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Die Aussteuer.

Am Abend machte sich Agi auf den Weg zum Bahnhof, um den letzten Zug abzuwarten und den Vater heimzuholen.

Leise fiel der erste Schnee in großen, flaumigen Flocken vom dunklen Himmel. Die fast menschenleere Dorfstraße, in die aus einigen Fenstern breite Kegel gelblichen Lichtes fielen, hatte etwas ungemein Anheimelndes. In stiller Zuversicht ging Agi dahin; die Unsicherheit und Unrast der letzten Tage war überwunden, und eine Zeit gesicherter Arbeit lag vor ihr. Im Laufe des Nachmittags hatten sich drei Kunden eingefunden.

Erst wollte Agi im leeren Wartesaal die Ankunft des Zuges abwarten, hingeschmiegt in die Ecke einer Bank, aber der Raum war gut geheizt, und die wohlige Wärme schläferte das übermüdete Mädchen ein. Da raffte sie sich auf und trat ins Freie. Vor dem Geleise ging sie mit festen Schritten auf und ab und ließ die kühlenden Flocken auf ihren Handtellern zergehen. Das erquickte. Der Zug fuhr ein, die wenigen Fahrgäste verliefen sich. Lorent ging in die Verkehrskanzlei, um seine Meldungen zu erstatten. Als er wieder herauskam, trat Agi an ihn heran. »Grüß Gott, Vater!« – Da fuhr er sich mit der Rechten über die Stirne: »Ja, ja, seid's denn Ihr schon da?« – Offenbar hatte er die ganze Übersiedlungsangelegenheit vergessen gehabt. Glücklich, den Vater nüchtern zu finden, hing sich Agi an seinen Arm und zog ihn fort, an der »Restauration« vorüber. Unterwegs erzählte sie ihm von der Übersiedlung und ihrem glücklichen Anfang als Dorfnäherin. Und als sie mit ihm daheim über die Schwelle trat, empfing ihn sein Weib ohne Vorwurf. »Daß wir nun wieder beisammen sind, jetzt wird alles gut werden!« Und schon stellte sie ihm das Waschbecken bereit, daß er Staub und Ruß von sich waschen konnte, ehe er sich zu Tische setzte, der weiß gedeckt war, wie an Sonntagen. Ihm tat die ungewohnte Fürsorge wohl. Rührselig, wie alle Trinker, saß er mit feuchten Augen vor seinem Teller, ließ sich die Kartoffelsuppe mit Fleischbrocken schmecken und empfand es wie eine Gnade, daß er wieder im Familienkreise saß. Nicht satt sehen konnte er sich an dem kleinen Rudi. Agi sprach von Koja und von der Notwendigkeit, ihn mit Lebensmitteln zu versorgen. Da legte der Vater den Rest seines Monatslohnes, den er gestern erhalten hatte, auf den Tisch; das andere war in den Kantinen geblieben, wo er über den Monat auf Borg gelebt hatte. Er konnte sich ja auf die Trinkgelder verlassen. Und Agi war selig.

Am nächsten Tage saß sie wieder wohlgemut bei der Nähmaschine. Und am dritten Tage trug sie schon ein Paket für Koja zur Post. Darin war ein Laib Brot, gekochtes Selchfleisch und ein vier Seiten langer Brief. Im Briefe lag wieder ein Guldenzettel. Als Agi heimkam, fand sie die Mutter schluchzend im Fensterwinkel, vor sich einen Brief Kojas, den der Postbote soeben gebracht hatte. Agi las ihn laut:

 

»Liebe Mutter, liebe Agi! – lieber Vater!

