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Dreißigstes Kapitel.

Der Fürst hatte sich sofort in sein Cabinet zurückgezogen und durch Herrn von Zeisel sagen lassen, daß er von der Fahrt sehr angegriffen sei und daß man ihm eine Stunde Ruhe gönnen möchte.

Herr von Zeisel stand mit dem Oberforstmeister in der tiefen Fensternische eines der Vorzimmer in leisem Gespräch.

Er meint in einer Stunde, sagte der Cavalier, aber ich habe den Herren bereits angedeutet, daß sie sich darauf gefaßt machen möchten, gar nicht vorgelassen zu werden. Wie kann er in diesem Zustande Reden anhören und erwiedern!

Es ist ein Jammer, es mit anzusehen, sagte der Oberforstmeister; gestern Abend war er grau, heute Morgen ist er weiß; er ist binnen vierundzwanzig Stunden ein Greis geworden.

Wann kam er gestern? fragte der Cavalier.

Gegen Zehn, erwiederte der Oberforstmeister; ich wollte eben zu Bett gehen, da höre ich einen Wagen im Schritt heranfahren und vor meiner Thür stillhalten. Ich ziehe so, ohne ein Arg zu haben, das Rouleau ein wenig in die Höhe und lasse es vor Schrecken fallen, als ich Durchlauchts alten Jagdwagen erkenne und ihn darin. Ich weiß nicht weshalb, aber mir war sofort, als müsse es ein Unglück gegeben haben. Nun, und als er mir aus dem Wagen in die Arme schwankte und ich armer kranker Mensch den sonst so Rüstigen fast in's Haus tragen mußte, da konnte ich wohl nicht länger zweifeln, daß meine Ahnung mich nicht betrogen hatte.

Herr von Kesselbusch wischte sich mit dem Tuche über die feuchten Wimpern.

Und wo ist er während der ganzen Zeit gewesen? fragte der Cavalier.

Gott mag es wissen, erwiederte der Oberforstmeister, sonst weiß es Keiner, nicht einmal der Johann Kreiser, der ihn gefahren hat. Der alte Mensch war ganz gebrochen und weinte wie ein Kind, als ich ihn hernach in der Küche ausfragte. Sie sind überall gewesen, in Hühnerfeld, in Dachsloch, bei den Braunkohlengruben, oben in Wüsttrumnei – er wußte es eben selbst nicht mehr, die Kreuz und die Quer, von den Wegen ab, eine Schneise hinauf, eine andere wieder hinunter, auf Punkte, wohin sonst nur Hirsche und Wilddiebe kommen. Da hat er denn halten lassen und ist ausgestiegen und hat sich auf einen Baumstumpf oder Stein gesetzt, den Kopf in die Hände gestützt und hat stundenlang so gesessen, ohne sich zu regen, ohne ein Wort zu sprechen, daß der alte Johann vor Kummer und Angst fast vergangen ist. Er sagte, und wenn man ihm eine Grafschaft böte, er möchte den Tag nicht noch einmal erleben. Endlich gegen Abend, als die Pferde schon gar nicht mehr weiter gewollt, hat er sich ein Herz gefaßt, und trotzdem er immer nur »in die weite Welt« hat fahren sollen, nach dem Jagdschloß gelenkt, in dessen Nähe, er weiß selbst nicht wie, sie schließlich gekommen waren.

Hat er mit Ihnen selbst gar nicht gesprochen? fragte der Cavalier.

Doch, erwiederte der Oberforstmeister, ein paar Stunden später, so um ein Uhr, als er aus einem unruhigen Schlaf, in welchen er alsbald gefallen war, erwachte. Aber da sprach er nur von alten Zeiten, die er und ich gemeinsam verlebt, und der Refrain war immer, daß er ein alter Mann sei. Er! du lieber Gott! der nie vorher hat alt sein wollen! Es war herzzerreißend!

Der Oberforstmeister schwieg und fragte dann, die Stimme noch mehr senkend:

Wie hat sie es denn aufgenommen?

Ich weiß es nicht, sagte Herr von Zeisel; ich habe sie gestern den ganzen Tag und auch heute noch nicht gesehen. Es ist ein schrecklich unheimlicher Zustand, Herr von Kesselbusch, und ich habe schon gedacht, wenn irgend Jemand, so sind Sie im Stande, hier zu vermitteln.

Hier ist nichts zu vermitteln, mein lieber junger Freund, erwiederte der Oberforstmeister, glauben Sie mir. Was Gott nicht zusammengefügt hat, muß sich trennen. Und so muß hier eine Trennung stattfinden, aber das Herz wird ihm darüber brechen.

