seinen Helden dem wundervollen 63 Mr. Bramble in Humphry Clinker anzuähneln, und wo der kraftstrotzende Verfasser dieses Romans sein breites Lachen aufschlägt, es nur zu einem hüstelnden Kichern bringt? Und der zweite Roman, der sich auf jeder Seite, in jeder Zeile, möchte man sagen, im guten, weniger guten und üblen Sinne als das Werk einer Dame ausweist, die wirklich geistreich ist, aber doch nicht genug, um zu begreifen, daß man es nicht zu jeder Zeit, an jedem Orte und um jeden Preis dürfe sein wollen, und ihre natürliche gesunde Empfindung fortwährend zu krankhafter Empfindelei ausarten läßt – dieser für uns fast unlesbar gewordene Roman wurde, als er erschien, einem der größten Epiker aller Zeiten, wurde Goethe selbst zugeschrieben von Leuten, die vermutlich sehr empört gewesen wären, hätte man ihnen ästhetische Urteilskraft abgesprochen! Wenn klare nüchterne Köpfe, wie Schillers Freund Körner, sich von Anfang an nicht täuschen ließen, so waren es eben Ausnahmen.

Verurteilen wir diese seltsamen Kunstrichter nicht zu hart! Steht man mitten im Gebirge, hält man wohl einen ins Thal vorgeschobenen Ausläufer für den Hauptberg selbst. Es ist kein besonderes Verdienst, das Schöne schön und das Große groß zu finden, wenn bereits ein paar Generationen es uns als solches überliefert haben, uns schon auf der Schulbank die traditionelle Weisheit eingeflößt ist. Wofür denn jeder Tag lehrt, wie oft Publikum und Kritik neuen Erscheinungen ratlos gegenüberstehen.

Und eine gewisse Familienähnlichkeit findet sich denn doch zwischen den Romanen Goethes und seiner Mitbewerber um den epischen Kranz, einigermaßen den Irrtum, in welchen die Zeitgenossen verfielen, erklärend und entschuldigend; ebenso wie sie es uns leicht macht, sie insgesamt sofort als Produkte einer und derselben Periode zu erkennen. Das ist die 64 »dear sensibility«; die Andacht, mit der jeder dieser Dichter in sein Inneres hineinlauscht; die wollüstige Neugier, mit der er seine Empfindungen bis ins kleinste zergliedert; der Kultus mit einem Worte, den das Individuum mit seiner Eigenart treibt, dem gegenüber das Studium der andern und der Außenwelt in die zweite Linie tritt; oder wie man es heute ausdrücken würde: das Vorwiegen der egoistischen Tendenzen über die altruistischen. Man sehe sich Rousseaus Héloise, Sternes Tristram, welches Werk immer dieser Zeit daraufhin an – wie grundverschieden sie auch sonst sein mögen, in diesem Punkte gleichen sie sich alle: überall sucht der Dichter im Spiegel seiner Schöpfung zuerst und zuletzt sich selbst; immer geneigt, rührselige Thränen über sich selbst zu vergießen, wie der brave Jung-Stilling in seiner Autobiographie.

Aber liegt in dieser Konzentration des Lichtes auf das dichtende Individuum nicht sowohl ein Vorzug als eine Notwendigkeit für den modernen Epiker? Kann er im Grunde uns etwas anderes geben als sich selbst und sein Milieu, in welchem er geworden, was er ist; das heißt: die Welt sub specie seiner individuellen Erfahrungen, aus denen wieder seine individuelle Weltanschauung resultiert?

Nach meiner Kenntnis der Sache: nein! Der moderne epische Dichter – ein Gegensatz zu dem alten, für den das Ich und die Welt sich ungefähr wenigstens deckten – kann nichts andres geben und darstellen als sich selbst und das Weltfragment, welches er überblickt. Daß dabei schwer ins Gewicht fällt, wie hoch er seinen Anschauungsstandpunkt zu gipfeln, wie weit er die Grenze seiner eigensten Erfahrungen zu ziehen verstanden hat, ist so selbstverständlich, wie wir a priori schließen können, der unter ihnen, bei übrigens gleichen poetischen Kräften, werde der größere in dem Maße 65 sein, in welchem er nach der Höhe zu die Nebenbuhler überragt, nach der Breite hin sie überflügelt.

Nichts erfreulicher für den ästhetischen Forscher, als wenn er sich nachträglich mit Goethe in Übereinstimmung findet. Er aber sagt in seinen »Sprüchen in Prosa« – läßlich vornehm, aber treffsicher, wie immer – »der Roman ist eine subjektive Epopoe, in welcher der Verfasser sich die Erlaubnis ausbittet, die Welt nach seiner Weise zu behandeln. Es fragt sich also nur, ob er eine Weise habe. Das andre wird sich schon finden«.

Wir werden freilich sehen: es findet sich keineswegs immer.

Hier nun ist es vielleicht nicht überflüssig zu bemerken, daß diese Bindung des Subjekts an seine individuelle Erfahrung mit weitaus minderer Straffheit für den Dramatiker gilt, der – man denke an Schillers innerliche Abneigung gegen den Wallenstein! – zu seinem Helden in einem viel kühleren Verhältnisse steht und sich betreffs der Personen auf dem zweiten Plan auch wohl mit den Umrissen einer Gestalt begnügen darf, die dann der Schauspieler ausfüllen mag; oder mit der bloßen Andeutung von Lebensverhältnissen, in deren Detail einzudringen der Zuschauer weder Veranlassung, noch Lust und Zeit hat. So gut wird es dem Romandichter nicht. Für ihn keine ehrwürdige Tradition, keine behagliche Schablone, keine unvermeidlichen Typen, keine obligatorischen Rollenfächer. Er kann sich der scharf umrissenen Darstellung aller seiner Personen, auch der weniger bedeutenden, und der Darlegung der sie beeinflussenden und bestimmenden Umstände im einzelnen und einzelnsten in keinem Falle entziehen; steht in jedem Moment nach jeder Richtung unter der scharfen Kontrole des Lesers, dessen Spürsinn an der Unsicherheit oder Unrichtigkeit der Zeich 66nung, an dem matten, oder falschen Kolorit bald genug herausgebracht haben wird, wo der Autor über die Grenze seiner Erfahrung hinausgeschweift ist und nicht nach dem Modell gearbeitet hat.

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Wir stehen damit in dem Kapitel vom epischen Stoff, dessen Wahl, wie wir uns jetzt überzeugt haben, für den modernen Epiker eine völlig freie und willkürliche zwar zu sein scheint, in Wirklichkeit aber aus seiner Lebensauffassung und Erfahrung im allgemeinen, im speziellen Falle aus seinem jeweiligen Seelenzustande überall da resultiert, wo es mit rechten poetischen Dingen zugeht.

So kann es uns denn nicht wundernehmen, wenn wir die eigentümliche Beobachtung machen, daß in eben der Folge, in welcher er diese seine Stoffwelt in Angriff nimmt, will sagen: zu dichterischen Gebilden ausgestaltet, sich mit logischer Präcision die Phasen wiederholen, welche der sittliche Mensch durchzumachen und durchzukämpfen hat, bis er mit sich und der Außenwelt im reinen ist.

