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Der Aufbau.

Das Begräbnis war vorbei. Inmitten der unübersehbaren Gräberreihen des Wiener Zentral-Friedhofes schlief Lorent den ewigen Schlaf, ein Fremder unter Millionen von Fremden. Die Seinen hatten ihm alles Ungute vergeben; nur von seinem letzten Wollen sprachen sie oft: Bäume setzen. Fern von ihm begann sein Weib mit den Kindern ein neues Leben angesichts der bewaldeten, burgengekrönten Höhen, ein Leben voll segenschaffender Arbeit auf eigener Scholle. Drei Wochen hatten den Werkleuten genügt, aus dem verwahrlosten Anwesen ein freundliches Heim zu machen. Denn Koja war ihnen bald als Maurer und Zimmerer, bald als Tischler und Anstreicher ein Helfer gewesen, der sie durch seine emsige Mitarbeit daran hinderte, allzuviel Zeit zu vertrödeln mit dem Ausklopfen, Stopfen und Anzünden der Tabakspfeifen.

Und während die Großen im Ernst bauten, baute Rudi im Spiele; aus Bruchstücken von Ziegeln errichtete er für seine Püppchen ein Häuschen, das er mit Rinden deckte. In taufrischen Morgenstunden bei hellem Lerchensang handhabten Mutter und Agi mit Freude und ohne Hast die Haue in Garten und Weinberg. Ein lauer Platzregen tränkte die Erde. Noch war es Zeit, Spätgemüse zwischen die Weinreben zu setzen. Und Koja schwang draußen die Sense, die zweite Heumahd fiel günstig aus. Was jetzt noch nachwuchs, sollte grün verfüttert werden. Aus den von allen Würgern befreiten, sorgfältig aufgebundenen Ranken der Weinreben guckten die noch grünen, kleinbeerigen Trauben. Im Garten senkten sich die Zweige unter der Last der reifenden Pflaumen, Birnen, Äpfel und Nüsse. Für die alte Wabi war jeder Tag ein Sonntag. Rein gebadet, in reiner Wäsche und sauber geflickten Kleidern fühlte sich das seit Jahren ungepflegte Weiblein als zu den »schöneren« Leuten gehörig. Was sie längst nicht mehr genossen hatte, das Wohnen in einer blendend weiß getünchten Stube, das Schlafen in reinem, gelüfteten Bettzeug, das schmackhafte rechtzeitige Essen auf wohlgedecktem Tische in Gesellschaft froher Menschen, empfand sie nun als unschätzbare Wohltat; einen so schönen Lebensabend hatte sie sich nicht erhofft. Und mehr als einmal sprach sie, wenn sie rastend ihre Hände im Schoße faltete: »Wenn das mein Älter miterlebt hätt'!« Die gemächliche Arbeit in durchsonnter Luft vom frühen Morgen bis zum Abendläuten, der reichliche Milchgenuß und der ausgiebige Schlaf nach merkbaren Tageserfolgen taten an Agi und der Mutter Wunder. Ihre Wangen füllten sich und nahmen die Farbe der Gesundheit an. Die Augen bekamen den Glanz der Schaffensfreudigkeit. Mangelfreie, sorgenfreie, freudenreiche Zeit wirkte auf beide verjüngend. Rudi leistete der »Großmutter« beim Ziegenhüten Gesellschaft. Und für seine tausenderlei Fragen nach Blumen und Vogerln hatte sie die Geduld aller Großmütter.

