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Der Zusammenbruch.

Aus der landwirtschaftlichen Beschäftigung herausgerissen, verfiel Lorent sichtlich. Die Tränensäcke unter seinen tiefliegenden Augen hingen dunkel und faltenreich herab, die Wangen wurden schlaff, die Gesichtsfarbe nahm einen gelblichen Ton an. Der fremde Arzt, den Agi kommen ließ, verordnete ihm das Trinken von Karlsbader Wasser und danach Spaziergänge. Den Genuß von Alkohol untersagte er ihm ganz. Lorent, dem ein Gang am Wirtshaus vorbei eine Qual war, und dem Agi keinen Kreuzer Taschengeld gab, verzichtete auf die Spaziergänge und verbrachte die meiste Zeit hindämmernd oder schlafend auf dem Diwan im großen Wohnzimmer.

Wenn aber Agi nach Feierabend sich zu ihrem Studium setzte, pflegte der Vater neben ihr Platz zu nehmen, scheinbar, um im Lichtkreise ihrer Lampe zu lesen, in Wirklichkeit aber, um mit ihr zu plaudern. Mit der Hartnäckigkeit eines Kranken, der von einer fixen Idee beherrscht wird, fing er immer wieder davon an, wie sie sich denn das denke, daß er endlich zu seinem Grundstück käme und zu seiner Hütten – so nannte er sein Haus der Sehnsucht. Und so oft er sie ansprach, mußte Agi ihr Studium unterbrechen und ihm ihre Pläne auseinandersetzen zum weiß Gott wievielten Male. Alle Schwierigkeiten stellte sie als leicht überwindlich dar und machte das Unwahrscheinliche glaubhaft, um nur wieder etwas Ruhe zu haben. Aber sie verhehlte ihm nicht, daß es ja noch an Barmitteln fehlte. In der Sparkasse hatte der Vater erst eintausendneunhundertundsechzig Gulden liegen. – In Agis Schläfen hämmerten die Pulse vor Ungeduld; sie hatte ja jedem Abend eine bestimmte Anzahl von Seiten zugemessen und je öfter sie abgelenkt wurde, desto länger mußte sie aufbleiben.

Da verfiel sie auf den Gedanken, den Vater zu beschäftigen. Sie sprach in einer Kartonnagewarenfabrik vor und brachte dem Vater Heimarbeit. Aus dünnen Kartons und Glanzpapier sollte er mit Hilfe zweier Hartholzmodelle, eines Messers, eines Lineals und eines Kleisterpinsels Medikamentenschächtelchen herstellen und für Tausend Stück zwei Gulden vierzig Kreuzer bekommen. Während sie ihm die Handgriffe vormachte, die sie in der Fabrik gesehen hatte, rechnete sie ihm vor, wieviel er in der Stunde, wieviel im Tag verdienen, wieviel Taschengeld er haben könnte, welcher Betrag in die Sparkasse kommen sollte. – Damit hatte sie ihn gewonnen. Aber es dauerte geraume Zeit, bis die unbeholfenen Hände des früh alternden Mannes sich in die Vorteile rhythmischer Bewegungen eingewöhnt hatten, die ein glattes Fortschreiten der Akkordarbeit ermöglichten. Dann aber arbeitete er mit einer Ausdauer, die ihn manchmal vergessen ließ, daß ihm die Pfeife ausgegangen war. Koja, der die meiste Zeit in der Schule und bei seinen Privatschülern zubrachte, sprach mit den Seinen nur mittags und abends und da nicht viel, da er seine Mahlzeiten in seiner Stube einnahm. Manchmal schrieb er lange Briefe nach Nierding, denen er kleine Gedichte fürs Klärchen beilegte; es waren meist jambische Vierzeiler, die sich singen ließen. Und so oft ihm ein Liedchen gelungen war, suchte er Agi auf; sie mußte es hören, beurteilen, bewundern. Und die gute Schwester tat ihm den Gefallen, wenn sie auch unbemerkt nach der Uhr schielte. Nur wenn er mitten in der Nacht mit der Laute herüberkam, um ihr das Neueste vorzusingen, pflegte sie ihn zu mahnen: »Pst, leise, Mutter und Rudi schlafen.«

Ins Studium der Schwester mengte er sich mit keiner Frage; er nahm es nicht ernst. Da er die Mutter immer still heiter sah und sie ihm auch regelmäßig ein belegtes Brötchen zusteckte, wenn er aus dem Hause ging, war er der Meinung, daß es daheim an nichts fehlte. In seiner Sorglosigkeit behielt er von den Stundengeldern so viel zurück, daß er doch sein gewohntes Bier trinken konnte.