Bitte, bitte, schickt mir Geld oder etwas zum Essen! – Es ist schrecklich! Ich bin mit dem Brot, das Ihr mir mitgegeben habt, schon am zweiten Tage fertig geworden, weil ich nichts andres hatte. Beim Ledel-Greißler hab ich gestern die erste Stunde gegeben. Ich kann Euch nicht sagen, wie mir war, weil ich als Hungriger hingegangen bin. Der Laden war voll Fräulein, daß ich kaum durchkonnte. Und auf der Marmorplatte war ein Schinken eingespannt, von dem der Ledel große Portionen heruntergeschnitten hat. Auch Pariser Wurst und Krakauer und Gansleberwurst haben die Fräulein gekauft. Die Frau Ledel hat sich müssen sehr tummeln mit dem Aufschneiden. Mir sind die Augen stecken geblieben. Da hat die Greißlerin gesagt: ›Gehn S' nur weiter, Herr Student, der Pepi wartet schon.‹ Dann hab ich mit dem Buben eine Stunde lang gelernt. Er kann noch nicht lesen und ist schon das zweite Jahr in der ersten Klasse. Das Lernen mit dem dummen Buben war schrecklich. Ich hab dabei immer an den Schinken gedacht und hab gewartet und gewartet, ob die Ledel mit einem Teller voll Aufschnitt kommt und sagt: ›Da haben Sie, Herr Student‹ – Aber sie ist nicht gekommen. – Und nach der Stunde hab ich mich wieder hinausgedrängt, und der Hunger hat mir mehr weh getan als vorher. Und oben in der Wohnung hab ich mich auf die Bettkante gesetzt, hab mir das Nähtischerl nähergezogen und hab wollen die griechische Übersetzung machen für morgen.« Mit Bleistift geschrieben, ging's weiter: »Die Bettfrau hat mich gefragt, ob ich mir ein Nachtmahl verdienen wollt' mit Schachspielen und Vorlesen. – Und ob! – Da hat sie mich hinuntergeführt in den ersten Stock zu dem rothaarigen Fräulein, das auf Nr. 7 wohnt. ›So, Fräul'n Rosa,‹ hat sie gesagt, ›da bring ich den Studenten.‹ – Die war sehr ernst und sehr lieb zu mir und hat leise im Vorzimmer zu mir gesprochen: ›Mein alter Vater ist das einzige Gute und Heilige, was ich noch auf Erden hab, er darf keine Ahnung haben, daß ich im Elend bin. Er ist schon vierundachtzig Jahre alt und seit zwei Jahren gelähmt. Er glaubt noch immer, daß wir reich sind. Den Tag verdämmert er in seinem Lehnstuhl, aber am Abend wird er lebhaft, da möcht' er unterhalten sein. Darum hab ich Sie bitten lassen, spielen Sie täglich eine Partie Schach mit ihm und dann lesen Sie ihm das Feuilleton vor aus der Freien Presse. Aber sprechen Sie übertrieben deutlich; er hört schwer. Sagen Sie Du zu ihm und reden Sie ihn als Onkel an; vor einem Fremden hätte er Angst.‹ Damit führte sie mich zu ihrem Vater in den Salon: ›Lieber Vater,‹ hat sie gesagt, ›ich bring' dir einen Besuch, deinen Großneffen Koja; er studiert jetzt in Wien.‹ Da neigte sich der alte Herr in seinem Fahrstuhl vor und sah mich durch die runden, dicken Hornbrillen an: ›Ah, du bist von der Susanne ihrer Tochter, der Regine, ich weiß schon.‹ Damit klappte er das Schachspiel auf; das hat sehr große Felder und Figuren, der König und die Königin sind ein Dezimeter hoch. Er spielt sehr langsam; wenn ich einen Zug mache, wühlt er mit seiner Hand lange in dem weißen Vollbart, grübelt ernst und läßt mich warten, bis er den Gegenzug macht. Da kann ich mich im Zimmer umschauen. Der Boden ist mit einem großen weichen blauen und roten Teppich bedeckt, an den Wänden sind alte Ölbilder in Goldrahmen, auf Konsolen und Tischchen stehen bronzene und marmorne Statuetten. Ich verstehe nicht, wie das Fräulein Rosa sagen kann, daß sie im Elend ist, wenn sie das noch nicht verkauft oder versetzt hat. So still war es in dem schönen Salon, daß ich immer dem langsamen Ticken der alten Standuhr hab lauschen müssen. Da ist das Fräulein leise hereingekommen und hat ein Tischchen an meine linke Seite gestellt. Darauf war ein großer flacher Teller mit Aufschnitt: Schinken, Pariser Wurst und Leberpastete. Und auf einem zweiten Teller waren drei dick gestrichene Butterbrote. Und aus der Teekanne ist ein duftiger Dampf aufgestiegen. ›Lassen Sie sich's schmecken, Herr Koja, und machen Sie schön Wetter.‹ D. h. »Essen Sie alles auf.« Damit legte sie mir vor. Dann schlang sie ihren Arm um den Hals ihres Vaters, strich ihm die weißen, nur das Hinterhaupt deckenden Locken zurecht und küßte ihn auf die Stirn.