Der Schulbeginn brachte Koja ein frohes Aufleben seines Selbstvertrauens. Mit absichtlichem Rückerinnern holte er sich für sein Gehaben und seine Arbeit in der Klasse Rat bei den besten Lehrern seiner Kindheitsjahre, deren Darbietungsweise des Lehrstoffes, deren Art, durch Beschäftigung die Kinder im Zaune zu halten, deren Selbstzucht ihm eigen wurde. Sie hatten ihn unbeabsichtigt zum Lehrer vorgebildet. Jede gute Unterrichtsstunde trug ihm das Hochgefühl einer Vervielfältigung seiner aufgewendeten Kraft ein, das Bewußtsein einer erzielten Massenwirkung. Und er bekam eine Ahnung von der schicksalgestaltenden, Menschen bildenden Macht des Lehrberufes. War es nicht herrlich, keimfähige, treibende Gedanken in die jungen Seelen zu säen? War es nicht, als zahle er, der einst so arme Bub, dem Nachwuchs des Volkes mit Zinseszinsen das Gute heim, das er von den Lehrern desselben Volkes empfangen hatte? Gleich dem Oberlehrer Greil gewann er die Herzen der Kinder durch das Erzählen von Geschichten, womit er seine Klasse fürs »Bravsein« belohnte. Und seine Erzählungen pflanzten sich fort von Ohr zu Mund. Machte er in einer andern Klasse aushilfsweise für eine erkrankte Lehrkraft Dienst, dann bekam er den zutraulichen Anruf zu hören: »Bitt, Herr Lehrer, erzählen S' die »G'schicht von der Goaßhaxen« Aus Kojas Waldläuferzeit. Der Band ist in Vorbereitung., oder die »Hahnengschicht« Aus Kojas Waldläuferzeit. Der Band ist in Vorbereitung. oder die »Gschicht von der Rumpel« Aus Kojas Waldläuferzeit. Der Band ist in Vorbereitung.. So machte er die Entdeckung, daß in seiner Waldläuferzeit wirksamer Erzählstoff steckte und begann seine Erzählungen niederzuschreiben, ja er baute Erlebtes durch erfundete Zutaten in abgerundete Erzählungen aus, von denen die »Findelresi« als erste in der Zeitschrift »Die Jugend des Volkes« abgedruckt wurde. Er fing an, sich als Schriftsteller zu fühlen. Er gab dem Anreiz nach, sein Empfinden, sein Denken, sein Wollen nicht nur auf die zweiundsechzig Buben seiner Klasse zu übertragen, sondern auf den erweiterten Kreis seiner jugendlichen Leser. – Als eines Tages der Bub des Försters einen Turmfalken in die Klasse brachte, stopfte Koja den Vogel kunstgerecht aus und erschloß sich damit in der neuen Heimat wieder die gewohnte Verdienstgelegenheit; denn von da an wußten ihn auch die Jagdfreunde des Försters zu finden. Was er in Pöchlarn von dem bastelnden Unterlehrer beim Kripperlbauen, was er vom Vater an Handfertigkeit erworben, die Lust, die er selbst beim Handwerkern empfunden hatte, wurde ihm zur Veranlassung, auch seine Buben zum Schnitzen einfachster Geräte, Manderlbogenkleben und zum Bauen von Farmen, Robinsoninseln und Kripperln anzuregen. Und das tat er oft mitten im Unterricht, wie sich's gelegentlich ergab. Als er in der Naturlehre die plastischen Körper behandelte, modellierte er aus einem Wachskerzenstumpf ein Schaf, bei der Behandlung des Kalksteines bereitete er aus einem Brocken gebrannten Kalkes, den er hinter einem Kalkwagen aufgelesen hatte, eine Schale voll Kalkmilch und durch Einstreuen von Sand so viel Mörtel, daß er noch in derselben Lehrstunde aus Steinchen, die er hatte aus dem Turnhof heraufbringen lassen, auf einer alten Schiefertafel ein Häuschen aufmauern konnte, dessen Grundriß nicht größer war als sein Handteller. Das Dach und den Hofzaun dazu ließ er von Kindern daheim schnitzen. Und sowohl des Lehrers Muster als auch gelungene Schülerarbeiten wurden mit dem Namen der Erzeuger zwischen den Fenstern der Gänge des Schulhauses ausgestellt, was natürlich die Werkfreude der ganzen Schülerschaft steigerte. Aber zwischen den Fenstern stellte er auch mancherlei Pflanzen, Mineralien und Tiere der Heimat aus. von seinem Naturalienhandel her gewohnt, durch eine gute Anschreibung die Bedeutung der ausgestellten Dinge ins rechte Licht zu setzen, fesselte er die Schulgänger durch die kurzen und doch vielsagenden Erläuterungen der Schaustücke.

Blick von der Hochleiten in die Hinterbrühl.

