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XVI.
»Hannele«.

Hannele, du hast es gut! Wenn wir einst sterben, nur einer
Sämtlicher Engel: der Tod stehet an unserem Bett.

Wer den Dichter verstehen will, muß in des Dichters Lande gehen. Ein weises Wort, dessen Tiefe aber nicht erschöpft, wer dabei nur an Land und Leute – an das äußere Milieu denkt, in und an welchem der Dichter zum Dichter geworden. Es giebt noch eine andere Region, in die man wandern, sich versenken, innig hineinleben muß – ich meine das Gemüt des Dichters in seiner besonderen Färbung und Qualität; hineinleben muß, bis man die ruling passion erkannt und begriffen hat: die Leidenschaft, das Pathos, welches zu allen Melodien seiner Seele den Grundaccord giebt.

Und so werden wieder Dichtungen, wie Hamlet, Nathan, Faust, die Räuber, Manfred, aus denen dieser Grundaccord uns am vollsten, mächtigsten entgegentönt, uns am tiefsten bewegen, am festesten ans Herz wachsen, am innigsten mit dem Leben unsrer Seele sich verbinden, vorausgesetzt, daß sie auf denselben oder doch einen harmonierenden Accord gestimmt ist.

Wer Gerhart Hauptmanns dichterisches Schaffen teilnehmend verfolgt hat, kann über das in seiner Seele mächtigste Pathos nicht im Zweifel sein. Es ist die Liebe zu, das Mitleid mit den Armen und Elenden. Nach seiner 297 Empfindung bedürfen die in der lichten Atmosphäre der Bildung und des Wohlstandes Wandelnden so wenig des Dichters, wie die Gesunden des Arztes. Aber wo das Licht flackert und trübe wird: in der Behausung der einsamen und verworrenen Menschen, oder wo es erlischt, und undurchdringliches Dunkel sich breitet über die Höhlen der physischen und moralischen Verkommenheit und die Spelunken des Lasters – da, wo anderen der Atem ausgeht, sie sich von Ekel überwältigt abwenden, da, gerade da fängt sein Herz mächtiger an zu klopfen, schwillt höher seine Brust, fühlt er, weiß er, daß er den Boden betreten, wo sein Fuß am sichersten wandeln, sein Dichtergenius am weitesten die Schwingen entfalten kann.

Er hat in seinen früheren Dramen das Gebiet des seelischen und physischen Elends nicht nach allen Richtungen durchmessen – wer vermöchte das? – aber er war auf der eingeschlagenen Linie an einen peripherischen Punkt gelangt, über den es so nicht hinausging. Weiter als in den »Webern« konnte er den Jammer zertretener Menschenexistenz nicht verfolgen. Der Schuß, der den schuldlosen Greis an seinem Webestuhle niederstreckte, war der letzte in dem Kampf der Elenden um ein menschenwürdiges Dasein. Dann Todesruhe.

Und sie wäre das letzte? Für sie, die sich sattgeschwelgt haben an der üppigen Tafel des Lebens, daß ihnen vor dem Dasein ekelt; für solche, die sich aus der eisigen Quelle der Philosophie Resignation ein für allemal trinken, mag Nirwana das letzte und das Ziel sein, »aufs innigste zu wünschen«. Aber die andern, die Tausende und Abertausende, die sich von den trockenen Brosamen, so von des Reichen Tische fallen, kümmerlich in Thränen nähren; von dem Glauben zehren, daß, wenn es auch keine Gerechtigkeit auf Erden giebt, der Vater im Himmel Gerechtigkeit üben und die geistig Armen, die 298 Friedfertigen und Sanftmütigen in sein Himmelreich retten werde – ihnen nimmst du alles mit diesem Glauben, ihnen läßt du eines mit diesem Glauben: die Kraft und Geduld, ihre Last zu tragen. Und wenn die Kraft bricht und die Geduld veratmet und der Tod vor ihrem Strohlager steht, die letzte Stunde, verklärt vom Wiederschein einer seligen Welt, aus der die Engel herniedersteigen und ihn in weichen Armen hinübertragen dahin, wo keine Thränen mehr fließen.

Ein Dichter, wie Gerhart Hauptmann, der sich so tief in die Seelen der Armen und Elenden hineingelebt hat, mußte ihnen eines Tages auch in die einzig lichte Region ihres Gemütsleben folgen, die so hart an die dunkelste Verzweiflung grenzt, ja, erst aus ihr geboren wird. Es war die einfache, unabweisbare Konsequenz. So dichtete er sein »Hannele«.

Ich meine, wer das Stück nicht unter diesem Gesichtswinkel sieht, er kann es nicht verstehen und würdigen; er wird wohl gar spöttisch lächeln und eine geschmacklose, ja, unheilige Maskerade da sehen, wo es dem Dichter doch so heiliger Ernst war, und er den Zuschauer, der willig auf seine Idee eingeht, mit heiligem Ernst und tiefer Rührung erfüllt.

