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Für Koja wurden die Weihnachtsferien daheim zu einem wahren Seelenbad. Die Heiterkeit der Mutter ließ ihn nicht ahnen, wie sehr diese tapfere Frau unter der Trunksucht ihres Mannes litt. Sein kleines Brüderchen, dem er früher wenig Beachtung geschenkt hatte, erschien ihm jetzt engelhaft schön; das unterernährte und darum stille Kind war auch wirklich von entzückender Zartheit und Lieblichkeit. Agi ließ die Nähmaschine einmal rasten und unternahm Hand in Hand mit Koja eine kurze Wanderung, obwohl die bergan führenden Wege vom Schmelzwasser berieselt waren. Und Koja entdeckte im bloßgelegten Leithakalk sichtbar gewordene Reste von strahlig gestreiften Pilgermuscheln, glatte Kerne von Herzmuscheln und zierliche Kegelschnecken. Mit begeisterter Beredsamkeit rief er die Schwester auf zur Verwunderung darüber, daß sie auf dem Uferboden eines ehemaligen Meeres wandelten, das vor Jahrmillionen hier gebrandet hatte. Unbewußt war Koja in seinen lehrhaften Ton verfallen, in dem er wiedergab, was er gelesen, was er im Museum gesehen und mit seiner lebhaften Einbildungskraft zum einheitlichen Geschehen verbunden hatte. Und er erzählte: »Seit ich das Umlauft'sche Feuilleton über den Wiener Boden gelesen hab', bin ich an jedem Sonntagvormittag im Museum gewesen, wo die aus dem Wiener Boden ausgegrabenen Knochen der tropischen Tierwelt als Skelette aufgestellt sind. Elefanten, Nashörner, Faultiere. Und bei einem solchen Museumsbesuch hab' ich meinen Mitschüler, den jungen Baron von Münchhausen näher kennengelernt, den sie in der Klasse nicht anders nennen, als den ›stillen Willy‹. Er hat mich für Nachmittag zur Jause eingeladen. Seine Mutter, eine Tochter des berühmten Malers Danhauser, ist eine sehr, sehr liebe, feine Frau und von ihr hat Willy wohl sein stilles Wesen. Und von ihr hat er auch seine Begabung zum Zeichnen. Wie sie mich bei der Jause bemuttert hat! Und dann hat sie uns die Schlüssel gegeben zu den Glasschränken der Familienbücherei. Und da haben wir gestöbert und geschwelgt. Erst hat mir Willy die von Doré so köstlich und humorvoll illustrierten Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen gezeigt, von dem er den Namen, aber nicht das Talent zum Aufschneiden Übertreiben. geerbt hat. Und neben vielen in Schweinsleder gebundenen Folianten haben wir so recht anheimelnde, bunt betupfte und marmorierte Pappbände gefunden, darunter die erste deutsche Ausgabe der Buffonschen Naturgeschichte aus dem Jahre 1780 und den deutschen Linné mit handkolorierten Kupferstichen, auch ein »Kräutterbuechlein von Apollinaris« aus dem Jahre 1575. Was mir aber die größte Freude machte, das war die Entdeckung zweier Foliobände aus hektographierten Blättern mit vielen Federzeichnungen. Es waren die gesammelten Vorlesungen Professor Hochstetters über die Geologie mit einem Anhang über die Urgeschichte der Menschheit. Zum Einlesen in den Text fehlte es uns an Zeit; auch hätten wir ihn wegen der vielen wissenschaftlichen Ausdrücke noch nicht verstanden, aber die Bilder haben wir uns angesehen. – Agi, erinnerst du dich, daß Martin in seiner Naturgeschichte viele ausgestorbene Tiere mitten unter ihren jetzt lebenden Verwandten aufführt?« »Ja, ich erinnere mich an den Höhlenlöwen Deutschlands, von dem ein Schädel in der Gailenreuther Höhle gefunden worden ist.« – »Zweifelst du noch, daß es hier früher ein tropisches Paradies war?« – »Nein,« gab Agi zu.