In einem Lehrgegenstand kämpfte Koja anfangs mit der Schwierigkeit unzurechnenden Könnens: im Gesangsunterricht. Es fehlte ihm an der Fertigkeit im Geigenspiel. Da sah er sich gezwungen, sich selbst von einem Mitlehrer unterrichten zu lassen. Aber dieser verlangte statt einer Bezahlung von Koja einen Gegendienst. Er hatte einen verwaisten Neffen, dessen Vormund er war, und der in Mödling das Realgymnasium besuchte. Dem sollte Koja Nachhilfeunterricht in Latein geben. Oh wie gern! Und daraus ergab sich für ihn wieder eine unbeabsichtigte Nebenwirkung. (Es wurde im Orte bekannt, daß der neue Lehrer gymnasiale Bildung hatte. Und bald war er in zwei Häusern Lateinlehrer. In dem einen ließ er sich statt des Geldes die Mittagskost geben. So entging er dem Unbehagen, sich als Abstinent im Gasthause scheel ansehen zu lassen.

Agi hatte ihre Tätigkeit als Handarbeitslehrerin in Gießhübel in einer nicht herkömmlichen Weise begonnen. Nicht lehrplanmäßig mit dem Stricken von glatten und verkehrten Maschen hatte sie angefangen, sondern damit, ihre kleinen und größeren Schülerinnen zum Flicken ihrer an den Ellbogen klaffenden Jacken oder zum Annähen fehlender Knöpfe anzuhalten. Sie durften auch Flickwäsche von daheim mitbringen.

Dann kam das Stopfen löcheriger Strümpfe und Socken daran. Die ersten sechs Wochen waren nun dem Flicken gewidmet. Den schulmündigen Mädchen aber gab sie Unterricht im Schnittzeichnen, im Wäsche- und Kleidernähen. Und der ganze Ort war voll Lobes über das »praktische« Strickfräulein. Nur für einen Teil ihrer Arbeit nahm sie Bargeld. Sie ließ sich vielfach mit Lebensmitteln bezahlen, wie einst. Es kam den Bäuerinnen meist leichter an. So häuften sich in Agis Wirtschaft die Vorräte an Butter, an Eiern, Speck, Rauchfleisch, Kartoffeln und an Mehl; ja es fehlte auch nicht an Kleie fürs Ziegentrankel und an Körnerfutter fürs Geflügel, dessen Grundstock sechs Leghennen bildeten. Nach dem Abendmahl feierte Agi in ihrer Art. Sie nahm ihre lieben Bücher wieder vor, um sich bis zehn Uhr der Freude des Studiums hinzugeben. Jetzt studierte sie mit Behagen; bis zum nächsten Prüfungstermin hatte sie ja Zeit genug vor sich. So kam der Winter heran, wie sparsam die Geschwister auch sonst wirtschafteten, an zweierlei sparten sie nicht; an der Beleuchtung und Heizung. In seiner freien Zeit hatte Koja seine warme Studierstube für sich. Agi, die trotz Rudis und der Mutter Gegenwart sich jederzeit geistig zu sammeln vermochte, wenn sie in der gemeinsamen Wohnstube studierte, wußte nur zu gut, daß auf Koja Dinge und Menschen anregend, fesselnd und aber auch ablenkend und zerstreuend wirkten. Darum hatte sie ihm die eigene Stube eingerichtet. Dort mochte er in der Gesellschaft seiner Bücher, seiner Sammlungen, seiner Retorten und Eprouvetten, seiner Laute und Geige weilen. Im Banne dieser Dinge, die ihren mächtigen Dauereinfluß auf ihn ausübten, sollte er unter den selbstgewählten Einflüssen arbeiten, sinnen und träumen. Und öfter als Agi gehofft hatte, lud Koja die Schwester zu sich auf die »Bude«.

Seine Vorbereitung auf die Lehrbefähigungsprüfung, bei der er auch die Reifeprüfung nachzutragen hatte, deckte sich ja vielfach mit der Vorbereitung der Schwester zum Lehrerinnenexamen. Und die Stunden gemeinsamen Studiums, gegenseitigen Abfragens und Wettrechnens gehörten zu den angenehmsten im arbeitsfrohen Leben der Geschwister.