Die erste Phase wird der Kampf des jugendlichen Subjekts mit der Außenwelt sein, die hart auf sein weiches Empfinden stößt und ihn zu der Einsicht bringt, daß sie die stärkere ist; oder aber – im tragischen Falle – er gelangt zu dieser Einsicht nicht, will trotzig ihr gegenüber sein vermeintliches Recht nicht aufgeben und zerschellt an ihr.

Zweite Phase: anfangs zögerndes, endlich liebevolles Sichhingeben des Subjekts an die Außenwelt auf die Gefahr hin, sich an sie zu verlieren.

Dritte: harmonischer Ausgleich der Strebungen des Subjekts mit den Anforderungen der Welt.

Vierte: nicht unbedingt notwendiges, aber, wie wir Menschen sind, sehr wahrscheinliches gelegentliches noch 67maliges Sichaufbäumen des Subjekts gegen die Welt – ein Konflikt, der im tragischen Falle, wie in der ersten Phase, mit der Niederlage des Subjekts endet, welches eventuell, da es jetzt nicht mehr jugendlich allein, sondern mitten im Leben und innigen Konnex mit andern steht, diese mit in sein Verderben zieht.

Fünfte und letzte Phase: schlechthinnige Resignation des Subjekts, das sich den großen Gesetzen des Lebens völlig ein- und unterordnet, damit aber für sich nichts mehr bedeutet und bedeuten will.

So hat sich der Kreislauf des Lebens geschlossen und mit ihm der Cyklus, den der epische Dichter in seinen Schöpfungen zu durchmessen hat.

Es läßt sich voraussehen, daß dieser Parallelismus des Lebens und Dichtens sich rein nur herausstellen wird im Leben und Dichten einer völlig normalen, höchst kraftvollen, auf die harmonische Ausgleichung zwischen den individuellen Strebungen und den Weltanforderungen von Haus aus angelegten Natur, die so wenig nach ihren Idealen springt, wie nach ihren dichterischen Stoffen jagt, weil sie fühlt und weiß, daß mit Springen und Jagen nichts, bei geduldigem Ausharren auf dem anfangs im dunklen Drange eingeschlagenen, dann mit immer klarerem Bewußtsein verfolgten Wege alles zu erreichen ist.

Er stellt sich bei Goethe in einer Reinheit heraus, die, soviel ich sehen kann, in der gesamten Literaturgeschichte nicht ihresgleichen findet, so daß wir es hier mit einem typischen Falle zu thun haben, an dem wir alle andern vergleichend messen können. Ich glaubte durch diese Einschränkung mich vor dem Mißverständnisse gesichert, als wolle ich den von mir aufgestellten Kanon der sittlichen Phasen, die sich in der dichterischen Produktion wiederfinden sollen, auf jeden Fall angewendet wissen und behaupten, daß, wo er nicht zutreffe, auch gleich von einer Abnormität, Entartung u. s. w. zu reden sei. In dieser Annahme habe ich mich getäuscht. Man hat mich gründlich mißverstanden und zu widerlegen gemeint, wenn man mich auf die vielen und bedeutsamen Ausnahmen der Regel hinwies. Aber seit wann heben Ausnahmen die Regel auf? Soll der Grammatiker (oder Ästhetiker) ihrethalb mit der Regel zurückhalten? Daß der Parallelismus des Lebens und Dichtens sich rein herausstellt nur bei völlig normalen Individuen, räume ich ja selbst ein; und exemplifiziere nun auf Goethe, dessen Fall ich einen typischen nenne. Wobei ich denn freilich hätte erwähnen können (und der Schwerhörigen halber vielleicht erwähnen sollen), daß, wenn der Fall »in seiner Reinheit, soviel ich sehen könne, in der ganzen Litteraturgeschichte seinesgleichen nicht finde«, Fälle ähnlicher Reinheit allerdings angetroffen werden. Bei deren Beurteilung, füge ich hinzu, man sich dadurch nicht beirren lassen darf, daß »die Phasen« keineswegs immer die genaue Folge innehalten, sondern, eine die andre überspringend, in die Erscheinung treten. Weiter: eine und die andre sich wiederholt in Kunstwerken manifestiert, die, wenn man genauer hinhört, und wären ihrer noch so viele (z. B. bei Byron), doch nur Variationen über das identische Thema sind. Für dergleichen Wahrnehmungen ist freilich nicht jedes Ohr empfänglich. – A. d. V.

68 Nie hat ein epischer Dichter – von diesem nur sprechen wir, und der tragische Dichter Goethe, der lyrische, der Autobiograph, der Gelehrte dürfen uns hier nichts angehen, obgleich von ihnen mutatis mutandis dasselbe zu sagen wäre – nie hat ein epischer Dichter sein Dichten so zu einem klaren Spiegel seines Lebens gemacht; sich in dem Bann der eignen Erfahrungen so treu gehalten – man ist versucht zu sagen: so unfähig erwiesen, ihn zu brechen; mit solcher Gewissenhaftigkeit nach dem Modell gearbeitet; die Welt so ausschließlich sub specie seiner individuellen Anschauung geschildert. Den Zirkelquadraturversuch der Achilleis werden wir bei dem leidenschaftlichen Bewunderer Homers, den ein mißverstandenes Gelehrtenwort auf falsche Fährte gelockt hatte, begreiflich finden. Dafür hat es ihm völlig fern gelegen, jenes hybride Genre der epischen Dichtkunst: den historischen Roman, auch nur in Angriff zu nehmen; er, der im Götz und Egmont den Beweis geführt, daß er 69 wohl ein Ohr hatte für die Stimme des Geistes vergangener Zeiten, aber dem seine Ästhetik sagte, daß eines sich nicht für alle schicke, und was dem Dramatiker recht, dem epischen Dichter noch durchaus nicht billig sei.

Ich gestehe, daß Reinecke Fuchs und gewisse Novellen in den Unterhaltungen der Ausgewanderten und in den Wanderjahren meiner Behauptung, Goethe habe in jede seiner epischen Dichtungen sein ganzes Herz gelegt, nicht recht zu entsprechen scheinen. Aber warum sollte ein so geistreicher Kopf nicht einmal auf den Einfall kommen, eine Welt, die ihm aus den Fugen zu gehen droht, in dem Hohlspiegel der Satire betrachten zu wollen, welcher die Häßlichkeit zur Karikatur steigert und damit wieder in das Reich des Idealen emporhebt. Was die Novelle betrifft, so steht sie, wie wir noch zu erörtern haben werden, unter einer Modifikation der großen epischen Gesetze. Hier wollen wir uns nur gegenwärtig halten: wo am epischen Kernholz gehauen wird, da fallen Späne, aus denen sich noch immer ein bedeutendes Stück, wie »Der Mann von fünfzig Jahren« schnitzen läßt; oder die, sind es wirkliche Späne und nichts weiter, in das epische Feuer geworfen, zwar nicht seine Glut vermehren können, aber doch seine Leuchtkraft zu vergrößern scheinen.