Und so könnte ich hier schließen, nachdem ich gesagt, was nach allem über das Werk bereits scharfsinnig oder blöde, lobend oder tadelnd Geäußerten zu sagen etwa noch übrig blieb. Trotzdem möchte ich mit einigen weiteren Betrachtungen nicht zurückhalten, weil sie mir in der Linie der Aufgabe zu liegen scheinen, die ich mir stellte, als ich diese Berichte für das »Magazin« zu schreiben begann: der Aufgabe, wo möglich eine Verständigung herbeizuführen in dem Streit zwischen der älteren und der neueren Dichterschule.

Was aber jene dieser hauptsächlich zum Vorwurf macht, ist, daß sie mit ihrem Dogma und ihrer Praxis der Natür 299lichkeit um jeden Preis, die Phantasie erstickt, die doch allein einem Werke den lebendigen Odem einhauchen, einzig und allein es zu einem Kunstwerke machen kann. Ich habe wieder und wieder auf den Mißverstand hingewiesen, der darin liegt, wenn die jüngere Schule in diesem Vorwurf ihren Ruhmestitel sieht. Oder wann und wo käme sie ohne den Beistand der entthronten Göttin aus? wann und wo müßte sie nicht helfen, dem Naturalisten das Concept zu korrigieren, seine Gestalten zu modeln, die Handlung – und wäre sie die der kleinsten Novellette, des kürzesten Einakters – zurechtzurücken? Das haben die Verständigen der Schule auch längst begriffen und wollen nur die Schwingen der Phantasie gestutzt wissen, auf daß sie nicht über die Bescheidenheit der Natur hinaus ins Grenzenlose, Inkommensurable schweife. Weitschauende Zeichendeuter unter den Älteren erklärten, es werde sich über kurz oder lang diese unnatürliche Enthaltsamkeit rächen und aus den Verächtern der Phantasie Phantasten machen. Auf den Gebieten der Malerei und Bildnerkunst ging die Prophezeiung zuerst buchstäblich in Erfüllung; in der Dichtkunst, wo die Evolutionen immer ein langsameres Tempo haben, war bisher wenig davon zu spüren. Und nun kommt er, in dem die jüngere Schule einen ihrer besten Männer sieht, und schafft ein Werk, so – bis auf die nötige naturalistische Basis – losgelöst von jeder erdenschweren Bedürftigkeit, so extravagant phantastisch, daß die verflogenste blaueste Romantik etwas dem gleiches kaum aufzuweisen hat.

So scheint es, aber scheint auch nur. Bis auf einen kleinen Rest etwa ist der Dichter von Hannele den Prinzipien seiner Schule nicht untreu geworden. Er kann und wird entgegnen: was ich mein Hannele träumen lasse, ist streng in der Logik der erhitzten Fieberphantasie eines im katholischen Ritus erwachsenen gläubigen Kindes. Das Hineinspielen 300 von Reminiscenzen aus den Märchen, die Mutter und Gevatterinnen der Kleinen erzählt haben, in die religiösen Hallucinationen ist abermals psychologisch unanfechtbar. Und wenn ich auch nicht beweisen kann, daß sich in dem Gehirn eines Sterbenden alles so abspielt, wie ich es sich abspielen lasse – aus seiner Sterbestunde hat noch keiner authentischen Bericht abgestattet, und so seid ihr jedenfalls den Gegenbeweis zu führen außer stande. Und was den kleinen Rest betrifft, den ihr doch nur meinen könnt: daß ich die Engel, den Heiland in wohlgebauten Versen sprechen lasse – nehmen wir an, das Kind war eine geborene Dichterin, die nur das Elend und der frühe Tod an der Entfaltung ihrer glänzenden Gaben verhinderten – wo bleibt da die Unnatürlichkeit? Wer kann die Höhe ermessen, zu welcher sich der Genius eines so gottbegnadeten Geschöpfes in der Sterbestunde aufzuschwingen vermag?

Wahrlich, ich muß den Dichter gegen den erhobenen Einwand in Schutz nehmen: er ist nicht im üblen Sinne phantastisch geworden; er hat nur von seinem guten Rechte Gebrauch gemacht, d. h. die Phantasie voll walten lassen innerhalb der Schranken, welche ihm das Dogma seiner Schule vorschreibt, und damit, nach meinem Dafürhalten, einen wahrhaft poetischen Erfolg erzielt, den sich die Schule mit Fug und Recht in ihr Gewinnkonto schreiben darf.

Aber wie willig ich sein Werk als ein einheitliches, volles, rundes Kunstwerk anerkenne, wie mächtig es mich ergriffen, wie innig es mich gerührt hat, an die großen Aufgaben des Dramas ist mit ihm doch eben erst gerührt. Er wird nun zu zeigen haben, daß er mit seinen naturalistischen Prinzipien und seiner diesen Prinzipien treuen Praxis auch jenen gewachsen sei und in die Abgründe der von gewaltigen Leidenschaften durchwühlten Menschenseele 301 ebensotief zu tauchen verstehe, wie in die Geheimnisse der Sterbestunde eines unschuldvollen Kindes.

Wird er es zeigen können? wird er dem frommen und getreuen Knecht gleichen, der über wenigem getreu gewesen war, und den der Herr über vieles setzte?

Wäre es der Fall, ich wüßte nichts, worüber alle wahren Verehrer der Kunst eine herzlichere Freude empfinden würden.

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