Und nach der Schachpartie, die ich ihn hab gewinnen lassen, hat er mich gebeten, ich sollt' ihm den Tschibuk stopfen, unten mit Varinas und oben mit Latakia. Beim Vorlesen hab ich mich müssen so setzen, daß er mir auf den Mund gesehen hat. Das Feuilleton aber hat mich dann so gefesselt, daß ich den alten Herrn, das Fräulein Rosa und den Salon vergessen hab. Es war eine wissenschaftliche Plauderei von Professor Umlauft, den wir in der Geographie und Geschichte haben. Er schreibt über den Boden des Wiener Beckens. Denkt Euch: Unter den Schottern und Sanden aus der Zeit der letzten Vergletscherung liegen die Muscheln und Schnecken des tertiären Meeres (das so warm war wie das Mittelmeer) und darunter die See-Igel, Seesterne, Schwämme und Korallen des Kreidemeeres, und stellenweise ragen die zu Felsen gewordenen Ablagerungen des Jurameeres als Riffreste hervor und enthalten Ammoniten (das sind gewundene Schalen von Kopffüßlern). In den oberen Sanden finden sich Knochen von riesigen Säugetieren, im Boden sogar Stoßzähne und ganze Skelette vom eiszeitlichen Mammut. – Und rund herum an den Uferbergen des ehemaligen Meeres sind sehr viele Versteinerungen zu finden. Liebe Agi, wenn Du Zeit hast, bitte, geh in den Mannersdorfer Steinbruch und sammle für mich versteinerte Muscheln und Haifischzähne, ja? Du bist so nahe daran.

Es küßt Euch Euer
Koja.«

Mit Bleistift geschrieben, war wieder eine Nachschrift angefügt:

»Weil ich nicht Geld auf die Briefmarken gehabt und auch Aquarellfarben gebraucht hab, mußte ich eine Schachtel Käfer verkaufen. In der Gumpendorfer Straße unterm Esterhazy-Gymnasium ist nämlich der Naturalienhändler Schuster. Der war nicht im Geschäft, weil er krank ist; seine Frau hat mir nur einen Gulden dafür gegeben, aber ich habe genug gehabt. Jetzt kann ich wenigstens den Brief wegschicken. In der Auslage hat Schuster einen Herkuleskäfer, der ist fast 15 cm lang; ein Prachtexemplar aus Brasilien! – Agi, wenn Du mir den zum Christkindel geben würdest, ich wäre selig!«

Agi mußte lächeln: »Mutter! Koja ist wirklich ein Besonderer! Mitten im Elend, wo er hungert oder sich auf abenteuerliche Weise eine einzige Mahlzeit im Tage verdient, sehnt er sich nach versteinerten Muscheln und Schnecken und nach einem Riesenkäfer aus Brasilien. Und merkwürdig! sogar das Schachspiel, das er als Bub gelernt hat, verhilft ihm zum Überwinden der Not. – Den Herkuleskäfer soll er zu Weihnachten haben und Versteinerungen!« Damit setzte sich Agi zur Nähmaschine und ließ das Rad laufen. – Bei der Jause sprach sie mit der Mutter noch einmal den Inhalt des Briefes durch. Bettgeher durfte Koja nicht bleiben. Ein eigenes Stübchen sollte er bekommen, wie der Herr Urban. Spät am Abend lauschte Agi auf den Ruf des Nachtwächters. Als sie ihn nahe wußte, lief sie zu ihm hinaus, steckte ihm ein Päckchen Tabak zu, das sie untertags für ihn erstanden hatte, und bat ihn, im Steinbruch Muscheln und Haifischzähne zu sammeln für ihren Bruder. – »Beim Frostwetter wird wieder im Steinbruch g'arbeit't; da kann ich Ihnen Muscheln bringen eine Kisten voll.« – Also war für eine Weihnachtsfreude Kojas schon gesorgt. Am nächsten Tag erschien die Gemeindewirtin mit ihrer Magd bei Agi. Beide schleppten schwere Päcke Leinwand und Barchent. Die einzige Tochter der Wirtin, die schöne Poldi, hatte sich mit dem Sohn des Bürgermeisters von Kaiser-Steinbruch verlobt; im Fasching sollte Hochzeit sein. Und Agi sollte die Aussteuer nähen. Ein Dutzend von allem. Und auf jedes Stück sollte sie ein Monogramm märken, schön verschlungen und hoch aufgelegt; wieviel das kosten würde, das war Nebensache. Und Zeit war bis Ende Jänner. Agi aber wollte nicht erst im Jänner liefern, sondern noch frühzeitig vor Weihnachten. Sie erbat sich alte Wäschestücke von der Poldi und begann mit dem Abnehmen der Schnitte, wenn auch mitten zwischen den Stücken der großen Bestellung kleinere Aufträge für bescheidenere Kunden erledigt werden mußten, daß die Mittel für die täglichen Bedürfnisse hereinkamen, so wurde doch täglich bis tief in die Nacht an der Aussteuer gearbeitet. Und Agi rechnete der Mutter vor, was sie vor Weihnachten von der Gemeindewirtin einnehmen werde: zweihundertsechzehn Gulden! – Das war ein Betrag, wie sie ihn noch nie auf einmal eingenommen hatte. Und schon begann sie darüber zu verfügen: hundertfünf Gulden wollte sie in die Sparkasse einlegen; davon mochte sie bis Juli die Kammermiete für Koja bestreiten. Auch den Herkuleskäfer konnte sie ihm zu Weihnachten kaufen. Fürs übrige Geld wollte sie Baumwolle und Wolle kaufen auf Socken und Strümpfe, mit denen sie alle beschenken sollte: den Bruder, den Vater, die Mutter, wie sie das alles vor Weihnachten zwingen wollte, war der Mutter ein Rätsel. Aber Agi hatte ein unbegrenztes Vertrauen zu ihrer Ausdauer. Ihre Kraft hatte noch nie versagt.