»Die gute Mutter Willys hat mir den Hochstetter geborgt und hat mich so herzlich eingeladen, öfter zu einer Mahlzeit und zum Plaudern mit Willy wieder zu kommen, daß ich mir gar nicht als der arme Kerl vorgekommen bin, der als Bettgeher in der Engelgasse wohnt, sondern als richtiger Student, der wirklich Doktor werden soll. Willy und ich sind Freunde geworden. Er hilft mir beim perspektivischen Zeichnen, und ich ihm in Latein.« – »So ist's recht, lieber Koja, gegenseitige Hilfe gibt der Freundschaft Wert und Halt; merkst du, daß es mit dir vorwärts geht, vorwärts und aufwärts? Daß in dir das Zeug zu einem besonderen, einem gesellschaftlich wertvollen Manne steckt, hat der Oberlehrer in Pöchlarn erkannt, auch seine Frau und seine Töchter haben es gefühlt, dann der Professor Albert in Melk, der sich durch all deine Dummheiten nicht hat um die gute Meinung bringen lassen. In St. Pölten warst du nur durch die ungünstige Umgebung und die arge Not vorübergehend gesunken, um desto merkbarer wieder aufzusteigen ins Bessere, Edlere, zu dem du bestimmt bist. Daß du bei Münchhausens gern gesehener Gast bist, mag dir als eine erklommene Höhenstufe erscheinen. Freundlich begegnen dir wertvolle Menschen, die gesellschaftlich über dir stehen; sie glauben an das Gute in dir. Und du mußt ihren Glauben wahr machen. Froh bin ich, daß du unter deinen Professoren wieder einige hast, für die du dich begeisterst. Lern' ihnen zulieb, daß auch sie an dir ihre Freud' haben.« – »Liebe Agi, es ist leicht gesagt: ›lern' ihnen zulieb‹, aber weißt du, daß ich an Wochentagen nur die Zeit nach dem Nachtmahl für mich hab'? Meine schulfreien Tagesstunden gehören dem Präparator.« – »Wenn auch; hätt' ich nur auch die Abende zum Lernen! Oh, du würdest staunen, mit welcher Lust ich mich so ganz, ganz sammeln tät' immer auf das, was ich gerade vornähme! – Überglücklich wär' ich, wenn ich lernen könnte wie du! Ob je für mich die Zeit kommen wird, daß ich nach Herzenslust studieren kann? Doch bin ich froh, daß du deinem Ziel unentwegt näher kommst. Und immer, wenn ich vor dem Einschlafen ein Weilchen wachträume, seh' ich das Haus unserer Sehnsucht vor mir, in dem dich, den Arzt, so viele aufsuchen werden, damit du ihnen helfest.« – »Und dir, liebe Agi, richte ich darin ein Blumenzimmer ein mit großen Fenstern, so eine Art Wintergarten, nur mußt du dulden, daß ich Aquarien darin aufstelle.« – »Und große Vogelkäfige, Volieren, mit einem bunten Völklein kleiner Singvögel, denen es allen gut gehen soll, gelt? Das räum' ich dann deinen Patienten als Warteraum ein, daß sie was Liebes vor Augen haben. – Oh, das wird schön werden!«
So dachten die Geschwister immer wieder ans Ziel ihres Strebens; und doch dachten sie schon über dieses Ziel hinaus. Das Haus der Sehnsucht sollte errichtet werden, am Ausgangspunkte eines neuen Lebens im Dienste der Mitmenschen. Und sie erlebten im Geiste die schönere Zukunft in der schönen Gegenwart.
Vater Lorent war auf seinen Sohn wieder stolz; ihm zulieb kam er ein paar Tage nacheinander nur angeheitert, nicht schwer trunken heim. Erst in der Silvesternacht, nachdem er am Abend sein Monatsgeld bekommen hatte, berauschte er sich so, daß er in bewußtlosem Zustande von zwei barmherzigen Stammgästen seiner Kartenrunde heimgebracht werden mußte, vom Monatslohn rettete seine Frau nur sechs Guldenzettel, die sie verknittert in seiner Westentasche gefunden hatte. Koja war entsetzt. Wie schwer mußte es Agi und der Mutter fallen, ihm etwas zu schicken!
Am Neujahrsmorgen brachte der Postbote einen Brief Urbans, in dem dieser in aller Form um die Hand Agis anhielt. Dem Briefe waren zwei Photographien beigelegt, das Bildnis seiner Mutter und eine Aufnahme seines Hauses, das über einem sanften Wiesenhang inmitten eines Obstgartens stand. Für die Mutter war's eine getrübte Freude, was sollte aus ihr, was aus den jüngeren Kindern werden, wenn Agi aus der Familie schied? – Aber sie sprach ihre Befürchtung nicht aus. Agi sah der Mutter ins bekümmerte Gesicht und strich ihr tröstend über den Handrücken der Rechten. »Mach' dir keine Sorgen, Mami, ich bleibe bei euch.« – Daß ihr der Brief lieb war, verheimlichte sie nicht. Als Kleinod verschloß sie ihn in ihrer Schatulle, wo sie auch Pauls Gedicht und die getrocknete Rose verwahrte, die sie einst von Urban erhalten hatte. Sie überlegte nicht, was sie antworten mußte, sondern nur, wie sie ihre Absage schreiben sollte, um dem Manne nicht weh zu tun, der es ja so gut mit ihr meinte. Dann schrieb sie:
»Sehr geehrter Herr Urban!
Im Einverständnis mit meiner guten Mutter danke ich Ihnen für Ihre freundlichen Zeilen; Sie meinen es mit mir gut. Aber ein fortbestehendes Hindernis ernster Art, dessen Behebung außer meiner Macht liegt, läßt mich die Bitte tun: Betrachten Sie sich als frei. Schreiben Sie mir nicht mehr. Freundliche Grüße von uns.
In dankvollem Gedenken
Agathe Lorent.«
Hatte sie auf ihr Glück verzichtet? Nein! Es wäre für sie kein Glück gewesen, wenn sie die Mutter verlassen hätte im Kampfe gegen ein widriges Geschick, das nur überwunden werden konnte, wenn sie treu zusammenhielten. Am Dreikönigstag gab sie dem scheidenden Bruder das Geleite, und als der Zug sich in Bewegung setzte, rief sie ihm nach: »Koja, ich bin so froh, daß du in einer guten Familie untergebracht bist, so froh!«