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Zweites Kapitel.

Unterdessen war Hedwig den schönen, kunstvollen Weg, welcher in vielen Krümmungen allmälig zur Fasanerie emporstieg, in einer Eile hinaufgeritten, die dem Dietrich, ein so guter Reiter er war, das Folgen schwer machte. Und, was sie sonst niemals unterließ, wenn er ihr in den Sattel half, oder sie so allein durch den grünen Wald dahinsprengten: sie hatte kein Wort mit ihm gesprochen, ihn nicht um seine Hochzeit mit Meta Prachatitz befragt, die noch in diesem Sommer sein sollte, und wie es mit der Ausstattung stehe. Auch die armen alten Weiber, die ihnen mit den großen Reisigbündeln auf dem Rücken begegneten, und, sich gegen die Felswand lehnend, der gnädigen Frau ihr »guten Abend« zuriefen, waren heute keines Blickes, keiner Antwort gewürdigt worden.

Das geht ja, als wenn der Teufel hinterdrein wäre, brummte Dietrich, seinem Pferde die Sporen gebend; wenn das so beibleibt, strecken die Thiere oben alle Viere von sich.

Aber gerade jetzt zog die Dame den Zügel an und begann die letzte Ansteigung langsamen Schrittes hinaufzureiten. Sie wollte nicht oben ankommen, ohne wegen der Fasanerie einen Entschluß gefaßt zu haben, und sie konnte gegen ihre Gewohnheit zu keinem Entschlusse kommen. Aber wie klein, wie gleichgiltig erschien auch alles Andere neben dem Einen, wovon jetzt ihre ganze Seele erfüllt war.

Er wollte fort! Er hatte um seine Entlassung gebeten! Er hatte das thun können in diesem Augenblicke, wo für sie mit der Ankunft der Gäste die schwierigste, peinlichste Lage hereindrohte, wo sie ihre ganze Kraft, ihren ganzen Muth würde aufbieten müssen, wo sie einen Freund nöthiger hatte als je!

Er wollte fort! Nun gut, er sollte fort, er sollte ihr kein Opfer bringen, er sollte die heißerstrebte Freiheit endlich haben!

Hedwig hätte laut aufweinen mögen, als sie so in Gedanken den Freund in die Welt entließ zur Nimmerwiederkehr, aber sie hatte ja auf ein ganzes Glück ein- für allemal verzichtet; so mochte auch dieses halbe, dem grausamen Schicksal abgerungene, abgeschmeichelte verwehen, wie die anderen Blüthen vom Baum ihres Lebens!

Da stand das Pferd schnaubend vor der Gitterthür des Fasanerieparks und Hedwig erwachte aus ihrem schmerzlichen Traum.

Der Reitknecht war herangekommen. Sie hieß ihn das Gatter öffnen und ritt im Trabe die von riesenhohen Bäumen überdüsterten, mit Gras und Waldkraut aller Art übersponnenen Wege hin nach dem kleinen Gehöft, in welchem der Böhme Prachatitz mitten zwischen seinen Putern, Hühnern und Fasanen ein kleines, epheuumranktes Haus allein bewohnte, seitdem seine Nichte Meta als Kammerjungfer in den Dienst der gnädigen Frau getreten war.

Der Alte war nicht im Hause. Hedwig traf ihn in dem offenen Schuppen, wo die vor wenigen Tagen ausgekommene Fasanenbrut munter das ausgestreute Futter pickte, während die Truthühner, welche sie ausgebrütet, bedächtig zwischendurch schritten, den an einem Beine befestigten Strick gravitätisch hinter sich herschleifend.

Gott zum Gruß, gnädige Frau, sagte der Alte, die Futtermulde wegstellend und den kleinen grünen Jägerhut ziehend, Ei, wer hätte das gedacht, bin lange nicht solcher Ehre gewürdigt, und die Küchlein sind unterdessen ausgekommen: fünfundneunzig Stück. Waren ihrer hundert auf den Kopf, aber der hier hat mir fünf weggeputzt, bis ich ihn vor einer Stunde selbst weggeputzt habe.