Er hat sie zu sich bitten lassen, sagte Herr von Zeisel; sie muß jetzt schon bei ihm sein.

Dann möge Gott ihr und sein Herz lenken! sagte der Oberforstmeister, die Hände faltend.

Unterdessen hatte der Fürst sich von Herrn Gleich umkleiden lassen, ohne ein Wort mit dem alten Vertrauten zu sprechen; nur ganz zuletzt, als Herr Gleich ihm das beinahe weiß gewordene Haar arrangirte, sagte er:

Das hättest Du vorgestern Abend nicht geglaubt, nicht wahr? Du hast mir einen schlimmen Dienst geleistet.

Herr Gleich, der ganz bleich und verstört aussah, hatte jetzt etwas erwiedern wollen, aber der Fürst winkte mit der Hand und sagte:

Laß nur, Andreas, Du bist ja doch nur Werkzeug in einer höheren Hand gewesen.

Dann war er aufgestanden, mühsam, hatte sich in sein Arbeitscabinet begeben, aus der Schatulle auf dem großen Tisch zwischen den beiden Fenstern einige Papiere genommen und sorgsam zurecht gelegt, dann Alles wieder hastig in die Schublade gethan und sich zuletzt vor dem Tisch in seinen Sessel sinken lassen.

Und da saß er nun, vornübergebeugt, den Kopf in die Hände gestützt, wie ihn der Johann Kreiser gestern im tiefsten Walde auf den Baumwurzeln hatte sitzen sehn.

Und dieselben Gedanken zogen wieder durch das tiefgesenkte Haupt, dieselben Gedanken, die ihn gestern die großen weißen Wolken am ewigen Himmel, und der schwermuthsvolle Sonnenschein durch die dunklen Wipfel der Urwaldstannen, und das graue Moos auf den Porphyrfelsen gelehrt; er wollte sehen, ob er die Lection noch wüßte.

Er wußte nicht Alles mehr; es war, als ob die engen Zimmerwände, die Mauern auf seinen Kopf drückten, und ach! auch auf sein Herz, das so dumpf und unruhig schlug; aber die Hauptsache wußte er doch noch, und das Andere würde ja wohl der Augenblick bringen.

Ein leichter Schritt durch das Vorzimmer und das Rauschen eines Gewandes! Still, armes Herz, still! Nur jetzt halt aus! Halt aus!

Er hob langsam das Haupt.

Hedwig stieß einen lauten Schrei aus. War der Mann da im Sessel, der alte Mann mit den weißen Haaren und den tiefen Furchen im abgemagerten Antlitz, den eingesunkenen erloschenen Augen – war das er, der Fürst! Hatte es so weit kommen müssen!

Sie eilte auf ihn zu, der sich bei ihrem Eintritt hatte erheben wollen, aber kraftlos zurückgesunken war; sie fiel an seiner Seite auf die Kniee und preßte seine zitternden bleichen Hände gegen ihre von Thränen überströmenden Augen, gegen ihre heißen Lippen.

Ein unendliches Wehgefühl, das in Luft verzitterte, erfüllte des Fürsten Herz; er sollte den Kampf, den er vierundzwanzig Stunden lang durchkämpft, noch einmal, in eines Augenblicks engen Grenzen, durchkämpfen! Er stöhnte laut; dann wurde es ruhig in ihm; und ruhig und mild sagte er:

Ich bitte, liebe Hedwig, stehen Sie auf!

Hedwig erhob sich, ein schmerzliches Lächeln auf den zuckenden Lippen. Es hatte sie eine harte Ueberwindung gekostet damals, bis sie seinen dringenden Bitten nachgab, und das Du, das er ihr beinahe abgetrotzt, war ihr niemals echt erschienen – und doch! und doch!

Setzen Sie sich, liebe Hedwig, hieher zu mir, sagte der Fürst; blicken Sie mich nicht so schmerzlich an, das raubt mir die geringe Kraft, über die ich noch gebieten kann, und Sie haben ja schließlich an der Veränderung, die mit mir vorgegangen, keine Schuld. Die Natur hat nur ihr gutes Recht verlangt, das ich ihr vorenthalten zu können glaubte, und hat den Zauber, der sie bannen sollte, zerbrochen.