War der Epiker Goethe in diesen wenigen Ausnahmeproduktionen nicht ganz er selbst – sonst überall ist er es; ruht ganz auf sich selbst und läßt die Echtheit seines Lebens die Echtheit seiner Dichtungen verbürgen.

Und hat er nun wirklich den Kreis seiner Herzens- und Welterfahrung nach allen Seiten gleichmäßig dichterisch durchmessen? Kommen wirklich sämtliche Epochen, wie ich sie vorhin als die Stationen eines normalen sittlichen Lebenslaufes aufgeführt habe, mit voller genialer Kraft, in ganzer 70 keuscher Unmittelbarkeit bei ihm zur episch-poetischen Verklärung?

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Von der ersten – dem verhängnisvollen Kampf des jugendlichen Subjekts mit der ihm noch als Fremdes, Unbegreifliches, Feindliches gegenüberstehenden Welt – giebt es jeder bereitwillig zu. In »Werthers Leiden« ist der betreffende Fall so reinlich ausgesondert, mit so tiefem Verständnis, so klarer Darlegung aller entscheidenden Momente vorgeführt, daß nichts hinzu-, nichts hinwegzuthun und ein Typ geschaffen ist, der sich mit den obligaten Variationen wiederholen wird, bis auf die Kulturwelt von heute eine gefolgt ist, deren Bedingungen von denen der unsern toto genere verschieden sein müßten.

Werthers Leiden sind trotz der Briefform ein Ich-Roman; für die Relation der Katastrophe mußte allerdings der Dichter als Erzähler auftreten – für mein Gefühl an dem unsterblichen Werk ein ästhetisches Manko, das freilich, wie das Ganze einmal angelegt, nicht zu vermeiden war. Der Selbstmord des jungen Jerusalem hatte das Metall der Dichtung wohl in Fluß bringen können; aber ein bruchloser Guß konnte es bei diesem Zusammenschmelzen eigner Erfahrung und fremden Schicksals nicht werden. Etwas weniger scharf würde der Riß hervortreten, wäre ein Tagebuch, das bis unmittelbar vor den Tod fortgeführt werden mochte, an Stelle der Briefe getreten. Ästhetisch rein geht die Ich-Form nur auf, wenn der Erzähler zugleich der Herausgeber des Werkes ist. –

Mit der poetischen Wiederspiegelung der zweiten Lebensphase – des zögernden, endlich liebevollen Sichhingebens des Subjekts an die Welt – beginnt das Reich der Modifikationen, zu denen sich das epische Schema in der Praxis 71 ebenso verstehen muß, wie jedes andre. Der Dichter nämlich wird jetzt, um den beiden Forderungen des epischen Ideals sicherer gerecht zu werden, den poetischen Schwerpunkt etwas weiter von dem subjektiven Pol nach dem Welt-Pol rücken, indem er aus dem ursprünglichen Ich seines Helden ein Er macht. Eine ausführliche Schilderung des Prozesses habe ich in meinen »Beiträgen zur Theorie und Technik des Romans« (S. 13l ff.) versucht. Wir wissen: im Grunde ist das nur eine Spiegelfechterei; immerhin gleicht der Held in »Wilhelm Meisters Lehrjahren« auch nicht annähernd so völlig dem Menschen Goethe, wie Werther ihm glich. Er erinnert wohl noch in hundert Punkten an den zur vollen Männlichkeit wunderschnell heranreifenden Freund des jugendlichen Herzogs, an den bestimmbaren Geliebten der Frau von Stein, aber die in dem ersten Roman kaum verschleierte Identität des Dichters und des Helden ist aufgehoben; dasselbe gilt von den Personen, zu denen er in nähere oder fernere Beziehung tritt. Lotte war Charlotte Buff, Albert: Kestner – zu Serlo, den Melinas, Laertes, Aurelie, Jarno, Graf, Gräfin u. s. w. haben ihm zweifellos ganz bestimmte Modelle gesessen. Aber könnte man auch für jede Gestalt das betreffende Urbild so genau feststellen, wie für die »schöne Seele«, es wäre damit nicht viel gewonnen: alle haben erst in den Schmelztiegel der Phantasie eingehen und sich eine Anpassung an die Zwecke des Romans gefallen lassen müssen.

Von dem Stoffe kann man dasselbe sagen. Bei Werther läßt sich von einer Wahl des Vorwurfs nicht eigentlich reden; so wenig fast, wie bei einem Liede, das, wenn es ein echtes ist: »Angedenken du verklungner Freude« – »Füllest wieder Busch und Thal« – mit elementarer Gewalt aus dem übervollen Herzen des Dichters quillt. Bei den Lehrjahren verhält es sich doch etwas anders. Zugegeben, daß 72 das Thema: die Umbildung des in seinen Neigungen, Vorurteilen, Idiosynkrasien befangenen, in seinen Zielen unsicheren, seinen Mitteln vielfach fehlgreifenden Subjekts zu einem in sich gefesteten, weltbürgerlichen Menschen sich dem Dichter mit zwingender Macht aufdrängte; weiter: daß auch in der Wahl seines Helden für ihn, den selber aus bürgerlichen Kreisen Hervorgegangenen, von der Theaterleidenschaft früh Erfaßten, erst später in das praktische Leben Eingreifenden, in die Welt des Adels Aufgenommenen, eine gewisse Nötigung lag – so ist das doch cum grano salis zu verstehen. Gewiß hat der Dichter den von ihm beliebten Umstand, daß Wilhelm ein Kaufmannssohn ist, aufs trefflichste verwertet; aber hätte er ihn einen Beamtensohn sein oder aus einer andern bürgerlichen Sphäre hervorgehen lassen – wer zweifelt daran, daß er aus dieser Wendung nicht minder wertvolles poetisches Kapital geschlagen hätte!

In dieser seiner halb gebundenen, halb freien Natur gleicht der Stoff der Fabel. Im Werther war eine gerade Linie zu durchmessen, deren Endpunkt der Tod des jungen Jerusalem fixierte; eine andre gab es nicht. Bei aller Unverrückbarkeit des Zieles in den Lehrjahren ließen sich, um zu ihm zu gelangen, hundert Wege suchen und finden.

Ist der, für den sich Goethe entschied, der zweckentsprechende?

Er ist es in jeder Beziehung, sowohl auf die nächste Absicht des Dichters: sich selbst zu geben, als auch auf die, welche er unbewußt neben der gewußten verfolgt und, weil sie der epischen Tendenz immanent ist, verfolgen muß: vor dem betrachtenden Blick ein Weltbild zu entrollen. Bittet doch auch Homer die Muse nur, ihm den Zorn des Peliden singen zu helfen, oder die Heimkehr des Laertiaden; und die Göttin erfüllt ihm sein Gebet und giebt ihm das ganze 73 Erdenrund mit allem, was darauf lebt und webt, und den Olymp mit seinen Göttern und die Unterwelt mit ihren Schemen in den Kauf.

