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Achtes Kapitel.

Und Stephanie konnte wenigstens für sich geltend machen, daß – um von den Andern zu schweigen – der Fürst, auf den es doch hauptsächlich ankomme, für ihre Aufmerksamkeiten keineswegs unempfindlich war, im Gegentheil, dieselben in jeder Weise erwiederte.

Er richtete bei den Mahlzeiten vorzugsweise gern das Wort an sie und hatte stets ein gefälliges Ohr für ihr Geplauder. Er lächelte über ihre Scherze, allerdings in seiner stillen und manchmal leicht ironischen Weise, aber er lächelte doch; und wenn es irgend möglich war, ihre Behauptungen in Schutz zu nehmen, so that er es gewiß. Er war ihr sehr dankbar, daß sie des Abends einigemal auf dem Flügel in dem Salon gewisse moderne Piecen vortrug, und ließ sich angelegen sein, sie selbst in der herrlichen Bildergallerie umherzuführen und sie über die Styl-Unterschiede der verschiedenen Schulen und Meister zu belehren. Ja, er trieb die Gefälligkeit so weit, ihr einzelne Mappen aus seiner reichen Kupferstichsammlung auf ihr Zimmer zu senden, und als Lady, ihr englisches Wachtelhündchen, ein sehr kostbares Blatt arg benagt hatte, die Sache scherzhaft zu nehmen und das Thier wegen seines guten Geschmacks zu beloben.

Besonders aber war es Stephanie's Zustand, der ihr übrigens nicht im Mindesten beschwerlich fiel, auf welchen er die zartesten Rücksichten nahm. Stephanie durfte keine Stufe hinauf- und hinabschreiten, ohne daß er ihr den Arm bot oder einen der Herren veranlaßte, es statt seiner zu thun; und so hatte Stephanie kaum geäußert, daß es sich in einigen zur ebenen Erde nach dem Terrassengarten gelegenen Zimmern gar bequem wohnen müsse, als er sofort Befehl gab, dieselben für die Gräfin einzurichten und um Entschuldigung bat, daß er nicht von selbst auf einen so selbstverständlichen Gedanken gekommen sei.

Stephanie ließ sich nach einigem Sträuben diese Veränderung gefallen, sobald sie sah, daß der Graf nichts dagegen hatte; aber sie war nicht wenig erschrocken, als er schließlich um die Erlaubniß bat, für sein Theil in den alten Zimmern, die ihm ganz besonders zusagten, bleiben zu dürfen.

Es fiel ihr ein, daß der Graf wahrscheinlich nur deshalb an diesen Zimmern hange, weil dieselben so nahe an den von Hedwig bewohnten lagen und von jenen nur durch den sogenannten Rothen Thurm getrennt waren, aus welchem eine Wendeltreppe, die den beiden hier zusammenstoßenden Flügeln gemeinschaftlich war, in den abgelegensten, stillsten Theil des Schloßgartens hinabführte. Nun hätte sie am liebsten die Sache rückgängig gemacht, aber die Einrichtung war getroffen und sie mußte sich begnügen, ihrem Aerger dadurch Luft zu machen, daß sie dem Fürsten, als die Gesellschaft nach dem Diner im Garten promenirte, in mildester Weise das Leid einer Frau klagte, die ihren Gatten über Alles liebe, die nur für ihren Gatten lebe und dann doch gelegentlich sehe, wie leicht dieser geliebte Gatte der Gattin entbehren könne.

Es ist nicht anders, sagte sie, zu solchem Verhältnis gehören, wie die Franzosen sagen, Zwei: Einer, der liebt, und Einer, der sich lieben läßt.

Des Fürsten Stirn umwölkte sich.

Freilich, sagte er, aber was müssen wir nicht erst entbehren lernen, und was ist am Ende unentbehrlich!

Sie, zum Beispiel, Durchlaucht, sagte Stephanie.

Ich? rief der Fürst. Guter Gott, wem denn?

Aller Welt.

Aller Welt? Das ist ein weiter Begriff. Ich möchte gern aller Welt entbehrlich sein, wenn ich es nur dem Einen oder dem Andern nicht wäre.