Seine Augen blickten starr: er schien fast mit sich selbst zu sprechen, als er nach einer kurzen Pause fortfuhr:

Oben auf der Wüsttrumnei hab' ich's erfahren. Da weidete einmal ein junger Hirte seine Schafe, und hörte ein Klingen und Singen in dem Berge, und ging dem Schalle nach durch die Felsenspalte, und tanzte eine kurze Sommernacht mit den schönen Elfen. Eine kurze Sommernacht, aber sie hatte hundert Jahre gedauert, daß die wenigen Menschen, denen er in der Morgenfrühe begegnete, erschrocken vor dem Uralten flohen. Und als er sein Dorf erreicht und die Sonne aufging und die ersten Strahlen ihn beschienen, fiel er in Staub.

Der Hirt bin ich, liebe Hedwig; die Hoffnung, Ihre Liebe zu erringen, war der Zauber, der mich die Zeit vergessen ließ. Aber die Zeit vergißt nichts und Niemand, und holt schnell nach, was sie scheinbar versäumt. Sie hat bei mir nur einen Tag gebraucht.

Einen schmerzensreichen Tag, mit dessen Erzählung ich Sie nicht behelligen will; nur, was er mich gelehrt hat, will und muß ich Ihnen sagen.

Er hat mich gelehrt, daß Sie Recht gehabt haben von Anfang an: daß ein alter Mann nicht um die Liebe eines jungen Mädchens werben darf und kann, ohne sich an ihr und an sich selbst zu versündigen. Die Jugend will leben, genießen; das Alter fragt nicht danach, ob der Mensch sein Leben genossen hat; es giebt nichts heraus von der verlorenen Zeit, keine Stunde, keine Minute, und sagt: bereite dich zum Sterben.

Das sind sehr einfache Wahrheiten, und doch, welche Schmerzen habe ich Ihnen und mir bereiten müssen, bevor ich in den Besitz derselben gelangt bin!

Lassen Sie mich kurz sein, denn das Sprechen wird mir schwerer, als ich gedacht.

Hier in der Schatulle liegt der Contract, den ich unter dem Eindrucke unserer letzten Unterredung von Iffler habe ausarbeiten lassen. Ich will Ihnen nicht verhehlen, daß ich mich gefragt und wieder gefragt habe, ob ich diesen Schritt vor meinen Ahnen verantworten könne, und daß es mich einen schweren Kampf gekostet hat, das anerzogene, vielleicht angeborene Vorurtheil zu besiegen. Ich darf Ihnen das jetzt sagen, wo mir dieser Kampf sehr kläglich und dieses Vorurtheil sehr kindisch erscheint; jetzt, wo ich weiß, daß eine Macht uns scheidet, die sich nicht beeinflussen läßt durch unser Wähnen, Wünschen, Wollen – daß die Natur uns scheidet.

Aber, liebe Hedwig, auch die Natur ist manchmal gütig, und scheidet, was sie scheiden muß, in milder, schmerzloser Weise.

Der Fürst schwieg und blickte wieder mit den starren nachdenklichen Augen vor sich nieder.

Was haben Sie beschlossen? fragte Hedwig leise.

Ein trübes Lächeln spielte um die bleichen Lippen des Fürsten.

Beschlüsse fassen, ist Sache der Jugend, sagte er, welche Zeit hat, das Beschlossene auszuführen. Wollen Sie dem alten Manne verzeihen, wenn er das junge, in Kraft und Schönheit blühende Mädchen fragt, wie sie sich ihre Zukunft gedacht?

Hat der Einzelne eine Zukunft, wenn die Zukunft des Vaterlandes auf dem Spiele steht? fragte Hedwig, den Kopf, welchen sie in beide Hände gestützt hatte, hebend und den Fürsten mit großen Augen anschauend.

Ich verstehe Sie nicht, sagte der Fürst.

Die Thür aus dem Cabinet in den Salon stand offen, und die Fenster des Salons, welche auf den Schloßhof gingen, mußten ebenfalls offen stehen; man hatte schon wiederholt von dort her das Summen und Schwirren der versammelten Menge gehört und in diesem Augenblicke erschallten die Klänge des Arndt'schen Vaterlandsliedes:

»Das ganze Deutschland soll es sein!«

Hedwig deutete stumm nach jener Seite. Der Fürst schüttelte den Kopf und sagte mit einem matten Schimmer seiner alten ironischen Weise:

Die Botschaft hör' ich wohl!