Agi, die beim Fortschreiten im Studium den Mangel an Anschauung und Übung immer peinlicher empfand, sah ein, daß sie ohne fremde Hilfe ihr Ziel nicht erreichen konnte. Durch Vermittlung einer Kundin, der Frau des Bürgerschuldirektors Jaksch erreichte sie zunächst, daß sie an Sonntagen im Lehrmittelzimmer der Schule sich die Naturalien, Apparate und Chemikalien anschauen und ein wenig experimentieren konnte. Mit Hilfe des Schul-Harmoniums übte sie die Lieder ein, die sie für die Prüfung brauchte. Dabei kam ihr das wenige, was sie einst in Pöchlarn im Klavierspiel gelernt hatte, wohl zustatten. Vom Direktor, der ihr mit seltener Güte an die Hand ging, entlieh sie sich Zeichnungen und Schönschriftblätter, die sie daheim mit viel Mühe und sehr ungleichem Erfolg nachmachte, um sie der Prüfungskommission vorzulegen. Immer mehr von Schlaflosigkeit geschwächt, aber mit einer wahnartigen Willenszähigkeit an ihrem Vorhaben festhaltend, unternahm sie es, sich auch mit dem Turnen vertraut zu machen. Zweimal in der Woche besuchte sie einen Abendkurs, der in der Bartensteingasse, ganz in der Nähe des Rathauses für bereits wirkende Lehrerinnen eingerichtet war. Weder ihr selbst noch ihrer Mutter kam ein Bedenken, daß die Turnerei bei ihrer unzureichenden Ernährung über ihre Kräfte gehen könnte. Hatte sie doch in ihrem Leben noch niemals versagt. Sie turnte ungeachtet der körperlichen Müdigkeit, die sie vom Geschäfte mitbrachte, von halb acht bis neun Uhr abends im schmucken, selbstgenähten Turnkleide, das ihr Selbstvertrauen hob. Aber beim Arbeiten an den Kletterstangen vermochten ihre Muskeln den Körper nicht zu heben, beschämt mußte sie, trotz geleisteter Hilfe, von unten zusehen, wie flink die jungen Lehrerinnen bis zur Turnsaaldecke emporkletterten. Noch schlimmer ging es ihr am Barren und am Reck. Ihre Arme knickten im Stütz ein und versagten bei jedem Aufzug den Dienst. – Nach jeder Turnstunde schlich sie erschöpft ganz nahe an den Häusermauern hin, wankend wie eine Trunkene. Der Glaube an die Allmacht ihres starken Willens, der bisher noch immer jedes Hindernis besiegt hatte, wurde von einem zum andern Mal schwächer, ihre Hoffnung auf eine Steigerung der Körperkräfte erfüllte sich nicht. Der Weihnachtsabend kam. Koja hatte sich's bequem gemacht: um sich alles Kopfzerbrechen zu ersparen, hatte er der Schwester zehn Gulden eingehändigt, für die sie sich etwas kaufen sollte, was ihr lieb wäre. Und sie hatte das Geld zu ihren Ersparnissen getan und daraus Geschenke bereitet für alle. Aber ihre Lust an der Freude der anderen war matt, kaum daß Rudis Jubel über seinen Eisenbahnzug ihr ein Lächeln abrang, als seine von einer Uhrfeder getriebene Maschine die kleinen, schmuck lackierten Waggons rasselnd über den Stubenboden hinzog. – Sie zeigte keine Freude darüber, daß Urban sich zum erstenmal mit einem Weihnachtsgeschenk eingestellt hatte. Sie schien die Knospen der Christrosen kaum zu sehen, die mit ihren dunkelgrünen, handförmigen Blättern aus schwellendem Moose ragend, vor ihr in dem Rindenbehälter standen.