Bei diesen Worten hob Prachatitz einen todten Gabelweih, der neben ihm auf der Kiste lag, an einem der langen Flügel empor.

Dem habe ich auf den Dienst gepaßt, sagte er, aber er war so klug wie Unsereiner, und in die Falle wäre er nicht gegangen, und hätte ich ein halbes Dutzend Tauben hineingesperrt.

Der Alte war so gewohnt, bei der gnädigen Frau allezeit ein gnädiges Ohr für seine Jagdgeschichten zu finden, und deshalb nicht wenig erstaunt, als sie jetzt, ohne den prächtigen Vogel eines Blickes zu würdigen, die Reitpeitsche ungeduldig hin- und herbewegend, sagte:

Ganz schön, Prachatitz, ganz schön, aber wir haben heute Anderes zu bedenken. Sie wissen, daß morgen der Graf und die Gräfin eintreffen; der Fürst wünscht, daß die Fasanerie in Ordnung gebracht werde. Sie wollen also zu morgen früh so viel Arbeiter bestellen, wie Sie brauchen, um womöglich bis zum Abend fertig zu sein. Herr von Zeisel wird jedenfalls kommen und Sie können ja das Nähere mit ihm besprechen. Natürlich wird auch das Theehaus aufgeräumt; meine Malsachen nehmen Sie vorläufig in Ihr Haus. Sie haben doch den Schlüssel bei sich?

Sie ging, ohne die Antwort des erstaunten Jägers abzuwarten, vorauf nach dem Theehaus, und stieg eilends die Treppe hinauf. Kopfschüttelnd folgte der Alte und kopfschüttelnd schloß er die mittelsten drei Fensterthüren auf, an deren Scheiben die Dame bereits ungeduldig mit ihrer Reitpeitsche pochte. Sie schritt schnell durch den mittleren Raum in das Seitengemach, welches sie als Atelier benützt hatte.

Das muß fort, Alles fort, sagte sie, auf die Staffelei in der Nähe des Fensters deutend und auf die mancherlei Skizzen und angefangenen Bilder, welche an den Wänden hingen oder in die Ecken gelehnt waren; hören Sie, Prachatitz, Alles noch heute Abend, und Sie schließen es bei sich in eine Stube und lassen Niemanden hinein. Und nun gehen Sie und sagen Sie dem Dietrich, er solle die Pferde vorführen.

Ist der gnädigen Frau etwas zugestoßen, fragte der Alte zögernd, oder dem gnädigen Herrn?

Hedwig antwortete nicht; Jener wagte seine Worte nicht zu wiederholen und ging.

Sie trat an die Staffelei und blickte, die Arme über den Busen verschränkend, auf das angefangene Bild – eine Landschaft, zu welcher die, welche man durch das Fenster sah, das Motiv gegeben.

Pah, sagte sie, wie das aussieht nach vierzehn Tagen! Und ich glaubte, diesmal wirklich etwas geleistet zu haben. Elende Stümperei! Und da sagen sie mir, ich wäre ein großes Talent. Er hat es nie gesagt, er weiß besser, was dazu gehört; was auch nur dazu gehört, sein täglich Brod mit seiner Hände Arbeit ehrlich zu verdienen. Und doch hätte ich es erreicht, wenn ich seitdem gearbeitet hätte wie andere Frauen, wenn ich hätte arbeiten dürfen; ich habe nur spielen dürfen – vier volle Jahre! Hätte ich die vier Jahre zurück!

Sie ließ sich auf einen Stuhl sinken und saß da, mit gespannten Brauen und starren Augen vor sich hinblickend, während es tief schmerzlich um ihren schönen Mund zuckte. Er wollte fort, und was blieb dann für sie? Die Oede, die Leere! Die grenzenlose Oede, die fürchterliche, beängstigende Leere! Ach, sie hatte eine Vorempfindung gehabt, als er jetzt auf ein paar Tage verreist gewesen. Wie langsam die sonnigen Stunden dahingeschlichen waren, wie verwelkt der Fürst ausgesehen hatte, wie unerträglich langweilig die übrigen Gesichter!