Das für den modernen epischen Dichter Höchste: innerhalb der Schranken seiner Subjektivität, die er nun einmal nicht durchbrechen kann, ohne seinen intimsten und mächtigsten Zauber preiszugeben, an den Prärogativen des alten Epikers möglichst teilnehmen zu dürfen, gewährt vielleicht kein Thema so ungezwungen und ausgiebig, wie das der Lehrjahre. So sind denn auch einige der vorzüglichsten Romane, die wir besitzen – vom Simplicissimus bis Gottfried Kellers »Grünem Heinrich« – auf diesem Boden erwachsen. Muß doch in der Aufzeigung des Entwickelungsganges eines begabten, bildungseifrigen und bildungsfähigen Individuum der Dichter in die Tiefen der menschlichen Seele hinableuchten; in dem beständig wechselnden Kontakt, in welchen er den Helden mit der Welt zu bringen genötigt ist – ὁ μὴ δαρεὶς ἄνϑρωπος οὐ παιδεύεται – die ganze Breite des Lebens entfalten. Hier in das Einzelne zu gehen, den Prozeß durch seine verschiedenen Stadien zu verfolgen, hieße, nachdem hellste kritische Lichter jede fernste und dunkelste Ecke abgeleuchtet haben, Eulen nach Athen tragen. Über das Ganze kann ich nur aus innigster Überzeugung sagen, daß Goethe in diesem Werk auf der Höhe modernen epischen Schaffens steht. Freilich, die Lehrjahre sind nicht nur sein erster, sondern leider auch sein letzter eigentlicher Roman. –

Ein Roman durfte es nicht wohl sein, in welchem der epische Dichter jenen Seelenzustand des sittlichen Menschen zum Ausdruck bringt, welchen ich vorhin als dritte Sphäre und reine Mitte der gegenseitigen Durchdringung von Subjekt und Welt in vollkommener bruchloser Harmonie definierte. Denn dieser Zustand bezeichnet einen Kulminationspunkt und 74 ist, als solcher, etwas Transitorisches, welches gestern noch nicht war und morgen nicht mehr sein wird. Zur epischen Wiederspiegelung dieses entzückenden Phänomens ist die Novelle weitaus geeigneter.

Ich habe »Hermann und Dorothea« vorhin – gewiß zur Verwunderung eines und des andern unter Ihnen – eine Novelle genannt. Hier ist der Ort, diese Namengebung zu rechtfertigen.

Nun aber mögen wir die Goethische Definition in den Gesprächen mit Eckermann (I. 220.) »Was ist die Novelle anders, als eine sich ereignete unerhörte Begebenheit?« einfach acceptieren, oder an die erweiterte Form und psychologische Vertiefung denken, welche diese Dichtungsart in der neuern Litteratur gefunden hat, immer wird ihr Charakter bleiben, daß sie – zum Unterschiede von dem Roman, in welchem eine Entwickelung der Charaktere, mindestens des Helden stattfindet – fertige Charaktere aufeinander treffen läßt, die sich in dem Kontakt nur zu entfalten, gewissermaßen auseinanderzuwickeln haben. Weiter: daß, damit die Wirkung des Kontaktes sich nicht zersplittere, nur wenige Personen in Mitleidenschaft gezogen werden dürfen, und so das Resultat bald hervorspringen, d. h. die dargestellte Handlung kurzlebig sein wird.

Ist dies nun aber die Signatur der Novelle, so wüßte ich in der That nicht, wie Hermann und Dorothea anders zu rubrizieren wäre, man müßte denn in der Versifikation ein Kriterium sehen, das die Dichtung in eine andre Gattung – sagen wir also mit Humboldt: bürgerliche Epopoe – verweist. Und dagegen möchte ich entschieden Einspruch erheben. Mag die Lyrik mit dem Vers stehen und fallen, – das Drama und wahrlich auch die Epik ruhen auf festerem Grund. Auch nicht eine der edlen Qualitäten der 75 Dichtung braucht geopfert zu werden, wenn wir sie uns in ungebundener Rede denken: nicht das rasche Fortschreiten der bruchlosen Handlung; nicht die herrliche Plastik der Gestalten; nicht die klare Herausarbeitung der sie umgebenden Natur, oder ihres gesellschaftlichen Milieu. Wollen wir doch den ästhetischen Wert des Verses nicht zu hoch veranschlagen! doch nicht vergessen, wie oft er nur ein bauschiges Gewand ist, geistige Armut und dichterische Ohnmacht dem weniger scharfsichtigen Auge zu verhüllen! uns daran erinnern, wie die gebundene Rede des Werther in Schönheit und eindringlicher Kraft mit der gebundenen von Hermann und Dorothea getrost den Wettstreit aufnehmen kann!

Das scheint fast eine Abschweifung. Aber auf eine besondere Eigentümlichkeit der Novelle muß ich Ihre Aufmerksamkeit lenken: die im Verhältnis zum Roman viel lockerere Bindung nämlich, welche bei ihr zwischen der Individualität des Dichters und seinem Stoff stattfindet. Handelt es sich doch bei ihr in erster Linie um die unerhörte Begebenheit, erst in zweiter um die Individualität des Erzählers, ja, um diese so wenig, daß er die Begebenheit keineswegs selbst erlebt, nicht einmal erfunden, sondern – man denke an jene von Jahrhundert zu Jahrhundert fortgeerbten, wieder und immer wieder behandelten Stoffe! – nur gefunden und etwa noch dem Geschmack und Verständnis seines Publikums angepaßt zu haben braucht.

Diese Einsicht aber in die Natur der Novelle ist notwendig, denn sie löst den Widerspruch, in welchen ich mich verstrickt zu haben scheine, wenn Hermann und Dorothea jene von mir behauptete straffe Bindung des epischen Dichters und seiner individuellen Erfahrung an sein Werk so wenig erkennen läßt, daß – lassen wir die Modifikation nicht gelten – diese Dichtung allerdings in dem Schema nicht unterzubringen wäre.

76 Denn welche Gemeinschaft, als daß sie von Kopf zu Fuß ganze Menschen sind, hätte der Weimarer Geheimrat mit dem Gastwirtssohn Hermann? Ebenso die andern Personen der Novelle – sind sie auch ganz gewiß – anders thut es Goethe schlechterdings nicht – nach bestimmten Modellen gearbeitet, die wir in den Eltern Hermanns noch deutlich zu erkennen glauben, und wie sie der Dichter früher und später bei seinen Wanderungen rheinauf-rheinab, in den thüringischen Landstädtchen oder wo immer beobachtet hatte – wie fern stehen sie den gesellschaftlichen Kreisen, in denen er in Wirklichkeit verkehrt und aus denen er sich sonst für seine epischen Dichtungen die repräsentativen Menschen holt! Die Haupthandlung: Hermanns glückgekrönte Werbung um die Vertriebene – er hat sich nie in einer annähernd ähnlichen Situation befunden.

Dennoch, war es ein Zufall, der Goethen in der Erzählung von den Salzburger Vertriebenen das Motiv zu Hermann und Dorothea in die Hand spielte – sicher ist es keiner, wenn er auf der Höhe seiner idealen Freundschaft mit Schiller, in der Akme seines Lebens seine idealste epische Dichtung schuf.