Wie friedvoll, wie reich, wie traut war ihr Leben geworden. Die Zeit des Mangels, der Demütigungen war vorbei. Und allen ging es gut. Sogar das Schicksal der Hauskatze war beneidenswert. Dearling hatte sich zur stattlichen Hauskatze ausgewachsen, die im warmen Lichtkreis der Lampe zu schnurren pflegte und mit zwinkernden Augen das Tun ihres »Frauerls« zu beobachten schien, wenn Agi vor dem Schlafengehen mit »Paßauf«, dem Haushunde, ihren Rundgang ums Unwesen machte, ob alles wohlverwahrt sei, ging auch die Katze mit ihr. Aber dann blieb sie draußen, um im Stall und aus dem Heuboden der Mäusejagd zu obliegen. Nur mit Schnucki, dem allzukecken Ferkel, das eine dankbare Mutter zu Agis Wirtschaft beigesteuert hatte, stand der Dearling auf Kriegsfuß.

Agi studiert.

Wenn Koja am frühen Morgen den fast eine Stunde langen Marsch von Gießhübel nach Perchtoldsdorf antrat, hatte er immer das frohe Bewußtsein, daß ihn die segnenden Gedanken seiner von allen Sorgen befreiten Lieben auf dem Wege zur Stätte seines fröhlichen Wirkens geleiteten, viermal hügelab und viermal hügelauf ging er in der Morgenfrische auf sein Ziel los, und das reiche Landschaftsbild machte seine Seele weit. Und weil seine Blicke beim Wandern immer wieder das ferne Häusermeer von Wien und das noch fernere Leithagebirge streiften, redete die Vergangenheit immer wieder mahnend und ermutigend in die Gegenwart herein. Und wenn er im Abenddämmern nach getaner Berufsarbeit heimzustrebte, freute er sich so sehr auf das Wiedersehen mit den Seinen, daß er den Rucksack, in dem er allerlei Einkäufe für den Haushalt trug, gar nicht spürte, sondern leicht und elastisch dahinschritt, weithin scholl sein Gesang, in dem eines der altvertrauten Lieder das andere ablöste. Und sobald der Klang seiner Stimme fernher im Häuschen auf der Hochleiten vernehmbar wurde, schlug der Hofhund ein Freudengebelle an, die Katze räkelte sich und setzte sich voll Erwartung zur Türe. Mutter und Agi legten ihre Handarbeiten aus den Händen, warfen ihre Wolltücher um und eilten ihrem singenden Wanderer entgegen.

Und jeden Tag aufs neue empfanden alle drei in unverminderter Frische das hohe Glück, daß sie einander hatten. An hellen Wintersonntagen mahnte Agi den Bruder zum Wandern. Koja sollte, wie sie sagte, »seine Seele auslüften«.

So wanderte er auch am ersten Weihnachtstag in den Wiener Wald. Auf dem gefrorenen Grunde lag nur spannhoch der Schnee; die Baumkronen an den Berghängen glitzerten im Rauhreif. Ziellos unbekannten Schönheiten entgegen marschierte der junge Lehrer durchs Wassergespreng südwärts. Der Nebel seines Hauches verdichtete sich an seinem Schnurrbart und hing sich in Eiszäpfchen daran, weithin scholl des Wanderers Lied Text von Wilhelm Müller, vertont von T. Decker. durch die winterliche Stille:

»Vor der Türe meiner Lieben
Häng' ich auf den Wanderstab,
was mich durch die Welt getrieben,
Leg' ich ihr zu Zützen ab.

Wanderlustige Gedanken,
Die ihr flattert nah und fern,
Fügt euch in die engen Schranken
Ihrer treuen Arme gern.

Was mich in der weiten Ferne
Suchen hieß ein eitler Traum,
Zeigen mir der Liebe Sterne
In dem traulich kleinen Raum.

Schwalben kommen heimgezogen,
Setzt euch, Vöglein, auf mein Dach;
Habt euch müde schon geflogen,
Und noch ist die Welt nicht wach.

Baut in meinen Fensterräumen
Eure Häuschen weich und warm!
Singt mir zu in Morgenträumen
Wanderlust und Wanderharm.