Der Stoß der fertigen Aussteuerstücke wuchs von Tag zu Tag, aber auch der Ruf der flinken Näherin verbreitete sich. Agi war eine Berühmtheit im Dorfe geworden, von der die Klatschbasen beim Federnschleißen erzählten. Als Beispiel einer guten Tochter wurde sie angeführt, das die Mütter ihren Töchtern vorhielten; und sie ahnte es nicht. Wenn Agi mit ihren raschen Schritten durch die Dorfstraße eilte, um zu liefern oder Einkäufe zu besorgen, wurde sie von Männern und Frauen auch von der andern Seite des Weges herüber gegrüßt. Freudige Unrast beschleunigte ihre Schritte. Sogar in der Art, wie sie mit den Leuten sprach, war immer fröhliche Eile.

Nach der zweiten Lebensmittelsendung lief vom Bruder wieder ein Brief ein, ein richtiger, langer Plauderbrief, wie Agi ihn liebte. Ihr und der Mutter war beim Vorlesen desselben, als weilte Koja leibhaftig bei ihnen.

 

»Liebe Mutter und Agi, lieber Vater!

Ein Ereignis! oder eigentlich drei! Überhaupt ist mein Leben voll von Ereignissen, weil mir in der dünnen Sonntagshose, die ich jetzt auf alle Tag tragen muß, zu kalt war, hab' ich die alte Hose darunter angezogen. In der ersten Stund' bin ich vom Professor Wallentin zum Rechnen an die Tafel gerufen worden. Da hör' ich hinter mir ein Kichern und hör' meinen Namen lispeln. Ich dreh mich um und merk', daß die Buben auf den untern Rand meiner Hosen schaun, wo die alte unter der neuen daumenbreit heraushängt; da hätt' ich versinken mögen, so geschämt hab ich mich. Der Professor fragt den Steiner Max, der am meisten gekichert hat: ›Was gibt's denn da zu lachen, wenn der Lorent das Y kriegen will?‹ – ›Bitte, Herr Professor, der Lorent hat zwei Hosen an,‹ sagt der Steiner drauf und prustet vor Lachen. Da winkt mich der Wallentin zu sich, greift, wie dünn der Stoff der obern Hose ist, und sagt: ›Recht hat er, die eine ist zu wenig, da zieht er eine zweite drunter an. So hilft sich ein findiger Bursch; daß ein dummer Kerl darüber lachen mag, ist begreiflich – aber kameradschaftlich ist's gerade nicht.' – Dabei hat er mir mit seinen guten Augen zugezwinkert, ich soll mir nichts draus machen. Aber nachmittags hat er mich ins chemische Lehrmittelzimmer gerufen. ›Ich sperr' Sie da auf 5 Minuten ein, daß Sie sich unbesorgt aus- und anziehen können,‹ hat er gesagt, ›probieren S' den Winteranzug, der dort auf meinem Sessel liegt. Er ist von einem meiner Neffen, der in Ihrer Größe ist. – Und wenn Sie mit'n Umziehen fertig sind, klopfen S' an die Tür, daß ich Ihnen aufmach'.' – So bin ich durch das Gekicher der dummen Buben und durch die Gutheit Wallentins zu einem schönen grauen Lodenanzug gekommen; der sitzt mir wie nach Maß; nur der Wetterkragen ist etwas lang, aber schön ist er auch, wie neu. Und die Pelzmütze ist aus einem weichen grauen Fell. – Der Vater des Fräuleins Rosa ist seit vier Tagen bettlägerig, ich verbring' den Abend bei ihm; aber vom Schachspielen ist keine Red', auch nicht vom Vorlesen. Ich leist' ihm nur Gesellschaft, wechsel' die kalten Umschläge auf seiner Stirn, lern' für die Schul' und ess' mein Nachtmahl. Und manchmal kommt das Fräulein herein, kniet beim Bett nieder, legt ihre Wange auf des alten Herrn Hand und weint