Und das mit ansehen zu sollen, das ertragen zu sollen in alle Zukunft!

Mit einem dumpfen Angstschrei sprang sie empor; ihr war, als ob sie ersticken müßte. Sie riß das Fenster auf. Vor ihr lagen die Berge in dem milden Licht eines Spätabends im Juni. Obgleich die Sonne bereits untergegangen, war noch Alles hell; ja, auf den Matten des in sanftem Bogen sich herumschwingenden Sattels, welcher den Fasanerieberg mit der Hauptmasse des Gebirges verband, lag von dem Widerschein des Lichtes in den oberen Aetherräumen ein goldiger Schimmer.

Ueber diesen Sattel mußte er zurück, wenn er von Hühnerfeld kam.

Sie dachte plötzlich daran – woran sie kaum je wieder gedacht – daß sie ihn da zum erstenmal gesehen hatte vor drei Jahren und daß es auch an einem schönen Juni-Abende gewesen war. Sie war mit dem Fürsten von einem Spazierritt zurückgekommen und er hatte oben an dem einsamen Baum, der sich jetzt so klar vom lichten Himmel abhob, auf seinen Wanderstab sich lehnend, gestanden und in den Thalkessel, aus welchem sich auf einem isolirten Felsen das Schloß erhob, hinabgeschaut und sich kaum umgeblickt, als sie dicht hinter ihm wegritten. Aber der Fürst war in besonders heiterer Laune gewesen, hatte den einsamen Wandersmann angeredet, der höflich antwortete; und so waren sie in ein Gespräch gerathen, welches den ganzen Weg in's Thal hinab nicht abbrach und den Fürsten so interessirte, daß er noch an dem Abend den jungen Gelehrten aus dem Gasthofe »zu den drei Forellen« auf das Schloß bitten ließ und ihn nicht eher verabschiedete, als bis er ihm das Versprechen abgenommen, wiederkehren zu wollen und zu versuchen, ob er sich in diese Verhältnisse eingewöhnen könne.

Er hatte es versucht – drei volle Jahre lang: nun endlich war er zum Resultate gekommen und er wollte fort. Warum nicht? er durfte es ja!

Sie lachte laut, daß Prachatitz, der eben zur Thür hereintrat, ganz erschrocken stehen blieb und kopfschüttelnd folgte, als sie jetzt an ihm vorüber, zum Theehaus hinaus, die Treppe hinabeilte, sich unten auf ihr Pferd heben ließ und davonsprengte.

Das sieht so aus, als bliebe sie lieber allein, sagte Dietrich, der noch an dem Gurt seines Sattels schnallte. Ich soll sie nicht aus den Augen lassen, und sie thut, was sie kann, mir aus den Augen zu kommen. Unsereiner weiß nie, woran er ist.

Wer sagt, daß Du sie nicht aus den Augen lassen sollst? fragte Prachatitz.

Wenn Ihr mir die Meta erst werdet gegeben haben, sollt Ihr's wissen, vorher nicht. Hopp, Liese!

Und der Diener ritt im Galopp davon, seiner Gebieterin nach, den Baumgang entlang, nach der stets offenen Westpforte der Fasanerie. Hier führte ein Vicinalweg vorüber, der in manchen Krümmungen durch das felsige Waldterrain oben auf die Höhe nach Hühnerfeld und in das Gebirge lief, während er nach unten wieder in den chaussirten Weg fiel, welcher von dem Schlosse heraufkam.

Dietrich, der nicht anders meinte, als daß seine Gebieterin diese letztere Richtung eingeschlagen, ritt, so schnell es der abschüssige Weg erlaubte, bergab, verwundert, daß der Vorsprung, den er der gnädigen Frau gelassen, so gar groß war.

Unterdessen war Hedwig bergauf durch den Tann geritten, anfänglich ohne zu merken, wie der Diener ihr nicht folgte. Dann, als sie nach wenigen Minuten an den Rand des Dickichts kam, fiel es ihr auf, daß sie allein war.