Der Winter verging den Geschwistern allzu rasch. Je näher die Prüfungen heranrückten, desto weniger Kümmerte sich eins ums andere. Beide arbeiteten sich einen neuen Wellenberg empor, beide behindert durch die Tagesmühen, beide die Nächte opfernd.

Aber an Koja war eine Ermüdung nicht zu merken. Etwas blässer als zu Anfang des Schuljahres, aber vollwangig, erschien er immer heiter, so oft er daheim eintrat; denn öfter als je stärkte er sich unterwegs durch einen raschen Trunk. Agi aber war merklich abgemagert, ihre Backenknochen traten unschön hervor, in ihren tiefliegenden Augen war ein flackerndes Leuchten, und ihre raschen Bewegungen beim Gehen und Arbeiten hatten etwas Erzwungenes. Sie hatte ihre Zulassung zur Reifeprüfung in Händen. Und die hatte sie mit Tränen erkämpft. Der Amtsarzt hatte ihr wegen allgemeiner Körperschwäche die Tauglichkeit zum Lehrberuf absprechen wollen. Er hatte dann nur ihrem Bitten nachgegeben, als sie ihn versicherte, nach bestandener Prüfung nicht in Wien zu bleiben, sondern eine Stelle auf dem Lande anzunehmen, wo sie sofort eine Milchkur beginnen wollte. Der Turnkurs ging zu Ende. Zum letzten Male machte Agi den Weg von der Wieden über den Naschmarkt und durch die Parkanlagen, in denen die Robinien ihren betäubenden Duft in die staubgesättigte Atmosphäre der Großstadt hauchten. – Und schwüle war es im Turnsaal. Aber fröhlicher denn je waren Agis Turngenossinnen. In allen war die Vorahnung der Ferien, während sie in Gruppen an den Geräten standen, flüsterten sie von ihren Reiseplänen. – In der Barrenriege stand Agi, mit äußerster Anspannung ihrer Aufmerksamkeit das Spiel der Armmuskeln der Turnerinnen beobachtend, die nach kräftigem Schwingen im Stütz mit hohlgebogenem Rückgrat über die rechte Barrenstange abhurteten und mit leichter Kniebeuge elastisch auf den Boden sprangen. Sie trat zur Übung an, hielt sich mit dem Aufgebot ihres starken Willens gut im Stütz, schwang vor und zurück; da knickten ihre Arme ein, und ehe die zur Hilfe bereitstehende Lehrerin zugriff, fiel Agi vornüber und blieb regungslos auf der Ledermatratze liegen. Es gelang dem Kursleiter nicht, die Ohnmächtige durch Besprengen mit Wasser zum Bewußtsein zu bringen. Erst als eine der Lehrerinnen, die beim Abhorchen keinen Herzschlag wahrgenommen hatte, mit der Faust Agis Herzgegend bearbeitete, begann sie zu atmen, öffnete die Augen und starrte wie geistesabwesend in die erschrockenen Gesichter der Umstehenden. Sie dachte nur einen Gedanken: Alle Quälerei war umsonst gewesen; die Prüfung würde sie nicht bestehen.

Als sie, von zwei Lehrerinnen, die sie in einem Einspänner heimgebracht hatten, geführt, über die Schwelle ihrer Wohnung trat, erschraken alle über die Ausdruckslosigkeit ihrer Züge. Ihre Begleiterinnen erzählten, was vorgefallen war. Agi suchte ihr Lager auf und verfiel sofort in tiefen Schlaf. Unberührt blieb neben ihr auf dem Sessel das Abendmahl. Am nächsten Morgen stand sie nicht auf. Als die Mutter sie fragte: »Sollen wir zur Frau Schmidt schicken, daß du heut' nicht kommst?« gab sie zur Antwort: »Laßt mich – ich – kann – nicht – mehr.« –