vor sich hin. Vorgestern hat sie mir gesagt: »Wenn mir der Vater sterben tät', dann hätt' mein Leben keinen Sinn mehr? – von dem Gulden, den Du, liebe Agi, mir das letztemal geschickt hast, hab' ich mir beim Präparator Schuster einen Nashornkäfer gekauft; der hat nur zehn Kreuzer gekostet, aber er ist ein Prachtexemplar, ein Männchen; das Horn ist 1 cm lang. Da hat die Frau Schuster mit mir von ihrem Mann gesprochen, der jetzt krank ist und dem die Augen den Dienst versagen, seit er sich eine Arsenikvergiftung zugezogen hat. Und der Gesell kann jetzt, wo die Jagdherren soviel schicken, das Ausstopfen der Bälge nicht bewältigen. Da hab' ich ihr gesagt, daß ich auch schon ausgestopft hab' (weißt, Agi, den Maulwurf, den ich in der Neuda gefunden hab'). Und die Frau Schuster will mir das Mittagessen dafür geben, wenn ich in der schulfreien Zeit helfen komm'. Und gestern hab' ich das erstemal geholfen. Ich hab' einen Edelmarder ganz allein abgebalgt, während der Gehilfe eine Holztaube ausgestopft hat. Und dann hat er sich über den Marder gemacht. Erst hat er einen starken Draht, der das Rückgrat ersetzen soll, reichlich nach der Länge des Marders zurechtgezwickt, hat dort, wo die Seitendrähte für die Beine befestigt werden sollen, mit der Rundzange Ringel in den Hauptdraht gedreht, und während ich die Enden der Seitendrähte zugefeilt habe, hat er den Balg und den Schädel und die abgeschabten Beinknochen mit Arsenikseife eingepinselt. Dann hat er die Glasaugen in den Schädel eingekittet und die Kopfschleife des Drahtes in der Hirnhöhle mit Werg festgestopft. Auch die Beinknochen hat er dort, wo früher das Fleisch war, mit Werg umwickelt, hat die Seitendrähte an den Beinknochen entlang durch die Sohlen geschoben und mit dünnem Draht an die Beinknochen gebunden. Dann hat er das spitzgefeilte Ende des Rückendrahtes in den Schwanz gesteckt. Den Leib hat er mit festgestopftem Werg ersetzt. Das Zusammennähen der Haut auf der Bauchseite hab' ich machen dürfen, während er im Brettchen die Löcher für die Enden der Beindrähte gebohrt hat. Und als wir den Marder auf dem Brettchen festgesteckt hatten, da hat er erst ganz gradhin und so blöd dreingeschaut, daß wir beide haben lachen müssen. Aber der Geselle hat ihm die Taube so unter die linke Vorderpfote geschoben, daß es aussah, als würde er sie zu Boden drücken. Er hat ihr die Flügel gespreizt, den Kopf aufgebogen und den Schnabel aufgemacht – als ob sie um Hilfe schrie. Den Rücken des Marders hat er hohl aufgebogen, den Hals gehoben, den Kopf nach links gedreht und die Lippen aufgestülpt, als ob der Marder die Zähne fletschte. Dann hat er seine Schnauze und die Halsfedern der Taube mit roter Tinte bekleckst, als ob es Blut wäre. Auf den Boden, ich meine auf das Brettchen, hat er mit Leimwasser Moospolster geklebt, dürre Zweige und Buchenblätter. Und das Kunstwerk war fertig. Ich sag' Euch, es sieht so aus, als hätte der Marder eine Taube geschlagen, wäre von jemand überrascht worden und zeigte ihm die Zähne. Hinterm Fenster in der Werkstatt liegt ein Wiesel, das will ich morgen allein ausstopfen; dem will ich eine Feldmaus als Beute geben. Mir ist, als müßte es mir auch so gelingen.