Versonnen marschierte er weiter, was in den vielen arbeitsvollen Wochen in ihm geschwiegen hatte, das meldete sich jetzt, in der Muße des klaren Wintertags: In Nierding wußte er ein Paar rehbraune Mädchenaugen, die ihm beim letzten Scheiden so warm zugesprochen hatten: »Auf Wiedersehen!« Er war im Sommer nicht hingegangen. Er hatte seinem Wunsch Schweigen geboten und war in schuldiger Brudertreue an der Seite der Schwester geblieben, als es galt, ihr fliehendes Leben zu halten. Damals wär's ein Frevel gewesen, ans eigne Glück zu denken, während Agi, die Gute, in Gefahr schwebte. Aber jetzt gab ihm das tapfer erarbeitete Wohl der Seinen ein Recht, an die Erfüllung seines eigenen Glückes zu denken.

Als er im Abenddämmern heimkehrte, fand er schon den Weihnachtsbaum mit Kerzlein besteckt und unter ihm die tannreisgeschmückten Päckchen. Die Lichter wurden angezündet, die Gaben verteilt, Bücher für Agi, warme Wintersachen für Mutter und Wabi, Ankers Steinbaukasten für Rudi. Als Koja sein umfangreiches Paket öffnete, lag ein schwarzer Anzug darin, das Festkleid für die Prüfungen; fragend sah er zu Agi auf, und sie nickte. Es war die Arbeit ihrer Hände. Als er aber die Kleiber abhob, waren da fünf schöne, in Goldaufdruck schimmernde Foliobände, ein wenig abgenützt, aber gut erhalten. Es waren Goethes Werke. Und als Koja den ersten öffnete, las er, von Agis Hand geschrieben, Goethes klugen Rat: »Das Sicherste bleibt immer, nur das Nächste zu tun, was vor uns liegt.« – Agi weidete sich an des Bruders Freude, dann hob sie den Deckel eines Kistchens, das der Briefbote in Kojas Abwesenheit gebracht hatte und das über der durchgestrichenen Wiener Adresse die neue Anschrift trug. Im Schmucke duftender Tannenreiser saß da ein fett gemästeter Truthahn.

Und im grünen Gezweige lag ein starker Brief »An Koja«. – Koja öffnete ihn zögernd. Darinnen war aber nichts Geschriebenes, nur eine dünne Brieftasche aus schwarzem, gekörntem Leder gefertigt, im Innern mit dunkelgrüner Seide gefüttert. Und aus einem ovalen Ausschnitt, der mit Vergißmeinnicht und Rosenknöspchen umstickt war, sah dem Staunenden das Bildnis Klärchens entgegen. Er errötete unter den Blicken der Mutter und Schwester. Dann hielt er ihnen das Bild entgegen: »So sieht sie aus!« – Die Mutter mußte sich die Augen trocknen, eh' sie das Bild betrachtete: »Lieb ist sie, da wird sie wohl auch gut sein. – Gott geb's!«

Agi öffnete ein zweites Kistchen, das ihr gehörte. Da waren wieder Schneerosen, deren Wurzeln mit feuchten Moospolstern umbunden waren. Dann kam eine Anzahl saftstrotzender Blumenzwiebeln, in Watte gepackt und mit Namenzetteln versehen – Hyazinthen- und Tulpenzwiebeln; daneben eine faustgroße Zwiebel mit gelblichen, dicken Blattschuppen: eine Goldbandlilie! – Und ganz zu unterst lag ein Brief:

 

»Liebes Fräulein Agi!

Unter den unerledigten Korrespondenzen fand mein Bruder nach seiner Heimkehr aus Holland, wo er Zuchtrinder gekauft hatte, vor einigen Wochen Kojas Brief. wir hoffen, daß Sie sich längst von Ihrer Krankheit erholt haben und schicken Ihnen einiges für Ihr Fenstergärtchen. Am allerschönsten wird die Goldbandlilie sein. – Wenn Sie noch an die Großstadt gebunden sind, sollen Sie wenigstens Ihre blühende Augenweide haben und dabei an drei Menschen denken, die sich danach sehnen, Sie bei sich zu haben. Wenn Sie da sein werden, wird Ihnen die Arbeit auf sonnigen Hochwiesen unsere Bauernkost würzen. Bei uns werden Sie sich kräftigen. Seien Sie alle von uns herzlichst gegrüßt! Ihr Klärchen.«

 