Sie hielt ihr Pferd an.

Im Walde blieb Alles still, auf der Haide zirpten die Grillen und eine Lerche sang hoch herab aus dem noch immer lichten Aether. Und als sie so in der milden Schönheit des Abends wie in einem reinen Spiegel ihr eigenes gramverdüstertes Antlitz schaute und in dem tiefen Frieden der Natur rings um sie her ihr zuckendes Herz das Einzige war, was fühlte und litt, überkam sie jäh eine unendliche Traurigkeit. Unaufhaltsam entstürzten die Thränen ihren Augen; sie weinte, wie sie nie geweint, als könnte sie mit ihren Thränen verrinnen in dem All und Friede und Ruhe haben für und für.

So hielt sie am Rande des Waldes, das Tuch vor die Augen gedrückt, während der Zügel auf dem Halse des Pferdes ruhte, welches, den schlanken Hals erdwärts gebogen, sich nach dem schnellen Ritt verschnaufte und nun den feinen Kopf langsam hob, mit den glänzenden Augen die Hügelböschung hinaufschaute, die Ohren nach vorn bewegte und endlich leise wieherte.

Hedwig richtete sich empor und griff, mit dem Tuch in der Rechten die Thränen trocknend, mit der Linken nach dem Zügel, das Pferd scharf nach dem Walde herumwerfend. Der Gedanke, jetzt in dieser Stimmung von ihm gesehen zu werden, erfüllte sie mit Entsetzen.

Aber es war zu spät. Sie hörte hinter sich den schnellen Trab eines Pferdes.

Sieh da, Herr Doctor!

Hermann hielt sein Pferd an und rief, indem er den Hut zog:

Noch so spät, gnädige Frau, so weit vom Schlosse und allein?

Ich war auf der Fasanerie, erwiederte Hedwig, und muß den Dietrich da irgendwo verloren haben.

Erlauben Sie, daß ich Ihnen Gesellschaft leiste, da unser Weg doch nun, wie es scheint, zusammengeht?

Bitte, sagte Hedwig.

Der junge Mann setzte den Hut wieder auf und lenkte sein Pferd auf die linke Seite; so ritten sie ein paar Minuten schweigend neben einander durch den Wald.

Wie steht's in Hühnerfeld? fragte Hedwig endlich.

Besser, erwiederte Hermann; ich habe nur noch drei Kranke und auch die werde ich durchbringen.

Und wieder schwiegen Beide.

Hedwig fürchtete, sich zu verrathen; Hermann erging es nicht anders. Er hatte den Versuch gemacht, sich aus einer Lage zu befreien, die ihm, das fühlte er, verderblich werden mußte, wenn sie es ihm nicht schon geworden war. Der Versuch war halb und halb mißglückt; er wußte nicht, ob er sich deshalb bitter tadeln, ob er sich glücklich preisen sollte. Und was würde sie sagen? Würde sie das Opfer gnädig annehmen? Würde sie es verwerfen?

Darüber hatte er gegrübelt, während er den einsamen Weg nach dem einsamen Dorfe ritt; darüber hatte er gesonnen, wie er jetzt über die Haide daherkam und lange Zeit an der Buche stillhielt, wo er sie zuerst vor drei Jahren gesehen. Da hatte er wieder und stärker als je zuvor gefühlt, daß er nichts mehr habe, was er sein Eigen nennen könne, daß sein Leben nur noch der Widerschein ihres Lebens sei, daß sein Leben in dieser allmächtigen, hoffnungslosen Leidenschaft sich verzehren werde, ob sie ihn nun bleiben, ob sie ihn gehen hieß.

Darf ich mir den Rath der gnädigen Frau erbitten in einer Angelegenheit, die für mich persönlich wichtig ist? sagte er.

Er wußte nicht, woher er plötzlich den Muth bekommen, auch klang seine Stimme ihm seltsam fremd und sein Herz schlug zum Zerspringen.