Heute ist Sonntag. Nach der Exhorte Evangelien-Betrachtung in der Schule. bin ich im Naturhistorischen Hofmuseum gewesen; da hab' ich mir die Sammlung des Kronprinzen Rudolf angesehen, die er mit dem Naturforscher Brehm gemacht hat (der ist nämlich mit ihm gereist). Ah! Ich sag' Euch, das ist wunderbar, was der Präparator Hodek da geleistet hat. Die Tiere sind in die Landschaft gestellt, als ob sie lebten. – Das Ausstopfen ist eine Kunst, so wie die Bildhauerkunst.

Beim Schuster hab' ich gut zu Mittag gegessen. Der Herr ist sehr froh, daß er mich hat. Er will, daß ich bei ihm auslerne und dann bleibe. Aber ich hab' gesagt, Mutter und Agi wollen, daß ich Doktor werde.

Nachmittags bin ich spazieren gegangen, weil die Fräulein alle zu Hause waren. Da hätt' ich ihr ödes Gerede anhören müssen – und ich hätte zum Lernen keine Ruh gehabt. Ich bin vor einem Delikatessenladen stehen geblieben. Da hat sich ein Infanteriehauptmann neben mich gestellt und hat mich angesprochen. ›Student, wohin gehen Sie?‹ – ›Ich weiß es nicht.‹ – ›So, Sie wissen nicht, wohin Sie gehn? – Da wissen Sie auch nicht, wohin Sie gelangen. Auch ich bin einmal gegangen und hab' nicht gewußt, wohin ich geh. – Da ist ein guter Mensch zu mir gekommen und hat mich geführt. Lassen Sie sich heute von mir führen. Kommen Sie mit mir.‹ – Ich hab' gleich Vertrauen zu dem Offizier gefaßt und bin mit ihm gegangen.