Ich will von mir, ich will von uns nicht sprechen, sagte Stephanie, aber Hedwig –

Für Hedwig ist auf alle Fälle gesorgt, sagte der Fürst.

Wer denkt daran? rief Stephanie. Und dann, für wen würde Durchlaucht nicht sorgen? Und nun gar für Hedwig, die – aber es ist wirklich abscheulich, auch nur davon zu sprechen!

Sprechen Sie immerhin, sagte der Fürst. Ich denke öfter an den Tod, als Sie zu glauben scheinen, und der Tod hat für mich nichts Schreckliches. Aber was wollten sie von Hedwig sagen?

Ich wollte sagen, erwiederte Stephanie, daß Hedwig ja in einem Falle, den ich nicht ausdenken kann und mag, doch immer noch uns hätte, die wir sie so lieben.

Sollte diese Liebe wohl auf Gegenseitigkeit beruhen? fragte der Fürst mit einem ironischen Lächeln.

Es ist wahr, erwiederte Stephanie, Hedwig ist so zurückhaltend, so verschlossen; man kann so selten sagen, woran man mit ihr ist und, wenn ich aufrichtig sein soll, eigentlich hat von uns Niemand sich rühmen können, ihr wirklich nahegestanden zu haben, außer allerdings Heinrich.

In der That, sagte der Fürst, die Augen starr auf den Grafen und Hedwig richtend, die schon seit einer Viertelstunde auf einer der tiefer gelegenen Terrassen neben einander standen und in den Wildpark hinabblickten.

Der Graf schien etwas zu demonstriren; er bewegte lebhaft den Arm; dann verschwanden sie in einem Heckengange, durch den man auf die letzte Stufe der Terrasse gelangte.

In der That, wiederholte der Fürst.

Freilich, sagte Stephanie, und ich begreife das auch vollkommen. Sie haben so manches Aehnliche in ihren Charakteren. Der selige Papa sagte immer, Hedwig müsse ein Mann geworden sein, die würde einen guten Soldaten abgegeben haben. Nun ja, Muth hat sie – das ist nicht zu leugnen, und da das die Eigenschaft ist, die Heinrich am allerhöchsten schätzt, so konnte es nicht fehlen, daß sie sich vielleicht gegenseitig ein wenig anzogen. Der selige Papa hat mich oft damit geneckt und die gute liebe Mama machte sogar manchmal ein bedenkliches Gesicht. Ich habe sie natürlich immer ausgelacht. Mein Gott, Ihr Männer könnt nun einmal nicht anders, als schönen Frauen den Hof machen. Sollen wir uns darüber die Augen ausweinen? Wie thöricht wäre das! Nein, lieber machen wir ein Auge und wenn es sein muß, beide zu. Wir wissen ja doch, der liebe Ungetreue wird schon zur rechten Zeit zurückkommen. Und nun gar seitdem Hedwig erlangt hat, was ihr Herz nur immer wünschen kann und mein Heinrich hoffentlich sich auch nicht zu beklagen braucht – aber was haben Durchlaucht?

Rief man da nicht? sagte der Fürst, der plötzlich Stephanies Arm losgelassen hatte, an das Steingeländer der Terrasse getreten war und in den Wildpark hinabblickte.

Ich hörte nichts, sagte Stephanie.

In diesem Augenblicke vernahm man deutlich den Schrei einer Frauenstimme.

Um Gott, was ist das? rief der Fürst, mit einer Schnelligkeit, die man seinen Jahren nicht zugetraut hätte, die steilen Stufen der Treppe hinabspringend, während auch schon ein paar Bediente aus dem oberen Theil des Gartens herbeigelaufen kamen.

Stephanie war zweifelhaft, ob sie ebenfalls nacheilen oder auf eine Bank in der Nähe sinken und dort das Resultat des sonderbaren Vorfalls abwarten sollte. Sie entschied sich nach kurzem Besinnen für das Letztere, indem sie mehr verwundert als erschrocken bei sich selber sagte: Heinrich wird doch nicht so unvorsichtig gewesen sein!