Was ist es? fragte Hedwig und fügte dann, als Hermann nicht allsogleich antwortete, hinzu: Aber was kann es sein, als die Angelegenheit, über welche der Fürst noch eben mit mir gesprochen. Sie haben um ihre Entlassung gebeten. Ja, ich kann und muß Ihnen noch mehr sagen: der Fürst, der, wie Sie wissen, die gütige Gewohnheit hat, in schwierigen Fällen meinen Rath in Anspruch zu nehmen, trug mir auf, Sie von Ihrem Entschlusse zurückzubringen.

Sie wissen, gnädige Frau, sagte Hermann tonlos, wie unendlich hoch ich Ihr Urtheil schätze, wie ganz ich geneigt bin, mich demselben jederzeit unterzuordnen.

Um so größer ist die Verantwortung, die ich übernehme, sagte Hedwig mit einem schwachen Versuch zu lächeln. Ich will es Ihnen nur gestehen: Ihre Angelegenheit ist während meines Spazierrittes mir unausgesetzt durch den Sinn gegangen; ich habe mir das Für und Wider, so gut ich vermochte, klar zu machen gesucht.

Und Sie haben entschieden, daß ich gehen muß, nicht wahr, gnädige Frau?

Ja, sagte sie, dafür habe ich mich entschieden

Sie blickte bei diesen Worten ihren Begleiter an. Es entging ihr nicht, wie blaß er war und daß seine Lippen zuckten, wie die eines Kindes, das nicht in Weinen ausbrechen will. Ihre eigenen Augen wurden heiß. Und dann zürnte sie ihm wieder, daß er schwankte, daß er schwächer war als sie, daß er ihr die Last der Entscheidung zuwälzte. Und während ihr Herz von so widerstrebenden Empfindungen zerrissen war, sprach sie gemessen und beinahe kalt:

Ich gebe zu, daß Manches, wenn Sie wollen viel, sehr viel für Ihr Bleiben spricht. Sie erfreuen sich hier in unseren lieblichen Bergen mancher Vortheile, die Ihnen nirgends wieder geboten werden, Sie mögen eine Stelle erlangen, welche es sei. Sie sind durch die Ansprüche, welche der Fürst an Sie macht, sehr gebunden, ich gebe es zu; aber Sie müssen sich doch wieder sagen, daß in dem Moment, in welchem Sie dem Fürsten dienen, Sie auch den Hunderten dienen, die von dem Fürsten abhangen und die einen so gütigen, fürsorglichen Herrn schmerzlich vermissen würden. Und dann die Achtung, die Ihnen Jung und Alt hier entgegenbringt, die Dankbarkeit, die Sie sich redlich erworben haben und die Ihnen so willig gezollt wird; das gemüthliche Verhältniß zu manchem braven Mann hier herum, der sich vielleicht nicht durch Geist und Gelehrsamkeit auszeichnet und mit dem sich ein geistvoller und gelehrter Mann dennoch nicht ungern unterhält; die Freundschaft, ja die Liebe eines so feinen, liebenswürdigen, vielerfahrenen Herrn wie der Fürst – was soll ich Ihnen die Vorzüge Ihrer Stellung herzählen, die Sie selbst schon so oft willig anerkannt haben! Dennoch –

Dennoch, gnädige Frau!

Müssen Sie fort aus einem einfachen Grunde. Sie können hier nicht werden, was Sie zu werden bestimmt, nicht leisten, was Sie zu leisten berufen sind, und was Sie in Folge dessen werden, was Sie in Folge dessen leisten müssen, wollen Sie sich nicht einer Sünde gegen den heiligen Geist schuldig machen. Als Sie vor drei Jahren kamen, trugen Sie sich mit großen wissenschaftlichen Plänen. Die Pläne sind Pläne geblieben bei all' der Muße, die Ihnen hier scheinbar für große zeitraubende Arbeiten blieb. Weshalb? Weil Sie sich, wie wir Alle, durch das ewige Einerlei der stillen sonnigen Tage, die wir hier so hinspinnen, haben einlullen lassen; weil Sie der Anregung entbehren, welche der Mann nur im Umgange mit Gleichstrebenden, Gleichringenden findet, des Spornes entbehren, welcher für jedes edlere Gemüth die Erfolge der Anderen sind. Es hat mir wehgethan, Sie neulich so niedergeschlagen, so tief traurig von der Naturforscherversammlung zurückkehren zu sehen. Da hatten Sie erfahren, was wir in der Schule lernen: daß, wer nicht fortschreitet, zurückgeht. Da hatten Sie jüngere Männer mit Erfolgen triumphiren sehen, die Ihnen zukamen, und Sie hatten nebenbei am Wege gestanden und sich sagen müssen: Ich habe meine Zeit verloren.

