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Mutter und Agi reisen.

Die ungewohnte Freude am Leben färbte Agis Wangen, und in ihre Augen kam ein Leuchten, das sie verschönte. Sie trug die Überzeugung in sich, daß es nun wieder vorwärts ging.

An einem Donnerstag, als sie einen Pack Wäsche für den Vater auf die Post gegeben hatte, fand sie heimkommend eine Karte von ihm vor, in der er sein baldiges Kommen ankündigte. Er kam spät nachts und er kam nicht nüchtern. Den Zimmerherrn, der noch bei seinen Büchern saß und sich beeilte, dem ungestüm Läutenden zu öffnen, hielt er für den Zugsführer Ratz und griff ihm mit beiden Händen in den Bart, dabei schrie er: »Hab' ich dich wieder, du Schleicher, du Angeber, du Spion, du!« Mit kräftigem Faustschlag ins Gesicht des Trunkenen machte sich der Student los, zog sich in seine Kammer zurück und drehte den Schlüssel hinter sich um. – Fluchend stolperte Lorent im Finstern und fiel der Länge nach hin. Da kam Agi mit Licht. In richtiger Erkenntnis der Sachlage goß sie dem Vater einen Krug kalten Wassers über den Kopf, entkleidete ihn mit Hilfe der Mutter und brachte ihn zu Bett.

Als er am nächsten Tage den schweren Rausch ausgeschlafen hatte, befiel ihn ein Jammer, in dem er mit weinerlicher Stimme sein Leben und sich selbst beklagte.

Mutter und Agi besprachen sich leise in der Küche und kamen dahin überein, daß es ein geringeres Wagnis wäre, Koja in Wien bei einer guten Familie unterzubringen und sich dafür des Vaters anzunehmen, der sonst elend verkommen müßte.

Auf dem Gange zum Staatsbahnhof (Ostbahn) gab Agi dem Vater das Geleite. In ihrer stillen, eindringlichen Art sprach sie ihm Mut zu und erbat von ihm das Versprechen, in Mannersdorf eine Wohnung aufzunehmen.

Ehe eine Woche vergangen war, traf vom Vater die Nachricht ein, daß er auf dem Sommereiner Weg beim Bauer Moorböck eine freundliche Gassenwohnung gefunden habe, zu beziehen am 1. November. Vor dem Hause stehe eine alte Linde, so groß wie die in der Neudamühle. In der Nachschrift teilte er mit: »Ich bin Kondukteur (Schaffner) geworden mit 45 Gulden Monatsgehalt, dazu Quartiergeld und Kilometergelder.«

Unter anderen Umständen wäre Agi froh gewesen. Koja jubelte: Ein Lindenbaum vor dem Haus! Und im Hofe gackernde Hühner, Hahnenkrähen und Hundegebell! Und gewiß auch eine Hauskatze, die mit Schnurren dankt, wenn man sie streichelt. Und das alles am Leithagebirge, wo es gewiß allerlei Mineralien und anderes zum Sammeln gibt!

Agis Freude war von Fragen und Sorgen getrübt. Ob sie dort gleich Verdienst fand, daß sie dem Bruder Wohnung und Kost in Wien bestreiten konnte? Und noch etwas war's, das ihr den Abschied schwer machte: sie hatte Hans Urban lieb gewonnen. Aber das durfte niemand wissen; niemand, auch er nicht; jetzt schon gar nicht. Nach dem, was der Vater ihm angetan hatte, war Urban für sie verloren. Einen Zettel heftete sie ans Tor. Die Wohnung mußte von einem neuen Mieter abgelöst werden, denn bei vierteljährlicher Kündigung wäre die Miete bis Februar zu bezahlen gewesen, auch wenn die Wohnung unbenutzt geblieben wäre. Nach drei Tagen fand sich die Ablösung: Eine Beamtenswitwe mit zwei Töchtern; aber sie übernahm die Wohnung nur unter der Bedingung, daß der Zimmerherr bliebe. Und Urban blieb.

Die Ablösungsbeträge für den Gasmesser und den Gasherd mit Agis Ersparnissen reichten knapp auf die Übersiedlungsfuhr. Um das Schulgeld für Koja zu bezahlen, verkaufte Agi die besten Stücke ihrer Leibwäsche. Koja mußte geholfen werden.

Und sie fingen zu packen an. Aber noch am letzten Tag vor der Abreise, an dem sie für den Bruder eine Unterkunft hatte suchen wollen, bekam sie eilige Näharbeit von der Hausfrau. – Da machte sich die Mutter mit Koja auf den Weg.