Koja rannte um den Kassenarzt. Der ging gleich mit ihm. Nach eingehender Untersuchung erklärte er, die Kranke habe beim Sturz vom Gerät keinen Schaden erlitten, sie bedürfe nur der Ruhe und kräftiger Nahrung, Milch, Eier, Geflügelsuppen. Sie sei hochgradig blutarm. Dann begann er die Mutter auszufragen, wie das Fräulein genährt worden sei. Und Koja erfuhr, was er nicht gewußt hatte: auf Fleisch hätte es nur für den Vater und ihn gelangt; Mutter, Tochter und Rudi hätten nur von dünnem Kaffee, Brot, Kartoffeln und etwas Gemüse gelebt. Mit ihren Tränen kämpfend, erzählte die Mutter dem teilnahmsvoll lauschenden Arzte von Agis Studien, von ihrem Arbeiten für die Familie, von ihren Opfern; und mit gefalteten Händen flehte sie ihn an, ihr die Tochter zu retten.

Der Arzt verließ mit Koja das Haus. Auf der Gasse sprach er zu ihm: »Ich habe oben gesagt Blutarmut; wir Ärzte bezeichnen diesen Grad der Krankheit als Anämie, d. h. Blutleere, wenn ich Sie, junger Mann, mit ihrer Schwester vergleiche, so muß ich sagen, Sie sind wohlgenährt auf Kosten Ihrer Schwester. Die Sache steht so: Ihre Schwester gehört zu den willensstarken Frauen, die in einem schwächlichen Organismus einen stählernen Willen haben. Sie ist zu vergleichen mit einem fast zu Tode gehetzten edlen Rennpferd, das unterm Einfluß einer dämonischen Zielstrebigkeit alle Kraft aufbietet und sollte es am erreichten Ziele verenden. Ihre Schwester ist vor dem Ziele zusammengebrochen.« – »Ist sie lebensgefährlich krank?« warf Koja ein, von der Offenheit des Arztes erschüttert. »Lebensgefährlich!« sprach der Arzt ernst und laut, »was Ihre Schwester gestern vom Barren stürzen machte, war ein Kollaps, ein Zusammenfallen, plötzliche Herzschwäche. Wenn sie nicht an fortschreitender Schwäche in wenig Monaten sterben soll, dann muß sie durch oftmaliges Einflößen von kleinen Mengen Milch, die mit echtem Bohnenkaffee oder mit Tee schwach versetzt sein kann, genährt werden; dann soll sie Geflügelsuppe, Geflügelfleisch, halbrohe Beefsteaks, viel Eier und immer wieder Milch bekommen. Vielleicht gelingt es, sie in einem halben Jahr wieder auf die Beine zu bringen. – Ich werde nicht oft kommen. Mit Medikamenten ist da nichts zu machen. Sie werden mir wöchentlich einmal Bericht erstatten, wie es der Kranken geht, an der ich Anteil nehme als Mensch, der vor einem sittlich hochwertigen Menschen Achtung hat. Es laufen so viel Minderwertige gesund und wohl ausgefüttert herum; die hochwertigen sollten erhalten bleiben.« Als der Arzt sich verabschiedet hatte, setzte Koja seinen Weg zur Schule nicht fort. – Von Gewissensbissen gepeinigt, machte er kehrt. Die Mutter fand er in der Küche. Sie war verweint. Da flüsterte er ihr zu, daß es die Kranke nicht hören sollte: »Mutter, Mutter, Dir sag' ich's und der Herrgott hört mich. Ich bin schuld daran, daß unsere Agi, die Starke, die Liebe, die Gute, zusammengebrochen ist. Was ich vom Vater hab', wogegen ich hätte ankämpfen sollen, das ist's. Ich hab' die ganzen Jahre her nur an mich gedacht, hab' Bier getrunken, während sie gehungert hat bei ihrer täglichen Überanstrengung. – Aber der Arzt sagt, daß sie am Leben bleiben wird, wenn wir sie gut nähren. – Ich werde verdienen, verdienen für uns alle und kein Kreuzer wird daneben gehen. Ich vergesse im Leben nicht, was gestern geschehen ist.« – Da zog die Mutter den Kopf des Sohnes an ihre Brust: »Ich glaub' an Dich, mein Koja, sei ruhig und bleib' fest. Es wird noch alles gut werden! – Es hat so kommen müssen, sonst wärest du nicht zu dir gekommen. Du wärest wie ein Nachtwandler auf dem gleichen Weg weitergegangen, auf dem dein Vater zugrunde gegangen ist; denn zugrunde gegangen ist er, wenn er auch noch lebt.«