Hedwig hatte dem Grafen nicht ausweichen wollen, als er nach der Tafel mit seiner gewöhnlichen Ungezwungenheit an sie herangetreten war und über die Lage des Schlosses vom militärischen Standpunkt aus ein Gespräch begonnen hatte.

Man brauchte gar nicht erst in den Chroniken nachzulesen, sagte er, um zu wissen, daß das Schloß zu einer Zeit erbaut ist, wo man keine Geschütze irgend welcher Art hatte, und also ein Felsen, der von den nächstliegenden Höhen durch ein, ein paar hundert Fuß breites Flußthal ringsum getrennt ist, ausreichende Sicherheit bot.

Mir kommt so eine Burg auf ihrem steilen Felsen immer vor wie ein geharnischter Ritter auf seinem ebenfalls geharnischten Roß, erwiederte Hedwig.

Ein vortrefflicher Vergleich, sagte der Graf lebhaft. Gerade das ist es; man konnte dem Kerl von keiner Seite beikommen und das gab ihm in der Schlacht das Uebergewicht und ließ es ihn mit einem ganzen Haufen schlecht gerüsteter und bewaffneter Fußgänger aufnehmen. Wenn man sich die Situation einer solchen Burg vergegenwärtigt, so hat man das ganze Mittelalter mit seinem Faustrecht der Ritter, der Winkelpolitik der kleinen Dynasten, der Bannmeile der Städte und den übrigen charakteristischen Zügen, die ja jener Zeit, weil sie ihr natürlich sind, wohl stehen, aber über die man doch lachen muß, wenn man sie heutzutage wiederfindet.

Das Mittelalter soll sonst bei dem Adel besser accreditirt sein, erwiederte Hedwig.

Doch nur bei dem Theil des Adels, erwiederte der Graf mit Lebhaftigkeit, der nichts gelernt und nichts vergessen hat, bei dem Adel, der uns seine Einsichtslosigkeit als Erbweisheit und seinen Starrsinn als Charakterstärke verkaufen möchte und dadurch nichts weiter erlangt, als daß er sich in den Augen aller intelligenten Menschen prostituirt und schließlich gegen sein eigenes Fleisch und Blut wüthet. Wer den Zweck will, muß auch die Mittel wollen.

Auch auf Kosten des Charakters?

Der Charakter leidet nicht darunter, daß man beisammen läßt und zusammen bringt, was zusammen gehört.

Zum Beispiel? fragte Hedwig.

Nun eben, gleich Mittel und Zweck.

Das heißt?

Das heißt für uns, daß wir, wenn wir uns erhalten wollen – und wer möchte das nicht? – uns associiren müssen, ebenso wie alle Welt sich heutzutage associirt, und daß wir uns eine Firma wählen, unter der wir gemeinschaftlich für unsere Interessen wirken und streben können, weil die Interessen dieser Firma wesentlich auch die unseren sind: ich meine ein starkes Königthum von Gottes Gnaden.

Ein sehr – kaufmännischer Gedanke für einen weiland reichsunmittelbaren Grafen!

Wir Steinburger waren nie reichsunmittelbar, erwiederte der Graf, und wären wir es gewesen, ich würde es nicht kaufmännisch, ich würde es nur politisch nennen, wenn wir einen Schein geopfert hätten, dem auch nicht die Spur von Wesen mehr anhaftete. Wie es denen erging und ergehen mußte, die kein Verständniß für die Lehren der Geschichte haben, nun, ich dächte, das Jahr 1866 hat es hinreichend deutlich gezeigt. Ich habe kein Mitleid mit Menschen, die mit offenen Augen nicht sehen wollen.

Auch nicht mit einem alten Manne, dessen Gast wir sind, und den wir, und wäre es auch nur aus diesem Grunde, zu schonen haben? fragte Hedwig.