Sie gingen die Gassen ab und lasen die Zettel an den Toren, immer wieder: »ein möbliertes Kabinett an einen anständigen Herrn oder ein Fräulein zu vermieten.« Aber das war unerschwinglich, es durfte nur ein Bett sein, das nicht mehr kostete, als einen Gulden in der Woche. Nach ermüdendem Wandern gelangten sie in die quer zum Wienfluß hinabgehende Engelgasse. Da hingen fast an jedem Tore Zettel. Es dämmerte schon; der Mutter wurde angst. Wenn's jetzt nicht gelang, Koja unterzubringen, war's mit seinem Studium vorbei. Auf dem Tor des obern Eckhauses fand sich endlich die Ankündigung, daß ein Bett zu vermieten war an »anständigen Herrn oder Fräulein«. Die Mutter bekreuzte sich, als sie über die Torschwelle trat. Sie betete, während sie mit Koja zum dritten Stock emporstieg. Und als sie in der von einer kleingestellten Gaslampe schwach erhellten Küche der alten Frau gegenüberstand, deren schlissige, grellrote Seidenbluse das welke, früh gealterte, von unzähligen Fältchen zerfurchte Gesicht nur verfallener erscheinen ließ, wäre sie am liebsten umgekehrt. Aber von der Not gedrängt, brachte sie die Frage hervor: »Könnte mein Sohn bei Ihnen wohnen? Er ist Student im Gymnasium.« Die Alte nickte und führte die beiden an einer offenen Türe vorbei, durch die ein grellroter Divan unter einer rosig leuchtenden Ampel zu sehen war, in ein langgestrecktes Zimmer, an dessen Längswand drei Betten hintereinander gereiht waren. Vor jedem stand ein Nachtkästchen und ein mit Frauenkleidern überladener Sessel. Auf dem Tische in der Mitte des Zimmers lagen ungeordnete Wäschestücke, ein erblindeter Spiegel, Kamm, Bürste, offene Schminkschachteln und Puderquasten. Rechts von der Türe stand ein Bett und darangereiht ein Kleiderschrank, der mit Hutschachteln bedeckt war. Links von der Türe war wieder ein Bett und vor dem Fensterpfeiler ein Nähtischchen mit einem verstaubten Makkart-Bukett. Strauß von Schilfrispen, Weberkarden und Pfauenfedern, – ein geschmackloser Zimmerschmuck. An den Wänden hingen in schmutzbedeckten, goldbronzierten Rahmen billige Ölfarbdrucke, die badende Nymphen vorstellten. Vom Bett im Fensterwinkel hob die Alte die Decke ab: »'s Bettzeug ist rein.« – Unschlüssig drehte sich Mutter Maria um: »Wer schläft in den anderen Betten?« – Meine Nichten und ich,« gab die Alte zur Antwort. Da ergriff die Mutter ihre Rechte: »Wenn ich Ihnen meinen Buben anvertrau', weil ich heut nicht weitersuchen kann, bitt' ich Sie um Gottes Barmherzigkeit willen, lassen Sie mir ihn nicht verderben!«

Beredter als ihre Worte sprach der krampfhafte Druck ihrer Hände von der Mutterangst; das Weib rief im Weibe das Muttergefühl auf und das Bewußtsein der Verantwortung. – Da erwiderte die Alte mit seltsam weicher Stimme: »Besser wie auf mein eigenes Kind will ich schauen auf ihn, und kümmern will ich mich darum, daß er Lektionen bekommt; wenigstens den Gulden wöchentliche Bettmiete soll er sich selber verdienen.«

Von Agi und Mutter wurde die Nacht durch emsig gepackt. Als am nächsten Morgen der Möbelwagen beladen wurde, band Koja seine Wäsche und seine Bücher zu einem Bund zusammen, seine Insektenschachteln zu einem zweiten und verstaute sie ganz vorne, wo quergestellt hinter dem Kutschersitz das Sofa stand, auf dem Agi und Mutter während der Reise sitzen sollten. – Urban, der beim Aufladen geholfen hatte, überreichte Agi zum Abschied seine Laute als Andenken an die schönen Abende. Erst wollte sie ablehnen: »Ich kann viel zu wenig und die Laute brauchen Sie ja selbst.« Als er schnell erwiderte: »Ich hab' für mich schon eine neue,« dankte sie ihm errötend, gab jedoch das Instrument ohne Bedenken ihrem Bruder: »Nimm du sie; spiel' und sing', daß dir die Bangigkeit nichts anhaben kann. Und denk' dabei an uns, wie fröhlich wir waren, mitten in unserer Armut. Und halt dich brav, daß dir der Frohsinn bleibt.«

Der Kutscher mahnte zum Aufbruch. Noch ein letztes Händeschütteln; die Reisenden nahmen nebeneinander auf dem Sofa Platz, die Pferde zogen an. Vorwärts ging's wieder einem neuen Lebensabschnitt entgegen.

Langsam fuhr der Wagen den Mariahilfer Gürtel hinab und bog dann in die lange Gumpendorfer Straße ein. An der oberen Ecke der Engelgasse nahm Koja Abschied. Und als der Wagen durch die Dreihufeisengasse weiterrollte, stand der Junge noch lange festgebannt auf einem Fleck und sah dem Gefährt mit feuchten Augen nach, bis es ihm entschwand. In jeder Hand einen Pack, die Laute auf dem Rücken, ging er langsam auf sein neues Heim zu. – Der Vierzehnjährige war nun in der Großstadt allein, allein inmitten unbekannter Gefahren.

Als der Wagen über die steinerne Wienbrücke am Naschmarkt fuhr, gedachte Mutter Maria der Prophezeiung der Schwammerliesel: »Schau, Agi, 's trifft zu, was die Alte vorausgesagt hat: Geweint hab' ich in den letzten Nächten nicht wenig, und jetzt reisen wir wieder; wir reisen weiter in die Fremde, jetzt gar an die ungarische Grenze.« – »Da wird auch andere zutreffen, Mutter, wirst sehen, du wirst viel Freud' erleben, viel Freud' an deinen Kindern.«


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