Und finden wir beim Betreten und Durchwandern des Hauses den Hausherrn nicht anwesend – es ist so mit seinem Geiste erfüllt, mit dem Duft seiner Persönlichkeit – wir meinen, er müsse jeden Augenblick aus dieser, aus jener Thür uns entgegentreten. Wie atmet aus jedem Verse, jedem Worte seine schöne, von keinem Dunst der Leidenschaft getrübte, reine, stille Seele! Hermann und Dorothea konnte nur von Goethe und von ihm nur in dieser Periode seines Lebens gedichtet werden. –

Wir treten aus ihr in die vierte, die aber besser als Episode zu bezeichnen wäre; für den, der sie zu durchleben 77 hat, bei aller Süßigkeit um so qualvoller, als die gegen die Welt und ihre Satzungen sich aufbäumende Leidenschaft nicht mehr, wie in Werthers Fall, in der überschäumenden Jugendkraft und der Unbekanntschaft mit dem Leben, wenn nicht Rechtfertigung, so doch Entschuldigung findet; sondern Lebensalter und gesellschaftliche Stellung; die Philosophie der Entsagung, zu welcher man sich bekennt; die angewohnte Achtung vor der Ordnung, die man gewahrt wissen will, und wäre dabei eine Ungerechtigkeit nicht zu vermeiden – alle diese ungeheuren, für den sittlichen Menschen unüberwindlichen Mächte ihr feierliches Veto sprechen.

Auch für diesen Fall ist die auf Konzentration und rasche Entscheidung dringende Novelle offenbar die geeignetste epische Form, welche denn auch vom Dichter mit sicherem Takte gewählt wurde.

Dennoch ist die Frage erlaubt, ob die »Wahlverwandtschaften« durch straffere Zusammenziehung der Handlung und raschere Herbeiführung der Entscheidung, d. h. durch strengere Beobachtung der Natur dieser Dichtungsart nicht wesentlich gewonnen hätten. Zwar ihrer Forderung, nur wenige Hauptpersonen auf den Plan zu bringen, scheint ja die sorgsamste Rechnung getragen. Dann aber – dies ist ihr notwendiges Korrelat – dürfen die etwa nötigen Nebenpersonen das Interesse des Lesers nicht in einem höhern Grade auf sich lenken. Hierin, deucht mir, hat es der Dichter versehen: Luciane, Mittler, der Graf, die Baronesse, der englische Herr, der Architekt, der Gehilfe – sind es ihrer nicht zu viele, so nehmen sie einen zu breiten Raum ein. Was um so peinlicher auffällt, als eine und die andre Hauptperson zeitweise von der Bühne verschwindet. Auch kann ich nicht finden, daß die Tragik einer gestörten Ehe in den Wahlverwandtschaften zu ihrer höchsten Höhe 78 gegipfelt ist, die wohl nur ihre ganze Furchtbarkeit offenbart, wenn der Wunsch nach Trennung nicht von den beiden Beteiligten genährt wird, sondern nur von der einen Seite, während sie für die andre die vollständige Vernichtung des Lebensglückes, auch wohl den physischen Tod bedeutet. Wie der Fall hier liegt, haben weder Eduard noch Charlotte ein leidenschaftliches Herzensinteresse an der Aufrechthaltung der Ehe; die Bedenken und Hinderungsgründe erweisen sich als konventionelle, besten Falls moralische. Aber Konvention und Moral sind für die Poesie zu abstrakte Mächte, als daß sie unsre Teilnahme bis zu dem nötigen Grad der Lebhaftigkeit erregen könnten. Auch das Motiv der Doppelliebe über Kreuz auf Grund der Wahlverwandtschaften ist zwar sehr geistreich, nur daß es leider durch seine mathematische Konstruktion erkältend wirkt. Ein unerfreuliches Resultat, welches durch den Ottiliens Wesen beigemischten pathologischen Zug bedenklich verstärkt wird. Man urteile über den freien Willen so oder anders: für die moderne Poesie können wir ihn nicht entbehren, wir geraten sonst aus der Psychologie in die Psychiatrie, aus der Poesie in die Wissenschaft und noch dazu in ihre dunkelsten Gebiete. Mag »die Moderne« gierig nach dergleichen Hilfsmitteln greifen, um die Realität ihrer Gebiete scheinbar zu erhöhen und ihren Effekten die gewünschte nervenerschütternde Wirkung zu sichern – von Goethes Kunst verlangen wir einfachere Mittel. Auch ist nicht abzusehen, weshalb der Dichter hier seine Zuflucht zu Motiven nimmt, welche außerhalb der sittlichen Sphäre liegen, wenn er seine Zwecke innerhalb dieser vollauf erreichen konnte. So erwarte ich von der so viel zarter besaiteten Ottilie gewiß nicht, daß sie den Tod des Kindes wie die andern empfinde, für welche im Grunde nur etwas, das überall nicht hätte sein sollen, verschwunden 79 und damit die frühere Lage wiederhergestellt ist. Dennoch liegt in der Hartnäckigkeit, mit welcher das holde Geschöpf für sich eine Schuld konstruiert, die für die andern – und ebenso für den Leser – nicht existiert, und durch die sie sich selbst, mit sich den Geliebten – denn sie muß, oder müßte wissen, daß er sie nicht lange überleben wird – zu Grunde richtet und Charlottens und des Hauptmanns Zukunft auf das schwerste kompromittiert – in dieser Hartnäckigkeit, sage ich, liegt eine Schwäche, oder Überspanntheit – auch in der Gemütssphäre berühren die Extreme sich – die wohl Mitleid erweckt, aber nicht das tragische, das allein der wahren Kunst geziemend ist.

Diese Ausstellungen sind es, welche mich verhindern, den ästhetischen Wert der Wahlverwandtschaften so hoch zu schätzen, als es gemeiniglich geschieht. Jedenfalls spüren wir in dieser Novelle, die schon so stark an der Natur des Romans participiert, wieder im entsprechenden Maße das Walten des uns bekannten epischen Gesetzes von der straffen Bindung des Stoffes an die subjektive Erfahrung des Dichters. Hier steht er wieder auf seinem Eigenen und Eigensten. Dies sind – ach! nur zu ersichtlich! – seine Herzenskämpfe; dies ist die geistige Atmosphäre, in der zu leben, das gesellschaftliche Milieu, in dem zu verkehren er gewohnt war. Dies sind sogar – wie die architektonischen und gartenkünstlerischen Exkurse – seine Liebhabereien und Steckenpferde.

Und er selbst?

Es wird gewiß niemand ernstlich einfallen, wie in Werther, so sein Abbild in Eduard sehen zu wollen, dem Manne, der, nach Art so mancher vornehmen Leute, in allen andern Dingen dilettiert und es nur mit der Liebe ernsthaft nimmt; und den man so – mindestens in ersterer Beziehung – das Widerspiel seines Dichters nennen könnte.