Ich weiß, was Sie sagen wollen, erwiederte der Graf, und es thut mir aufrichtig leid, wenn ich in den politischen Disputen die wir nur allzu oft geführt haben, so freimüthig gewesen bin. Aber sagen Sie selbst, gnädige Frau, ob ich gleichgiltig bleiben kann, wenn ich den Fürsten Doctrinen aufstellen höre – die Sie theilen, wollen Sie sagen? – mag sein; ich will einmal annehmen, daß Sie nicht ein grausames Vergnügen empfinden, mich durch Widerspruch zu reizen; daß es Ihnen mit Ihrer Freiheitsschwärmerei das einemal und mit Ihrem Welfenthum das anderemal – obgleich ich Beides nicht recht zusammenreimen kann – Ernst ist. Ich räume den Frauen gerne das Recht ein, Gefühlspolitik zu treiben. Ich habe auch gar nichts dagegen, wenn ein Mann wie der Doctor nach Herzenslust Republikaner ist. Leute seines Schlages stammen aus einer Classe, die jahrhundertelang im tiefsten politischen Schlaf gelegen hat. Ich sage nicht, daß es die Schuld dieser Classe ist, aber es ist doch nun einmal so. Kann man billigerweise verlangen, daß jene Leute in dem Moment, wo sie, aus ihrem Schlaf erwachend, sich die Augen reiben, die Welt sehen sollten wie sie ist? Daß sie nicht ihre Träume – denn geträumt haben sie die Hülle und die Fülle – mit der Wirklichkeit verwechseln? Aber das ist denn doch mit dem Fürsten etwas ganz Anderes. Wer wie er aus einem Geschlecht stammt, das mitgesprochen und mitgehandelt hat, so lange es eine deutsche Geschichte giebt, der muß auf der Höhe des Moments stehen, muß wissen, wie die Dinge liegen. Wo wäre der Fürst jetzt, wenn er 1866 die ohnmächtige Macht gehabt hätte, wie jene anderen Verblendeten, in das rollende Rad der Weltgeschichte zu greifen? Es hätte ihn zu den Todten geschleudert wie jene. Und der Fürst ist der Senior meines Hauses! Es wäre unbillig, von mir zu verlangen, daß ich ruhig zusehen soll, wenn ein Name wie der unsere in dem goldenen Buch unseres Adels gelöscht wird und, was schlimmer ist, sich selbst auslöscht.

Der Graf hatte mit Lebhaftigkeit und Wärme gesprochen. Hedwig glaubte zum erstenmal zu sehen, daß in dem Manne, dessen andere glänzende Eigenschaften einst ihr junges Herz bezaubert hatten, auch eine tiefe Ueberzeugung von der Berechtigung seiner Weltanschauung lebe. Diese Weltanschauung war das genaue Gegentheil dessen, was sie für das Rechte hielt, worüber sie sich mit Hermann in langen, ernsten, begeisterten Gesprächen wieder und wieder verständigt hatte. Sie fragte sich, was Hermann wohl erwiedern würde, wenn er an ihrer Stelle wäre; sie sagte sich: siehe, hier ist unser Feind, unserer schlimmsten Feinde einer! Und zugleich konnte sie diesen Feind, mit wie kühler Geringschätzung er auch von seinen Gegnern gesprochen hatte, nicht wieder geringschätzen, ihm die Achtung nicht versagen, die ihr jede männliche Haltung abnöthigte.

Sie antworten nicht? fing der Graf wieder an. Ueberzeugt habe ich Sie nicht, ich weiß es wohl; so halten Sie mich einer Erwiederung nicht werth. Aber Sie gebe ich noch nicht auf. Frauen wie Sie tragen in sich ein tiefes Gefühl der wahren Ordnung, ein dunkles und doch untrügliches Bewußtsein von dem, was ist; sind mit ihrem Herzen, was auch ihre Zunge spricht, da wo sie die Kraft und die Macht sehen. Und glauben Sie, gnädige Frau, die Kraft ist bei uns und unser ist die Macht. – Aber wo sind wir denn eigentlich hingerathen?

Sie waren den zuletzt ziemlich steilen Pfad vollends hinangestiegen und befanden sich jetzt auf einem Wege, welcher unterhalb der Gartenterrassen hinlief, von deren letzten steilen Felswänden er auf der einen Seite eingeengt wurde, während auf der andern die gerade hier sehr tiefe Roda ihre dunkelklaren Wasser in langsam sich drehenden Wirbeln vorüber wälzte. Drüben stiegen die mit Buschwerk überstreuten Wiesenhügel des Wildparks empor, welcher hier keiner Einzäunung zu bedürfen schien. Nur die schmale Brücke, die in einiger Entfernung nach einem Wildhäuschen führte, war mit einem Gitterthor verschlossen. Der Weg, welchen man an dieser Stelle aus dem Felsen hatte heraussprengen müssen, war so schmal und der Rand nach dem Flusse so steil, daß man nur eben neben einander gehen konnte.