Hedwigs Wangen glühten, während sie also sprach. Die künstliche Ruhe wich mit jedem Worte mehr und mehr der Leidenschaft, die in ihr wühlte.

Sie fuhr, ohne die Antwort ihres Begleiters abzuwarten, fast als spräche sie zu sich selbst, fort:

Ich weiß, was es heißt, die glänzenden Ideale, an denen unsere jugendliche Seele sich berauschte, nach und nach verbleichen sehen, bis sie endlich wie abgeschiedene Geister am Saume unseres Lebens schweben und, wenn sie vorübergleiten, uns nicht mehr begeistern, wie ehemals, sondern uns nur tief, ach, so tief traurig machen. Ich, das Kind des Dienstmannes, die Leibeigene einer gräflichen Familie, habe es erfahren, ich! Und ich bin nur ein Weib; wir dürfen ja nicht den Anspruch erheben, uns auszuleben, wir dürfen nur den Schmerz über dies unwürdige Leben empfinden und sehen, wie wir damit fertig werden. Aber wenn ich mich in die Seele eines Mannes versetze, wenn ich mir denke, ich hätte einen Bruder, einen Freund, und wüßte ihn in dieser furchtbarsten Sklaverei und er zerbräche nicht die Ketten, komme danach, was da wolle – ich weiß nicht, aber ich meine, ich könnte den Bruder, den Freund nicht mehr lieben; ich müßte den aufgeben, der sich selber aufgiebt.

Hedwig riß den Kopf ihres Pferdes, das sich, während sie so im Schritt dahin ritten, nahe an das befreundete Pferd gedrängt hatte, heftig in die Höhe.

Und das ist denn doch nur eine Seite, nach welcher Sie Ihre Lage hier zu einem halben Müßiggang verurtheilt. Anderes kommt hinzu, was in meinen Augen nicht minder schwer in die Wagschale fällt. Sie sind, wie in der Wissenschaft, so in dem öffentlichen Leben gezwungen, die Lösung der Aufgaben, um die es sich heutzutage handelt, Anderen zu überlassen. Können Sie das verantworten? Haben Sie nicht wie Jedermann einen Platz auszufüllen in dem großen Heere? Und wie können Sie das hier? Die kleinen Anstrengungen, die wir hier machen: unsere Gewerbeschule mit den drei Schülern, unsere Fortbildungsanstalt für junge Mädchen, die wir aus Mangel an Theilnehmerinnen haben schließen müssen – wie kläglich ist das Alles? Wie beschämend für Jemanden, der nur zu wollen braucht, um anderswo im Großen und in's Große zu wirken! Ist denn die Pflicht gegen das Vaterland nicht die oberste aller Pflichten?

Ich habe kein Vaterland mehr, sagte Hermann.