80 Aber es kommen für den modernen epischen Dichter Fälle, wo er sich, gerade weil er aus seinem Allereigensten schafft und mit seinem Herzblute schreibt, einen Helden wählt, den »er selbst nicht leiden kann«, aber »so braucht« – so unähnlich braucht, will er den Geschichtenträgern und Gebärdenspähern mit ihrem hämischen »de te fabulam narras« klüglich aus dem Wege gehen. Meine von den üblichen vielfach abweichenden Ansichten über die »Wahlverwandtschaften« habe ich in dem folgenden Aufsatz näher zu begründen versucht. – A. d. V.

Wir treten in das fünfte und letzte Stadium: das der völligen Resignation des Subjekts auf individuelles Glück und seiner rückhaltlosen Hingabe an die Gesamtheit. Der Mensch in diesem Stadium hat gewiß Anspruch auf unsre Anerkennung, Dankbarkeit, Ehrfurcht, Bewunderung; aber der persönliche Zauber, der ihn umgab, als er noch für sich selbst lebte, strebte, warb, und auch die gefangen nahm, die den treibenden Egoismus wohl herausfühlten, ja, völlig durchschauten, vielleicht gar empfindlich unter ihm litten – dieser Zauber wird sehr wahrscheinlich von ihm gewichen sein. Die junge Männerwelt wird ihm nicht mehr zujauchzen, die Herzen schöner Frauen werden nicht mehr für ihn schlagen.

Es ist das Schicksal, das den modernen epischen Dichter erwartet. Dem alten Epiker mochte es bei dem geringen Umfang der ihm und seinen Zuhörern bekannten Welt wohl gelingen, die Antinomie der beiden epischen Grundtendenzen: nur aus der eignen Erfahrung und Beobachtung heraus dichten zu können und doch ein Totalbild des Lebens geben zu sollen, bis auf einen minimalen Rest zu schlichten. Ihm, dem modernen, erwächst die böse Alternative, entweder, sich in dem engen Kreis seiner Erfahrung haltend, lebenskräftig zwar zu schaffen, aber mit Verzicht auf den ungeheuren 81 Rest, der zur Totalität des Weltbildes notwendig wäre; oder, über ihn hinausschweifend, den festen Boden unter den Füßen zu verlieren, der für keine Kunst so unentbehrlich ist, wie für die seine.

Ist der Mann nun kein wahrer Poet und Erfinder, sondern nur ein Macher und Finder, dem es nicht verschlägt, ob sein Herz Anteil an der Sache hat, oder nicht, und steht er dabei in der Kraft seiner Jahre und seines Talentes, so schreibt er etwa eine endlose Reihe von Rougon-Macquart-Romanen; ist er ein wirklicher Dichter, und hat etwa der Anhauch des Alters die farben- und gestaltenfrohe Fabulierungslust der Jugend getrübt, so redigiert er die »Wanderjahre«, in denen ebenfalls eine Welt aufgebaut wird, aber nicht in sinnverwirrendem Detail, wie dort, sondern in Umrissen, Andeutungen, großen Perspektiven mit Zuhilfenahme von Symbolik und Allegorie. Wie verschieden nun diese beiden Welten ausfallen mögen, eines ist ihnen gemeinsam: daß sie ein poetisches Spiegelbild der wirklichen nicht mehr sind; dort der Dichter dem fingerfertigen Reporter und gewandten Momentphotographen, hier dem großherzigen Philanthropen und weit in die Zukunft schauenden Propheten den Platz geräumt hat.

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Eine weitere Folge der Natur der epischen Kunst, als der, welche von den redenden Künsten zumeist auf das Modell (als welches wir in erster Linie ihn selbst, sodann das ihn umgebende aktuelle Leben anzusehen haben) angewiesen ist, besteht darin, daß ihre Gebilde der Vergänglichkeit vielmehr ausgesetzt sind, als die der andern. Die Zeiten wandeln sich und die Menschen mit ihnen. Die von heute denken, fühlen, ja, sehen und hören bereits anders, als die im ersten und zweiten Drittel des Jahrhunderts lebenden Ge 82schlechter. Wir Älteren und Alten wissen davon zu sagen. Wie schwer fällt es uns oft, die Weltanschauung der inzwischen herangewachsenen Generation zu verstehen! wie unmöglich so häufig jener, sich in die unsere zu versetzen! Und diese Metamorphosen folgen einander in immer schnellerem Tempo; ein Jahr verrichtet jetzt das Werk eines früheren Jahrzehnts; ein Jahrzehnt das eines ehemaligen Menschenalters, ja, eines Jahrhunderts. Nun aber will jede Zeit zuerst und zuletzt sich selbst in dem Spiegel der epischen Dichtung sehen. Was Wunder, daß sie Werke, die ihr diesen Dienst nicht, oder nicht mehr leisten, verdrießlich, oder gleichgültig beiseite legt! Manzonis Promessi sposi – jeder kennt den Titel; aber wie wenige haben das Buch gelesen! Tom Jones, Humphry Clinker, in ihrer Art ausgezeichnete Romane – wer hat noch Freude daran! Gestalten, wie Copperfield, Pendennis, voll blühendsten Lebens, als wir jung waren, wie schattenhaft dünken sie den Jünglingen von heute! Selten trifft man in der Gesellschaft noch jemand, der in Balzacs, Victor Hugos, George Sands Romanen gut Bescheid wüßte, und kaum einen, dem nicht Gil Blas, La nouvelle Héloise, Candide, Faublas Bücher mit sieben Siegeln wären.

Daß die Toten diesseits des Rheines nicht weniger schnell reiten als jenseits, dafür ist in dem Lande der Dichter und Denker gesorgt.

Den Meisterstücken der lyrischen und dramatischen Kunst ist ein freundlicheres Los geworden; jenen, weil sie unmittelbar aus der Quelle aller Kunst und Poesie: aus der Tiefe des menschlichen Gemütes schöpfen, über welche Jahrtausende hinwegrauschen können, ohne Zusammensetzung und Farbe ihrer Quellwasser wesentlich zu verändern; diese, weil sie bei ihrer Aufgabe, dem Jahrhundert und Körper 83 der Zeit den Abdruck seiner Gestalt zu zeigen, doch von dem, was an ihr das Vergänglichste ist: ihrem Kleide, vornehm absehen dürfen. So kann man sich wohl denken, daß die schönsten von Horaz' Oden, oder Goethes Liedern, das Proömium von Childe Harold, dieses und jenes Chanson von Béranger noch nach Jahrhunderten von ihrem Perlenwert nichts eingebüßt haben; und Menschen in die Theater strömen werden, König Lear in der Sturmnacht über die Heide rasen zu sehen; mit dem melancholischen Dänenprinzen zu fragen: ob Sein oder Nichtsein besser sei; oder mit Faust den Erdgeist heraufzubeschwören.