Ich glaube, der Weg ist zu Ende, sagte der Graf, nachdem sie eine zeitlang schweigend neben einander hingeschritten waren.

Es scheint nur so, erwiederte Hedwig. Eine scharfe Biegung um jenen Felsen dort, den wir den Schwanenfelsen nennen. Etwas weiterhin ist eine Grotte eingesprengt, neben der ein Pfad wieder in die Gärten heraufführt.

Sie ging schnellen Schrittes voran, der Graf folgte.

Ein muthiger und starker Mann, sagte er, könnte hier einem ganzen Regiment den Weg verlegen.

Er hatte die Worte kaum gesprochen, als um die Kante des Felsens herum ein riesiger Hirsch trat, der die Beiden kaum erblickt hatte, als er das ungeheure Geweih senkte und wieder auf- und wieder niederbewegte, wobei die ungeheuren Enden tönend gegen den Felsen schlugen.

Das wird ernsthaft, sagte der Graf.

Es ist der alte Hans, sagte Hedwig weiterschreitend; er thut mir nichts, wir sind gute Freunde.

In diesem Augenblicke stieß das wüthende Thier ein dumpfes Gebrüll aus und kam, das Geweih noch tiefer senkend, in einem seltsam tänzelnden Schritt auf die Beiden los. Im Nu hatte der Graf Hedwig hinter sich gerissen und stand vor dem Thier, es mit lauter Stimme anschreiend, ob er es vielleicht doch noch wegscheuchen könne; aber der Hirsch schien dadurch nur zu größerem Zorn gereizt. Seine Mähnen sträubten sich, die blutunterlaufenen Augen glühten und, ein paar Schritte zurückweichend, setzte er zum Sprunge ein.

Um Gotteswillen, Hedwig, fliehen Sie! rief der Graf, indem er sich dem Thier entgegenwarf, bevor es noch selbst zum Angriff übergehen konnte.

Seine Bewegung war so schnell gewesen und er hatte das Geweih so glücklich gefaßt, daß es einen Augenblick aussah, als würde er seine Absicht, das Thier von dem schmalen Pfad hinab in den Fluß zu stürzen, ausführen können. Aber es war nur ein Moment, dann siegte die Riesenkraft des Thieres über die gewaltige Stärke des Mannes. Es drängte ihn, ob er auch mit äußerster Anstrengung rang, als wäre er ein leichter Knabe gewesen, gegen den Felsen, an dessen Wänden es ihn annageln zu wollen schien. Hedwig konnte den furchtbaren Anblick nicht länger ertragen. Laut schrie sie auf; da krachte der kurze scharfe Knall einer Büchse in ihren Schrei hinein. Der Hirsch machte einen ungeheuren Satz vorwärts, schleuderte den Grafen bis unmittelbar vor ihre Füße und brach dann selbst zusammen, im Todeskampf verendend. Drüben aber, jenseits des Flußes auf der Parkwiese, aus deren Büschen er eben herausgetreten war, stand der alte Prachatitz, die noch rauchende Büchse jägermäßig langsam aus dem Anschlage nehmend.

Ist er todt? rief er hinüber.

Hedwig antwortete nicht. Sie war neben dem Grafen niedergekniet, der, mit fahler Blässe bedeckt, ohne ein Zeichen des Lebens zu geben, auf dem Rücken vor ihr lag.

Er ist für mich gestorben, murmelte sie.

Sie hob seinen Kopf, dem die Militärmütze entfallen war, empor und suchte ihn aufzurichten; und wie nun sein todtenbleiches Haupt an ihrer Brust ruhte, durchzuckte sie der seltsame Gedanke, was sie wohl jetzt empfinden würde, wenn sie seine Gattin geworden wäre. Es war, als ob ihr der tiefe Schrecken jede andere Erinnerung ausgelöscht, als ob Alles um sie her versunken und sie mit dem Todten allein wäre in der Welt. Aber dieser traumwache Zustand währte nur einen Moment. Durch das bleiche Gesicht flog ein Zucken, die Lider hoben sich langsam von den Augen, die in seltsamer Starrheit zu ihr aufblickten.