Koja konnte nicht warten, bis am nächsten Ersten seine Stundengelder einliefen. Er mußte Bargeld ins Haus bringen, das von einem Tage zum andern nötig war. wieder trug er ins Leihhaus, was an bescheidenem Schmucke da war, und zahlte mit dem erborgten Gelde bei der Wiener Molkerei die Milch für Agi auf eine Woche voraus. – Als abends alles ruhig war, schrieb er einen Brief an Urban, worin er ihm klagte, daß Agi hochgradig blutarm und herzkrank sei. – Er ahnte nicht, daß er damit im Freunde vielleicht eine Hoffnung zerstörte. Dann suchte er aus seinen Versteinerungen die schönsten Stücke aus, von denen er sich nie hatte trennen wollen und verkaufte sie am nächsten Tage in Lehrmittelhandlungen. Wenn auch der Erlös nur siebenundzwanzig Gulden betrug, erzielte Koja eine ungehoffte Nebenwirkung: Er bekam Bestellungen. Der Lehrmittelhändler Pichler brauchte Fossilien des Wiener Beckens, und der Naturalienhändler Abraham hatte eine solche Stauung von getrockneten Tierbälgen, die aufgeweicht und ausgestopft werden sollten, daß er Koja versuchsweise als Ausstopfer in Anspruch nahm. Und als Koja das erste, wohlgelungene Stopfexemplar, einen Bilch, liefern ging, sprach ihn auf der Stiege seines Wohnhauses der Eisenbahnschaffner Hörl an und erkundigte sich nach Kojas Lohnansprüchen, von da an hatte Koja nicht nur für den Präparator zu arbeiten, sondern bekam durch Hörls Vermittlung auch Aufträge von Eisenbahnbeamten der Brünner Strecke, die als Ortsschulratsmitglieder ihrer Wohngemeinden jedes Kleintier für die Schulsammlung ausstopfen ließen, dessen sie habhaft wurden.

Schon in derselben Woche brachte Hörl einen Regenpfeifer, der sich im abendlichen Fluge an einem Telegraphendrahte totgestoßen und ein Wiesel, das ein Bahnwärter in der Rattenfalle gefangen hatte.

Eines Tages unternahm Koja einen Sammelgang nach den Tegelgruben der Inzersdorfer Ziegelwerke, um die von Pichler bestellten Congerien Congeria subglobosa, eine Muschel, Leitfossil, des unteren Pliozäns. zu suchen. Schon hatte er zwölf Stück der seltenen, zweischaligen Exemplare beisammen, und über dreißig einschalige, als er durch ein klägliches Miauen aufmerksam wurde, daß in einer benachbarten Lehmgrube eine Katze gequält wurde. Er überstieg den glitschrig feuchten Lehmwall und kam gerade zurecht, wie ein paar Buben durch Steinwürfe ein graues Kätzchen zu töten suchten, das sie im Grubenwasser hatten ertränken wollen, das aber die Schlinge mit dem Beschwerstein abgestreift hatte und schwimmend dem Ufer zustrebte. Koja nahm das soeben ans Ufer kriechende Kätzchen auf und schob das schlammtriefende, vor Kälte zitternde Tierchen zwischen Hemd und Weste. Dann packte er seine Funde ein, und trat den Heimweg an. Als er daheim das Kätzchen mit einem Tuche trocken gerieben und gebürstet hatte, setzte er es der kranken Schwester auf die Bettdecke. Jetzt fing das Kätzchen an, sich das graue Fell zu putzen. – Agi, die bisher für nichts Teilnahme gezeigt hatte, was um sie her vorging, sah lächelnd dem Tierchen zu, legte ihm dann die Rechte auf den Rücken und streichelte es sanft. Laut, als ob es ein Tamburinchen schlüge, begann das Kätzchen zu schnurren, leckte eifrig an seinen Pfoten fort und schonte auch mit seiner Raspelzunge Agis Finger nicht. Da lachte die Kranke hörbar auf, und der Ausdruck harmlosen Frohsinnes steigerte sich, als die Mutter mit einer Schale Milch kam, die das Kätzchen, ohne auch nur einmal aufzuschauen, auslappte.