Der hat mich auf den Opernring geführt. Da war zu ebener Erde im Hoftrakt ein Saal. Dort sind wir eingetreten. Er hat mich mit den Worten eingeführt: Da bring' ich einen, der nicht wußte, wohin er ging. Nehmen Sie sich seiner an, Herr Marek. Dann haben wir uns einander vorgestellt. Der Herr Marek ist Buchhandlungsgehilfe bei der Bibelgesellschaft. In dem großen Saale waren weißgedeckte Tische aneinandergereiht, daran saßen sehr viele junge Leute, tranken Tee, aßen Butterbrote und lasen in Zeitschriften oder plauderten, einige spielten Schach, andere Mühlfahren oder Wolf und Schaf. Mir wurde ein Platz angewiesen, und einer der diensttuenden jungen Männer füllte mir die Teeschale und schob mir ein Brotkörbchen zu. ›Lassen Sie sich's schmecken, bei uns wird nicht gemahnt.‹ Ab und zu erhob sich einer von den jungen Leuten, klopfte mit dem Teelöffel an seine Schale und erbat sich Gehör. Er teilte den Lauschenden mit, was er besonders Merkwürdiges beim Lesen gefunden hatte. Mir kam nicht alles außerordentlich vor. Eine Geschichte aber habe ich mir gemerkt und werde sie mein Lebtag nicht vergessen: ›Es ging ein Wandrer im Winter über den St. Bernhard-Paß. Er kam in ein Schneetreiben. Er kämpfte sich stundenlang vorwärts, bis seine Kräfte versagten. Er taumelte vor Kälte und Ermattung und verlor den Mut. Er hatte einmal gehört, daß es keinen angenehmeren Tod gäbe als den Erfrierungstod. Im Schnee einschlafen, erstarren und nie mehr erwachen. Was sollte er sich weiter quälen? Nur ein Plätzchen wollte er finden, wo der Sturm ihn in Ruhe ließe. Hinter einer Felsenkante war der Schnee mannshoch angeweht. Er begann sich eine Mulde auszuwühlen, um sich darin zur Ruhe zu legen. Da ertastete er unterm Schnee etwas Festes und legte es bloß. Es war eine emporragende Menschenhand. ›Mein Gott!‹ rief er aus, ›da ist ja ein armer Mensch in Gefahr zu erfrieren! Den muß ich retten.‹ Er legte den Verunglückten bloß, es war ein junger Mann in seinen Jahren. Er drückte das Ohr an seinen Mund und horchte. Ihm war, als vernähme er ein leises Atmen. Da begann er, ihm die Handflächen mit Schnee zu reiben, dann die Schläfen. Er rüttelte ihn, er lauschte seinem Atem und fuhr fort, ihn zu reiben. Da vernahm er ein Pusten hinter sich, und erblickte einen großen zottigen Hund mit einem kleinen verspundeten Holzfäßchen am Halsband. Das Tier stieß ein Freudengebell aus, dann ein langgedehntes Geheul, als riefe es um Hilfe. Angelockt vom Rufe, stapften zwei Brüder vom Orden St. Bernhard durch den Schnee, fanden die beiden Wanderer und brachten sie ins Hospital. Am nächsten Morgen setzten die beiden Geretteten bei gutem Wetter ihre Wanderung gemeinsam fort, wer von uns, ihr lieben Brüder, so schloß der Erzähler, je einen Mitmenschen in Gefahr sehen wird, der wird nicht säumen, ihm zu helfen; und wäre er selbst auf dem Wege des Verderbens, er würde sich selbst retten, wenn er es versuchte, den andern vor dem Verderben zu bewahren.‹ – Mutter und Agi! Diese Geschichte hat mir die Augen aufgemacht. Gedankenlos hatte ich bisher alles Gute von Euch hingenommen. Jetzt verstehe ich Euer Leben: weil Ihr den Vater und mich nicht wollt zugrunde gehen lassen, arbeitet Ihr über Eure Kräfte. Damit rettet Ihr nicht nur uns, sondern auch Euch, obwohl Ihr nicht an Euch selbst denkt. – Und wenn ich einmal Doktor bin, dann werd' ich vielen Menschen helfen können.

Noch etwas: Am Abend nach der Übersiedlung sind mir auf der Laute zwei Saiten gesprungen. Und ich möcht' so gern spielen, wenn ich nur Geld auf Saiten hätt'.

Es grüßt und umarmt Euch

Euer dankbarer
Koja

 

Als Agi zu Ende gelesen hatte, nahm sie ihre Näherei mit erneutem Eifer vor. Zur Mutter sprach sie mit Zuversicht: »Gelt, Mutter, er geht uns nicht zugrund? Ihm schlägt ja alles zum Guten aus, selbst was er im Spiel gelernt hat, hilft ihm, die Not zu überwinden. Da hat er als Bub einen Maulwurf ausgestopft; es war eine Walze, von Kunst keine Spur. Und jetzt verdient er sich seinen Lebensunterhalt als Helfer beim Präparator!« – »Wenn er nur schon sein eigenes Kabinett hätte,« warf die Mutter ein. – »Das bekommt er, sobald ich die Aussteuer geliefert hab'. Und den Herkuleskäfer und die Saiten bekommt er auch und ein Buch, das ihm wieder weiter vorwärts hilft, so wie der Martin. O Mutter, wie freu' ich mich diesmal auf Weihnachten! – Sag, Mutter, gibt's eine größere, gibt's eine schönere Freud', als arbeiten, um die Augen anderer in Freuden leuchten zu machen, Augen, die geweint haben vor Hunger und Leid?«

»Nein, mein Kind, es gibt keine größere Freud', als andern das Leben schön machen. Und wüßten das die Menschen alle, das ganze Leben wär' anders, es wäre der Himmel auf Erden!« so die Mutter. – »Und Koja wird das auch noch von Dir lernen – und dann wird von ihm der Segen Deiner Liebe zurückwirken auf uns.« – »Und auf viel andre.« –


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