Was eben in Hedwigs Seele vorgegangen war, wiederholte sich in der Seele des Grafen. Auf dem dunklen Hintergrunde der Todesohnmacht zeichnete sich von dem Leben, zu dem er eben erwachte, nichts ab, als das eine Bild der schönen Frau, die ihn in ihren Armen hielt. Er sah nur sie, und sah sie so, als ob in dem reizenden Oval dieses himmlischen Gesichtes die ganze Welt umschlossen sei.

Dann trat die Wirklichkeit in ihre Rechte. Er sah ein braunes bärtiges Gesicht, er hörte Hedwig sagen: Was sollen wir thun? Die Erinnerung dessen, was geschehen, kam zurück und mit der Erinnerung die Kraft.

Er versuchte sich emporzurichten; es gelang ihm mit Hülfe des braunen Mannes, in welchem er jetzt den Förster Prachatitz erkannte. Und da kamen auch um die Felsenecke ein paar Bediente, die über den todten Hirsch, der am Wege lag, klettern mußten, um bis zur Gruppe zu gelangen; und jetzt erschien auch der Fürst, von der ungewohnten Anstrengung des raschen Laufes die Treppen hinab und vor innerer Aufregung noch bleicher als gewöhnlich, mit düsterem Auge die wunderbare Scene, die er sich kaum erklären konnte, überblickend, mit unsicherer Stimme fragend, was es denn gegeben habe.

Der Graf hatte sich soweit erholt, daß er selbst eine Aufklärung versuchen konnte. Die Sache hätte schlimmer ablaufen können und wäre ohne Zweifel schlimm abgelaufen ohne das rechtzeitige Erscheinen des Prachatitz, der einen Schuß gethan, welcher sich mit dem Tellschuß messen dürfe.

Der Graf wollte bei diesen Worten dem Förster die Hand reichen und bemerkte erst jetzt, daß er den rechten Arm nur mit Mühe bewegen konnte – wie es schien, in Folge einer starken Quetschung, die er beim Kampfe oder im Fallen erlitten.

Die beiden Diener hatten unterdessen den Hirsch auf die Seite schieben wollen und dabei war das gewaltige Thier dumpfen Falles von dem steilen Rande in das Wasser gestürzt. Ein Dritter, der noch dazu kam, und den Anderen helfen wollte, wäre in seinem Uebereifer beinahe hinterdrein gefallen; Alle wurden über und über mit Wasser bespritzt. Das hatte zu Lachen gegeben. Dennoch wollte die dumpfe Spannung, die über der ganzen Scene gelegen hatte, nicht weichen. Der Fürst war ganz verstört. Hedwig blieb stumm; der alte Prachatitz hatte sich still über die kleine Brücke entfernt; die Diener gingen flüsternd hinterher. Der Graf, der jede Hilfe abgelehnt hatte, war entschieden der am meisten Gefaßte. Er sprach, obgleich ihm offenbar das Sprechen noch schwer wurde, mit Ruhe, ja mit Heiterkeit über den Vorfall.

Er erinnerte sich eines ähnlichen Ereignisses aus dem Leben des ihm befreundeten Prinzen, der von einem Keiler angenommen wurde und eben auch nur mit dem Leben davongekommen war. Freilich sei das auf der Jagd gewesen, wo man auf dergleichen gefaßt sein müsse, während der alte Bursche, der seinen Vorwitz und einen Moment übler Laune so theuer bezahlt, unritterlich genug gewesen sei, sich einen waffenlosen Gegner auszusuchen.

Der Graf deutete mit keiner Sylbe an, daß es Hedwig gewesen war, welcher der erste Angriff gegolten hatte; daß er selbst leicht durch einen Sprung in das Wasser oder ein paar Schritte rückwärts die Treppe hinauf sich hätte retten können. Hedwig fühlte, daß es ihre Pflicht sei, hier einzufallen und den Vorfall in das rechte Licht zu setzen; aber sie vermochte den Ausdruck nicht zu finden, schwieg und wurde durch das Bewußtsein ihrer Ungeschicklichkeit nur noch stiller, verlegener.