Und ich, rief Hedwig, ich klammere mich an den Glauben, an die Ueberzeugung von unseres Volkes eingeborener Kraft und Herrlichkeit wie ein Ertrinkender an den rettenden Balken. Ja, wie ein Ertrinkender! Wir müssen zugrunde gehen ohne diesen Glauben; ich habe es immer gefühlt, aber ich weiß es erst, seitdem ich diese Kriegsbotschaft hörte und jeder Blutstropfen in mir brausend, jauchzend antwortete. O mein Gott, mein Gott! Ich habe ja das Ungeheure ganz allein tragen müssen, habe Niemanden gehabt, dessen Hand ich fassen, in dessen Auge ich schauen, in dessen Herz ich mein übervolles Herz ausschütten konnte! Ihre abwehrende Hand, Ihr vorwurfsvoller Blick sagen mir, daß nicht Sie es sind, an den ich mich wenden dürfe, ich habe ja durch meinen Spott, meinen Zweifel dazu beigetragen, den Glauben in Ihnen nur noch immer mehr zu untergraben, das Bild unseres Volkes in Ihren Augen zum Zerrbild zu machen! Schauder erfaßt mich, wenn ich dieses Frevels denke; und doch! wie habe ich immer mein Volk geliebt, wie heilig ist mir in innerster Seele stets sein Bild gewesen! Ihre edle schöne Seele kann ja nicht anders empfinden. Weg mit den finsteren Wolken des Unmuths! Fort aus diesem Nebellande blinden Vorurtheils, kleinlicher Rechthaberei, ängstlichen Zagens und Verzagens! Hinaus in das helle Sonnenland der frischen frohen That! Die Sonne wird uns nicht in Staub verwandeln, sie wird uns das Blut erfrischen und die Kraft verjüngen! Auch Ihnen! Auch Ihnen! Es ist heute Ihr Geburtstag; und wäre jedes Wort ein Tropfen meines Herzblutes – ich wüßte Ihnen nichts Besseres, nichts Höheres zu wünschen und zu sagen.

Sie stand hoch aufgerichtet, die Hände halb erhoben, ein himmlisches Feuer in den großen dunklen Augen, wie eine Prophetin anzuschauen.

Des Fürsten Blicke ruhten auf ihr mit einem Ausdruck, der Bewunderung und Staunen zugleich verrieth.

Sie haben sich sehr verändert, sagte er, oder – ich habe Sie nie verstanden.

Hedwig ließ die Arme sinken, das Feuer in ihren Augen erlosch: ihr Gebet war nicht erhört, der dürre Felsen blieb verschlossen, sie mußte verschmachten, gab es keine andere Möglichkeit, ihren Durst zu löschen.

Sie kniete neben ihm nieder, küßte seine herabhängende Hand, die sie an ihre Lippen drückte, richtete sich dann langsam wieder empor und schritt leise nach der Thür.

Auf Wiedersehen, Hedwig, sagte der Fürst mit tonloser Stimme; wir haben noch gar Vieles zu besprechen.

Er ahnt nicht, daß es das letztemal gewesen ist! sagte Hedwig bei sich selbst, als sie sich in der Thür noch einmal umwendete, einen Scheideblick auf ihn zu werfen. Aber sie sah die immer noch verehrte Gestalt nur durch den Nebel der Thränen, die ihr heiß aus den Augen quollen.

Noch gar Vieles murmelte der Fürst, und gar Wichtiges, das Wichtigste: sie muß wissen, daß sie fürder ihrem Herzen frei folgen darf; sie muß es von mir hören, vielleicht, daß sonst ihr Herz doch nicht frei würde.

Der Herr Graf bittet, sogleich vorgelassen zu werden, sagte Herr Gleich.

Der Fürst war so in seine schmerzlichen Gedanken versunken gewesen, daß er den Kammerdiener gar nicht hatte eintreten hören. Herr Gleich mußte seine Meldung wiederholen.

Er hat mich ja schon bei meiner Ankunft begrüßt, sagte der Fürst. Sag' ihm, daß ich sehr, sehr angegriffen bin; oder nein, laß ihn doch lieber kommen. Aber erst nimm die Papiere dort aus der Schatulle.

Es war der von Iffler ausgearbeitete Ehevertrag, eine Schenkungsurkunde und ein kleines versiegeltes Packet mit der Aufschrift: »Briefe von Doctor Hermann Horst. Im Falle ich plötzlich sterben sollte, der gnädigen Frau zuzustellen.« Herr Gleich zögerte, als er das Packet zu den anderen Sachen legen wollte; die Aufschrift hatte ihm einen Stich in's Herz gegeben; aber wenn auch – so konnte es doch nicht bleiben.

Gesenkten Hauptes schritt er nach der Thür, durch die alsbald der Graf hereintrat.


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