Beim Abendessen wußten die Glücklichen wahrlich nicht, ob der Fisch gebacken oder gebraten war. Bald nach dem Mahl zog sich die Großmutter mit ihren Geschenken in ihr Austragsstübel zurück. Koja und Agi aber steckten die Köpfe zusammen und wendeten im Goethe Blatt nach Blatt, um Bilder anzusehen. Über sie waren nicht bei der Sache. Koja schielte nach Klärchens Bildnis, das er gegen einen Apfel gelehnt hatte, und Agi ließ ihre Blicke hinüberirren zum Briefe, der offen neben dem Buche lag. Es mußte wohl etwas zwischen den Zeilen stehen, das ihr immer deutlicher wurde, je öfter sie hinschaute.

Die Geschwister hörten auf, die Blätter zu wenden, und Koja griff zur Laute. Nach einem Ausdruck seiner Stimmung suchend, griff er einige Akkorde. Dann begann er leise Eichendorffs »Sehnsucht« zu singen und Agi fiel ein:

»Es schienen so golden die Sterne,
Am Fenster ich einsam stand
Und hörte aus weiter Ferne
Ein Posthorn im stillen Land.

Das Herz mir im Leibe entbrannte,
Da hab' ich mir heimlich gedacht:
Ach, wer da mitreisen könnte
In schweigender Sommernacht.«

Plötzlich legte Agi ihre Rechte aufs Griffbrett der Laute, daß die Saiten verstummten. Koja folgte der Richtung ihrer Blicke. Er sah, daß die Mutter begonnen hatte, im frommen Weihnachtsaberglauben das Schicksal zu befragen, vier Apfel und vier Nüsse hatte sie dem Körbchen unterm Lichterbaum entnommen und hielt das Messer bereit. Nun warteten sie alle drei, ob die Querschnitte durch die Apfel schöne fünfstrahlige Sterne ergäben, die ein ungetrübtes Glück bedeuten sollten.

Zu ihrer großen Enttäuschung hatte nicht ein einziger Apfel alle fünf Kerne gut entwickelt; zögernd öffnete die Mutter nun eine Nuß nach der andern, immer voraus ankündigend, wem das Orakel gelte. Ei! da war kein einziger Nußkern wurmstichig, keiner verdorrt; alle waren sie gesund und im Anbruch weiß wie Mandeln. Mit hellen Augen sahen die drei einander an: »Das Nußorakel gilt!« entschied die Mutter. »Und wenn alle Nüsse taub gewesen wären?« fragte Koja. – »Dann blieb uns nichts übrig, als wieder einmal das Gegenteil der Anzeichen durchzusetzen,« versetzte Agi mit selbstbewußtem Aufblitzen ihrer grauen Augen. »Es waren schon gültigere Zeichen des Niedergangs da, als die leeren Kämmerlein des Kerngehäuses in einem Apfel oder ein verdorrter Nußkern; und wir haben das Schicksal gewendet: aus jedem Niedergang wurde ein Aufstieg. Hätten wir den üblen Vorzeichen geglaubt, so hätten wir uns selbst verderben lassen.«

Rudi, der sich bisher selig stille mit seinen Bausteinen beschäftigt hatte, klatschte in die Hände: »Mami! da!« Und alle drehten sich ihm zu. Er hatte aus den kleinen farbigen Quadern ein klobiges Häuschen fertig gebracht. Daneben lag und stand all sein Vieh unter Bäumchen. Und die Großen freuten sich mit dem Kinde. »Vielleicht wird der Rudi ein Baumeister,« meinte die Mutter, »oder Architekt oder Ingenieur.« – »Jedenfalls soll er ein geschickter Handwerker und findiger Kopfwerker werden,« sprach Agi. – »Bin ich nicht Schneiderin und Lehrerin? Hat sich Koja nicht mit der Buchbinderei und dem Präparieren von Tieren – das ja ein Kunsthandwerk ist – so gut fortgeholfen, wie mit dem Unterrichten? Und wenn er einmal Arzt werden sollte, wird er nicht oft die sichere Hand brauchen, die gewohnt ist, dem leitenden Gedanken und dem weisenden Auge zu gehorchen?« »Ein Kopfarbeiter, der zwei linke Händ' hat, ist nur ein halber Mensch.«