So gelangte man bis in den Garten hinauf, wo unterdessen Stephanie durch das Rennen und Rufen der Bedienten und nun gar durch den Schuß so in Schrecken gesetzt worden war, daß sie Hermann, der jetzt auch herbeilief und eilends an ihr vorüber wollte, um seine Hilfe ansprechen mußte.

Ich weiß nicht, gnädige Frau, ob man meiner dort unten nicht noch dringender bedarf, erwiederte Hermann; und war im Begriff, Stephanie, die ihm in halb wirklicher, halb gespielter Ohnmacht fast in den Armen lag, wieder auf die Bank, von der sie sich eben erst erhoben, gleiten zu lassen, als man bereits von unten heraufkam und der Graf schon von Weitem rief:

Ich bitte um Entschuldigung, liebe Stephanie.

Um Gotteswillen, rief Stephanie, sich schnell emporrichtend und dem Grafen entgegeneilend, was ist geschehen? Was hast Du gethan?

Gethan nicht eben viel, erwiederte der Graf, mir nur den Arm von einem tollen Hirsch so zurichten lassen, daß ich Deine Begrüßung nicht einmal erwiedern kann, wie es sich gebührt, und unseren Herrn Doctor hier bitten muß, sich meiner auf hoffentlich nicht allzu lange freundlich anzunehmen.

Man hatte sich für den übrigen Theil des Tages getrennt, da der Graf auf Hermanns Verordnung das Zimmer hüten mußte und den Wunsch ausgesprochen hatte, mit seinem Kammerdiener Philipp allein zu bleiben; der Fürst ebenfalls erklärte, der Ruhe zu bedürfen und die Damen keine Veranlassung hatten, ihre Empfindungen über das, was geschehen war, auszutauschen.

Wissen Sie, Doctor, sagte Herr von Zeisel, der erst spät von Buchholz, dem benachbarten Gute des alten Herrn von Fischbach, wo er für den Grafen den Kauf der Pferde abgeschlossen, zurückgekommen war und jetzt erst die Ereignisse des Nachmittags erfahren hatte, wissen Sie, Doctor, das ist eine dumme Geschichte. Wir waren schon so schön im Zuge; und wenn nun erst der Marquis hier war, den Durchlaucht als einen Lebemann ersten Ranges schildert, so sollte es erst recht losgehen. Ich hatte Malortie's Hofmarschall wieder durchstudirt und war auf alle Eventualitäten eingerichtet: Tafel, Concert, Ball in jederlei Gestalt, Theater, was Sie wollen. Ich hatte eine Welt von Plänen im Kopf, und nun dieser Unfall, der mir die ganze Gesellschaft auseinandersprengt und uns Alle wieder zu Einsiedlern zu machen droht! Es ist zum verzweifeln! Der Fürst, von dem ich eben komme, auf das tiefste verstimmt – der Graf mit kalten Umschlägen auf seinem tapfern Arm, die Gräfin vermuthlich mit dito auf ihren roth geweinten Augen, und unsere gnädige Frau – nun, bei der weiß ich freilich nie, was ich denken, wie ich sie mir denken soll. Und Sie selbst, Doctor, Sie finde ich nun gar abscheulich. Ich werde zu Ifflers gehen, kommen Sie mit?

Ich kann nicht.

Nun wohl, so bleiben Sie hier und verwenden Sie die Zeit dazu, ein Recept gegen die Melancholie zu erfinden und nehmen Sie selbst eine tüchtige Dosis.

Der Cavalier ging lachend aus dem Zimmer. Hermann lachte ebenfalls und dann schlug er sich vor die Stirn und sagte:

Es ist ein Wahnsinn, daß ich bleibe.