Nun liegt auf der Hand, daß die Chance der Dauerbarkeit für die epischen Dichtungen um so größer sein werde, je mehr sie an den Eigenschaften participieren, welche den lyrischen und dramatischen Schutz gegen den vernichtenden Einfluß der Zeit gewähren. Auch sie müssen aus dem Herzen des Dichters fließen, wie ein lyrisches Gedicht; auch sie aus der von dem wechselnden Wind des Tages nicht berührten Grundwelle des Lebens schöpfen, wie das Drama. Endlich: sie müssen, wie ein bestes lyrisches Gedicht, ein vorzüglichstes Drama, formvollendet, ganz geformter Stoff sein; auch nicht das kleinste Partikel in sich dulden, das nicht durch das Feuer der Phantasie hindurchgegangen und geläutert wäre; müssen, mit einem Worte, alles das aufweisen und erfüllen, was ich vorhin von dem dichterischen Roman verlangt habe.

Ist das aber richtig, so haben Goethes epische Dichtungen einen größeren Anspruch, auf die Nachwelt zu kommen, als tausend und tausend andre. Wen muten Werthers Leiden nicht an wie ein mächtiges lyrisches Gedicht? Die Lehrjahre sind, wenn nicht in der Form, so doch im Geist, wie Werther, ein Ich-Roman und ein Hauptstück jener 84 Generalbeichte, für die wir, nach des Dichters Ausspruch, seine sämtlichen poetischen Werke zu nehmen haben; Hermann und Dorothea durchströmt dieselbe Grundwelle naiver Menschheit, die in den homerischen Epen feierlich rauscht; die Wahlverwandtschaften bergen, wie jede gute Novelle, starke dramatische Elemente und haben in demselben Maße teil an der Leicht- und Dauerlebigkeit des Dramas. Von den Wanderjahren sehe ich hier ab; sie gehören, wie wir uns überzeugten, nicht dem Publikum, das sich an epischen Dichtungen ergötzen will; gehören dem Leser, für welchen auch Aristoteles' Politik, Platons Staat und die Utopia des Thomas Morus geschrieben sind.

Und alles übrige wäre nun wirklich eiserner epischer Bestand?

Wer darf hier wagen, als wahrhaftiger Prophet aufzutreten?

Vermuten muß man freilich leider, es werde der Rost der Zeit auch diesen Bestand, der uns, den Goethe-Verehrern, heute noch heilig ist, übel benagen; vielleicht – wer weiß es? – nichts unversehrt lassend, als etwa Werthers Leiden und Hermann und Dorothea.

Aber wenn sie auch keinem in allen seinen Teilen zweifellos klassischen Ganzen angehören, wer möchte es für möglich halten, daß Gestalten wie Ottilie, der Harfner, Mignon je aus dem Gedächtnisse der Menschen schwinden könnten!

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Doch das sind weitausschweifende Fragen, die jeder nach seiner Stellung zu Goethe so oder anders beantworten wird.

Aber eine Übereinstimmung ist auch für eine zweite Frage nicht zu hoffen, trotzdem sie so viel näher und im 85 Bereich unsrer Wissenschaft zu liegen scheint: wie steht die epische Kunst von heute zur goethischen? ist sie ihr noch und wie weit tributär? Oder aber: wie weit hat sie sich losgelöst willkürlich und zu ihrem Schaden? oder notgedrungen und zu ihrem Vorteil?

Das nun wäre, wollte man es in aller Ausführlichkeit bringen, ein langes, sehr langes Kapitel. Ich muß mich hier auf einige wenige Andeutungen beschränken, versuchend, so gut es gehen will, zwischen den Schwärmern an beiden Enden die goldne Mittelstraße zu verfolgen.

Giebt es doch solche, welche mit der Würde der Unfehlbarkeit behaupten, es seien seit Goethe nennenswerte Romane und Novellen nicht mehr geschrieben worden; andre, die im Gegenteil dafür halten: die Kunst des Romane- und Novellendichtens datiere erst – und dann wird mit Vorliebe ein Datum genannt, das mit der Veröffentlichung des ersten Werkes des Betreffenden ungefähr zusammenfällt.

Da drängt sich denn wohl dem Unbefangenen die Vermutung auf, daß jene zwar in Goethes epischen Dichtungen vorzüglich bewandert sein mögen, die neue Litteratur aber nur eben angeblättert haben; bei diesen aber das Umgekehrte der Fall sein dürfte. Man kann sich bei so weitem Auseinanderfliegen der Ansichten nur mit denen zu verständigen hoffen, welchen Goethes Dichtungen aus der Gelehrtenschule in das Leben folgten, ohne ihnen zum beschränkenden Dogma zu werden; vielmehr zum Ansporn, das um sie Waltende und Webende mit offenen, redlichen Sinnen zu erfassen.

Sie aber werden willig zugestehen, daß, seit Goethes Hand der epische Griffel entsank, das Milieu, welches den epischen Dichter umwogt, und das er, das eigentliche Weltkind unter den Propheten, durchaus beherrschen muß, schier ins unendliche gewachsen ist. Dabei spreche ich nicht von 86 der Roman- und Novellenlitteratur sämtlicher moderner Kulturvölker – ein Thema, das ins grenzenlose führen würde – sondern speciell von der unsern. Wie verhältnismäßig beschränkt war das Milieu in Goethes Tagen! an einer wie verhältnismäßig kleinen Provinz des Gebietes ließ sich der große Meister selbst noch genügen! Die Adelswelt; das Bürgertum in seinen höheren soliden Schichten; die Kunst, soweit sie salonfähig ist, oder dazu beiträgt, die Monotonie des Lebens der upper ten thousand in angenehmer Weise zu beleben! Zu den höchsten souveränen Kreisen blickt der epische Dichter besten Falls aus respektvoller Ferne auf; den tieferen Schichten der Gesellschaft entnimmt er wohl hie und da eine Gestalt, aber kaum je um ihrer selbst willen: nur als utilité – wie es in der französischen Theatersprache heißt – nicht als repräsentativ für die dunkle Masse, aus der sie auftaucht und von der sich der bedeckende Schleier niemals lüftet.

Seitdem zog eine Gesellschaftsklasse nach der andern, ein Beruf nach dem andern in die epische Arena. Die Mahnung, das Volk bei seiner Arbeit aufzusuchen, war im Grunde der Stoß gegen die offene Thür. Hatte doch Goethe bereits auf diesen Weg gewiesen und in den Wanderjahren dem Handwerk die poetische Weihe erteilt, zu der die Romantiker gern ihr Amen sprachen. Das Bauernhaus, das Kaufmannskontor, die Gelehrtenstube – sie waren ja alle schon erschlossen gewesen; aber ihre letzten Geheimnisse mußten sie jetzt erst hergeben; die Schwelle fürstlicher Säle und Gemächer bildete keine Schranke mehr für die Stoffhungrigen. Einige besonders Kühne behaupteten sogar, daß die politische Arbeit – und sie erst recht – in das Programm gehöre. Selbst die Hungrigsten durften auf Sättigung hoffen, als die Großstadt, die im eigentlichen Sinne bis 87 über die Mitte unsers Jahrhunderts hinaus für Deutschland nicht vorhanden gewesen war, den epischen Rittersmann und Knapp herausforderte, in ihren Schlund zu tauchen. Und die Herausgeforderten in hellen Scharen herbeieilten und die purpurnen Tiefen nach allen Richtungen durchforschten, kostbarste Perlen, aber auch widerlichsten Schlamm zu Tage fördernd.