So sprachen die Geschwister noch weiter, indem sie die Apfelhälften und Nutzkerne mit Schwarzbrot verzehrten. Die Mutter hörte ihnen lächelnd zu; und sie gedachte ihrer Mutter, der alten Sonnleitnerin. »Oh, wenn das die Großmutter erlebt hätt'.« Sie brachte den kleinen Rudi zu Bett, sagte den großen Kindern Gute Nacht und begab sich zur Ruhe. Eh sie einschlummerte, hörte sie noch das Zwiegespräch: »Koja, fällt es dir nicht auf, daß in unserem Leben die Weihnachten eine merkwürdig große Rolle spielen?« – »Ja, es ist so; zu Weihnachten werden wir uns immer dessen bewußt, um wieviel wir im vergangenen Jahre vorwärts gekommen sind. Und jedes Weihnachtsfest beweist uns, daß wir immer reicher werden an Liebe.« »Kann das immer so weiter gehen?« – »O ha, denn immer größer wird der Kreis der Menschen, denen wir irgendwie nützen und die sich in Liebe an uns schließen.« Und wieder begann Koja im Goethe zu blättern, während Agi versuchte, sich ins Lesen des Ertelschen Romans »Die Leute vom blauen Kuckuckshaus« zu vertiefen. Aber immer wieder redete eins dem andern ins Lesen darein; denn ihre Seelen waren voll ungelöster Fragen. Ein abgerissener Faden war neu geknüpft; und andere Fäden sollten wieder ausgenommen werden.

Jetzt, wo sie aus der Niederung der Not und der Demütigungen sich herausgearbeitet hatten, brauchten sie sich nicht mehr zu verbergen vor den lieben Menschen, die ihnen gut geworden waren in schwerer Zeit, Prokop, Paul, Kainredl, Karpellus, Münchhausen und Jaksch.

In jener fernen Zeit, als Koja noch ein kleiner Waldläufer war, hatte die Schwammerliesel der Mutter viel Freud' prophezeit, viel Freud' an den Kindern, freilich viel Tränen vorher. – Und was hatte die menschenkundige Alte vor Augen gehabt, wovon sie den Spruch abnahm, der in der Seele der Mutter als schicksalschaffend wirken sollte? – Neben dem Vater, der seinen kargen Arbeitslohn in den Kantinen ließ, die besonnene, die arbeitssame Mutter voll Selbstvertrauen und Gottvertrauen, eine Mutter, die ganz ihren Kindern lebte, die ihre Kinder in Reinheit aufzog zu Arbeitswilligkeit und gegenseitiger Hilfsbereitschaft. Wie oft mochte die kluge Waldfrau in ihrem langen Leben beobachtet haben, daß eine starke Frau das Schicksal der Familie zum Guten gestaltet, auch wo der Mann versagt? Da hatte sie leicht prophezeien.

Stand das bescheidene Glück, das die Mutter jetzt genoß, in einem richtigen Verhältnis zu den vielen Jahren der Entbehrungen, Überanstrengungen und Seelenqualen, die sie und Agi erlitten hatten? – D nein, es mußte noch viel mehr Freud' nachkommen, viel mehr! – Und dafür wollte Koja sorgen, er, der erblich Begüterte. Denn mit Zinseszinsen wollte er die Liebesopfer heimzahlen, die für ihn gebracht worden waren damals, als er so großer Liebe noch nicht würdig war.

Als Koja sich an seinem Goethe sattgesehen hatte, griff er wieder zur Laute. Er spielte und sang leise, daß er Mutter und Rudi nicht weckte, Hans Pauls und Urbans Lied:

Kennst du mein Haus der Sehnsucht?
Es steht auf grünem Hang
In hellem Sonnenscheine,
Umklungen von Vogelgesang.

Drin schaffen meine Lieben.
Ihr Boden ist wohlbestellt;
Es fehlt nicht an Früchten und Blumen
In ihrer schönen Welt.

Es zieht mich zum Haus meiner Sehnsucht,
Wo immer ich schreiten mag;
Schon winkt dem Wandermüden
Der Wiedersehenstag.

Hast du kein Haus der Sehnsucht?
Dann bau' im Geist daran.
Was du recht vorbedenkest,
Das wird einst recht getan.


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