Hedwig aber saß auf ihrem Zimmer und schrieb:

 

»Ich kann die Nacht nicht über diesen Tag hereinbrechen lassen, ohne Ihnen zu sagen, was mir das Herz abdrückt. Sie haben mir heute das Leben gerettet. Was Sie gethan haben, hätte ein Anderer auch gethan, und überdies mache ich mir aus dem Geretteten nicht viel. Aber immerhin ist es ein eigen Gefühl, Jemandem sein Leben zu verdanken, besonders wenn man von Natur so wenig dankbar ist, wie ich. Wollen Sie mir dies drückende Gefühl abnehmen? Ich weiß nicht, ob Sie gegen mich eine Schuld zu haben glauben; ich vermuthe es. Ich kann mir wenigstens nur so die sonderbare Unterredung, zu der Sie mich neulich gezwungen haben, erklären. Nun wohl: rechnen wir gegen einander ab! Sie sollen mir, ich will Ihnen nichts mehr schuldig sein. Wir sind quitt. Vielleicht ist es gut so und hat so sein müssen, damit wir uns begegnen und mit einander verkehren können, nicht wie zwei alte Freunde, nicht wie zwei alte Feinde, sondern wie zwei ehrliche Menschen, die ihre Forderungen verglichen und ausgeglichen haben und nun Jeder mit ruhigem Herzen ihres Weges gehen können.«

 

Hedwig hatte das Billet gesiegelt und wollte der Kammerjungfer klingeln, als ihr der Gedanke kam, es möchte den Leuten auffallen, daß sie an den Grafen schrieb, und noch dazu so spät. Wäre es nicht besser, das Billet in ein Buch zu legen, das sie dem Grafen zur Lectüre für die Nacht sendete? Aber ihr Stolz sträubte sich gegen eine so kleinliche Handlungsweise und sie klingelte.

Ist August im Vorsaal? fragte sie die eintretende Meta.

August hat um die Erlaubniß gebeten, nach Rothebühl hinabgehen zu dürfen, erwiederte das Mädchen.

Und Du hast ihm statt meiner diese Erlaubniß gegeben?

Ich glaubte, die gnädige Frau würde nichts dagegen haben und –

Ist sonst Jemand da?

Nein, erwiederte Meta stockend.

Glaubst Du, den Kammerdiener des Grafen finden zu können?

Er war noch eben im Corridor, erwiederte Meta schnell.

So gieb ihm dies Billet für seinen Herrn. Es bedarf keiner Antwort.

Meta nahm das Billet und entfernte sich eilends, um weiterer Fragen überhoben zu sein. Sie hatte den August weggeschickt, um mit Dietrich, ihrem Verlobten, eine Stunde bequemer verplaudern zu können.

Nun, fragte Dietrich, was gab es denn? Einen Brief? Der ist gewiß für den Doctor.

Was Du nur immer mit dem Doctor willst, sagte Meta.

An wen denn? fragte Dietrich, indem er dem Mädchen mit einer geschickten Wendung den Brief entriß.

Du unartiger Mensch!

Still, man hört uns ja! – An den Grafen? Man könnte das Ding leicht aufmachen.

Und er drehte das Billet in den Händen herum.

Wo Du Dich unterstehst, Dietrich.

Unterstehen? sagte Dietrich. Dummes Zeug, man kann sich Alles unterstehen, wenn es Niemand zu erfahren bekommt. Aber das geht, mich eigentlich nichts an. Was sollst Du denn damit?

Ich soll's des Grafen Philipp geben.

Das will ich denn doch lieber selber thun, sagte Dietrich.

Aber Du thust es doch auch?

Na, gewiß! Gute Nacht, dummes Mädel.

Dietrich lief den Corridor hinauf. Meta wollte ihm nach, aber die Klingel aus Hedwigs Zimmer ertönte; sie mußte zurück.

Soll ich oder soll ich nicht? sagte Dietrich, der unter einer der Lampen, die im Corridor brannten, stehen geblieben war, das Billet in der rechten Hand haltend und mit der Linken die Knöpfe an seiner Reitjacke abzählend. Ich soll! Na meinetwegen! Wenn ich partout nicht herausbringen kann, was sie mit dem Doctor vorhat, so weiß ich doch jetzt, daß sie in nachtschlafender Zeit an den Herrn Grafen schreibt. Das ist schon immer etwas für den Alten.


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