Weil Sie Hannoveraner sind, weil Hannover aufgehört hat, als selbständiger Staat zu existiren? Weil Sie sich, wie Sie sagen, einer solchen Vergewaltigung nicht beugen wollen und können? Weil Sie hier im Dienste des Fürsten einen Ausweg gefunden zu haben glauben aus dem Dilemma: Norddeutschland, an dem Sie nun einmal hangen, in das Sie nun einmal gehören, ganz meiden, oder Preuße im eigentlichen Sinne des Wortes werden zu müssen? Aber ist das nicht eine seltsame Verblendung? Ist unser Fürst deshalb souverän, weil wir Alle hier an dieser Fiction festhalten, oder uns doch den Anschein geben, es zu thun? Sind wir deshalb weniger Preußen, weil wir Alle hier gegen die Hohenzollern'sche Dynastie frondiren? Und dann, ich will Sie nicht zu einem Preußen machen, aber ein Deutscher sollen Sie sein! Für das Deutschland, das wir im Herzen tragen, sollen Sie leben, streben. Und können Sie das hier, in diesem engen Thal, zwischen diesen Bergen, über die den Schmetterling selbst die weichen Schwingen tragen, und die doch uns die ganze große Welt des Wollens und Wagens, die jenseits liegt, verdecken? Nein, nein! Das Alles ist nicht gut; aus dem Allen kann nun und nimmer Gutes kommen. Und so sage ich: gehen Sie, da das Schwierigste gethan, da Sie zur Einsicht gekommen, daß Sie gehen müssen. Ich bitte, ich beschwöre Sie, denken Sie nur an sich, denken Sie nicht an uns, an den Fürsten, an mich, an Niemanden.

Das letzte Wort verlor sich in ein krampfhaftes Schluchzen und ihre Thränen brachen unaufhaltsam hervor. In demselben Moment hieb sie ihr Pferd mit der Gerte über den Hals, daß es erschrocken zusammenzuckte und in Galop ansetzte, und da kam auch der Reitknecht in scharfem Trab um den Vorsprung, welchen an dieser Stelle der Felsen machte. Er hatte, nachdem er aus dem Walde heraus war und die Strecke von dort hinab bis zum Schlosse übersehen konnte, sich überzeugt, daß die gnädige Frau den anderen Weg eingeschlagen. Schnell war er zurückgeritten und ließ jetzt, an der Wegseite Front machend und den Hut ziehend, die gnädige Frau und den Herrn Doctor vorübersprengen, um dann sich ihnen anzuschließen. Aber vergebens, daß er diesmal die zwanzig vorschriftsmäßigen Schritte nicht respectirte, vergebens, daß er gespannt auf jedes Wort lauschte, welches die Beiden sprechen könnten.

Das Gespräch war zu Ende, sollte zu Ende sein. Hedwig ritt dahin, scheinbar nur des Weges achtend, ohne mit einem Worte, mit einem Blicke von dem ebenfalls stummen Manne an ihrer Seite eine Antwort zu fordern. Und was hätte er auch antworten sollen? Sagen: ich will gehen, während sein Herz in ihm schrie: ich kann nicht gehen, jetzt nicht mehr, wenn ich es je vermocht! Und dann wüthete er gegen sich, daß er sich nicht entschließen, daß er sich nicht losreißen konnte und daß er keine Kraft habe, sein schäumendes Pferd über die niedrige Hecke an der Wegseite in die Tiefe zu spornen. Er war außer sich.

So kamen sie auf die Chaussée, vorüber an dem Gasthof »zu den drei Forellen«, wo eben angekommene Reisende vor der Thüre standen und den Kellner fragten, ob der Herr und die Dame dort der Fürst und die Fürstin seien und sich von Jean belehren ließen, daß es eigentlich keine Fürstin, sondern nur eine gnädige Frau gebe, da die Frau Fürstin Durchlaucht schon vor fünfundzwanzig Jahren gestorben und die gnädige Frau Sr. Durchlaucht nur zur linken Hand angetraut sei. Der Herr neben der gnädigen Frau aber sei der Herr Doctor Horst und sei ein gar lieber gefälliger Mann, mit dem Jeder gut auskomme, ob er gleich gar nicht von hier, sondern aus Hannover sei.

Zwischen Hedwig und ihrem Begleiter wurde weiter kein Wort gewechselt und sie hemmten den Lauf der Rosse nicht, bis sie, über die Brücke durch das dunkle Thor sprengend, aus dem Schloßhof hielten.

Hermann sprang vom Pferde und half Hedwig aus dem Sattel. Sie dankte, ohne die Augen aufzuschlagen, nur durch ein Nicken des Kopfes und war im nächsten Moment im Portal des Schlosses verschwunden.


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