Doch an Breite nicht nur hatte das epische Stoffgebiet gewonnen; es war auch wesentlich vertieft worden. Die Früheren, Goethe voran, hatten die Sonne denn doch zu lieb gehabt und die Sterne; nur anzudeuten gewagt, was durch das Labyrinth der Menschenbrust nächtig wandert; waren an den Rabensteinen der Menschheit vorbei, vorbei gestrichen. Jetzt scheute man vor der Schatten dunklem Reich nicht mehr zurück; die schönen Seelen glaubte man zur Genüge zu kennen; man wollte wissen, wie es in der einer emancipierten, in Selbstanbetung sich verzehrenden Vollblutaristokratin, wie Marie Baschkirtzeff, und wieder in den Seelen der Armen und Elenden aussah, welche mit der Not täglich und stündlich um ihre Ehrbarkeit und Ehrlichkeit ringen. Und wenn in dem deutschen Romanhelden-Album der Raskolnikofftyp nicht zur klassischen Prägung kam, lag es nur daran, daß sich unter unsern Romanciers kein Dostojewski fand. Auch hüllen sich Sünde und Laster mit nichten immer in Lumpen; man spürte – und mit besonderm Eifer – dem Verbrechen in Sammet und Seide, der geschminkten Sünde, dem Laster nach, das sich – nach Heines Ausdruck – mit Rosenöl wusch. Gräfinnen, die sich über einen unerlaubten Kuß Gewissensbisse machen, wurden zu Fabelwesen; Philine hätte über die Gefolgschaft, die man ihr gab, verwundert das hübsche Köpfchen geschüttelt; ehrbare Frauen, waren sie sicher im Leben nicht ausgestorben, schwanden zusehends aus der Dichtung.

88 Aber auch die mittleren Regionen des Seelenlebens, in denen sich Tugend und Sünde auf halbem Wege begegnen, für den feineren Psychologen die interessantesten Fälle zeitigend, wurden mit nimmermüdem Eifer durchsucht. Hier war es vor allem, wo die Novelle ihre ergiebigste Ausbeute fand und, von großen Talenten gepflegt, eine Fruchtbarkeit sondergleichen entfalten konnte, uns in Hülle und Fülle goldene Früchte in silbernen Schalen bietend.

Ich glaube mich keines Widerspruchs schuldig zu machen, wenn ich in demselben Atem hinzufüge, daß trotzdem der Gewinn der Dichtkunst im Verhältnis zu der Masse kein so gar großer ist. Von den Hunderten und Aberhunderten, die sich herzudrängen, hat kaum einen die epische Muse geküßt; hat kaum einer auch nur eine Ahnung von der ungeheuren Kluft, die den Roman- und Novellenschreiber von dem Roman- und Novellendichter trennt; und welches Quantum von angeborner Begabung, vor allem: welcher Aufwand von Fleiß dazu gehört, die Kluft zu überbrücken. Der, welchem die epische Dichtkunst Herzenssache ist, möchte schier verzagen, blickt er auf die wüste Schar, welche in den ihm geheiligten Raum schwärmt, und wenn nicht in dem Adyton, zu dem es freilich nie gelangt, so doch in dem Vorhof seine Buden aufschlägt, und sein Talmi-Gold und seine Simili-Diamanten der Menge feilbietet, die mit allen Händen zugreift und freilich nicht besser ist, als die Ware.

Dennoch darf und muß ich sagen – zum Trotz der Liebedienerei, die man in Deutschland der Produktion des Auslandes entgegenträgt, daß der deutsche Roman, die deutsche Novelle, was den Kunstwert betrifft – und er allein ist, wenn nicht für den Moment, doch für die Zukunft entscheidend – der ausländischen epischen Kunst nicht nur nicht nachsteht, sondern sie entschieden übertrifft. Wir haben keinen 89 Zola, es ist wahr. Und willig gebe ich zu, daß er und die sonstigen französischen, russischen, skandinavischen Roman- und Novellenmatadore fast ohne Ausnahme sehr fleißige, sehr unterrichtete, meistens recht unterhaltende, zum Teil sogar glänzende Schriftsteller sind, und kann ihnen doch als epischen Dichtern einen hohen Rang nicht einräumen. Ihre mit solcher Gier aus allen Ecken und Enden zusammengerafften »documents humains« sind keine Kunstgebilde, wollen es ja auch gar nicht sein. So haben sie ihren Lohn dahin und werden mit ihren deutschen Nachbetern und Nachtretern der Vergessenheit verfallen, wenn die Mode gewechselt hat und das Interesse an dem Stofflichen verflogen ist. Ich gestehe gern, in dem obigen so absprechenden Urteil über die Novellistik des Auslandes mit den Siebenmeilenstiefeln des Redners, den die ihm zugemessene karge Zeit zum Schluß drängt, ein Thema durchmessen zu haben, das denn doch eingehender gewürdigt sein will. Es geht nicht, große Künstler, wie Maupassant, mit geistvollen Dilettanten, wie etwa den Autor von »Trilby«; den tiefgründigen Dichter von »Raskolnikoff« und eine fingerfertige Gyp in denselben Topf zu werfen. Leider muß ich mich hier auf das kurze Bekenntnis einer durch die Umstände vielleicht entschuldbaren Flüchtigkeit beschränken, hoffend, ich werde ein andermal Zeit und Gelegenheit finden, meine Schätzung des Wertes, resp. Unwertes der ausländischen Novellistik des nähern darzulegen. – A. d. V. Unsre Gustav Freytag und Gottfried Keller, Paul Heyse und Theodor Storm stehen nicht nur meinem Herzen näher; ich bewundere in ihnen, die sich ehrfurchtsvoll der vis suprema formae beugen, auch die weitaus größern Künstler.

Nicht als ob ich alles, was sie geschrieben, für vollkommen hielte! Ich habe auch mit den Ausstellungen nicht zurückgehalten, die ich an den Werken Meister Goethes machen zu müssen glaubte.

Denn unser aller Meister ist er trotzdem und wird es immer bleiben.

Mag die Welt, die wir heute zu schildern haben, so 90 viel bunter und reicher sein, als die ihn umgab; mögen wir deshalb mit den verhältnismäßig einfachen Farben, die er auf der Palette hatte, und welche für die bescheidenen Dimensionen seiner Gemälde genügten, nicht länger auskommen – das ist das Entscheidende nicht.

Entscheidend ist die Erkenntnis, daß des epischen Dichters einziges Geschäft darin besteht, handelnde Menschen darzustellen, die er nach seinem Bilde schuf, und zu deren Verständnis es keiner abstrakten Schilderung bedarf, auch nicht der geringsten; keiner prosaischen Erklärung, auch nicht eines Wortes, weil sie sich selbst durch ihr Handeln schildern und erklären.

Wo Goethe ganz diesem Sinne ergeben war – und er war es fast immer – da hat die Sonne Homers auch ihm geleuchtet.

Wie sie den spätesten Epigonen leuchten wird, wenn sie den Gesetzen gehorsamen, welche nicht Willkür ersann, sondern die heilige Sache der Kunst selbst diktiert hat.

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