Von da an trat in Agis Zustand eine merkliche Besserung ein, ihre Augen folgten in sichtlicher Freude den Bewegungen des anmutig spielenden Tierchens, das sich rasch mit Rudi befreundete. Agi nannte es in Erinnerung an eine Lieblingsgestalt aus einem Dickens-Roman, ihren Dearling, plauderte leise mit ihm und schlummerte mit ihm ein, sorglos wie in fernsten Kindheitstagen. Und das harmlose Freuen tat ihrem Herzen wohl. Es war ein Heilmittel, an das der gute Arzt nicht gedacht hatte.

Obwohl Koja vor der Reifeprüfung stand, arbeitete er als Präparator bis tief in die Nächte und brachte es bei Tage der Schwester zuliebe zusammen, daß er an jedem Wirtshaus vorbeikam, ohne einzukehren. So oft er ein Präparat ablieferte, bekam er bares Geld, das er der Mutter übergab. Und Agi fehlte es an nichts, was der Arzt verordnet hatte. Koja konnte ihm berichten, daß es der Schwester besser ging. Sechs Wochen später trat der von Schlafmangel merklich hergenommene Student die Reifeprüfung an. Nicht so gut ging es ihm, wie es seine Lehrer erwartet hatten; aber besser doch als manchem wohlbemittelten seines Jahrganges.

Das Reifezeugnis in der Hand, näherte er sich dem Lager der Kranken, die mit offenen Augen dalag. Aus Angst, die große Freude konnte ihr schaden, sprach er langsam, zögernd, leise: »Agi, – Agi, – ein Wunsch ist dir in Erfüllung gegangen, – magst du schauen?« Da wendete sie ihm das Gesicht zu. Und er hielt ihr das Zeugnis entgegen. Sie las es, und ein Hauch von Röte stieg in ihre Wangen. »Gott sei Dank!« kam es leise von ihren Lippen. – Da flüsterte ihr Koja zu: »Agi, liebe Agi, – ich danke dir!« Sie aber schien schon wieder zu schlummern. Plötzlich aber flüsterte sie dem Bruder zu: »Sag' dem Vater, daß du bald Doktor wirst, er kann nimmer lang warten.«

Am Abend saßen die Maturanten des Mariahilfer Gymnasiums mit ihren Professoren im kleinen Saal des Hotels Kummer bei der Maturakneipe. Vor dem Senior lag der blanke Schläger auf dem Tisch. Es stieg der Kantus: » Gaudeamus igitur, juvenes dum sumus.« Nur der Lustigste des Jahrgangs, der mit seiner Laute hätte kommen sollen, sang nicht mit, Koja fehlte.

Agi war gegen Abend vom Schlummer erwacht und hatte sich im Bett aufgesetzt: »Mutter, bitte, deck' den Tisch und schieb' ihn mir zum Bett; Kojas Matura muß gefeiert werden. Er soll uns das Gaudeamus singen.« Da war er daheim geblieben!

Am nächsten Tag ging Koja noch einmal ins Gymnasium, um seinen Lehrern zu danken. Er fand im Konferenzzimmer seinen Klassenvorstand Wallentin und den Deutschlehrer Dr. Haas beim Schreiben der Zeugnisköpfe. In seiner Mitteilsamkeit redete er ihnen von dem, was ihn in tiefster Seele erschüttert hatte, von Agis vergeblichem Warten auf eine Anstellung und von seiner Absicht, Medizin zu studieren. – Da sah ihm Wallentin über die Brille hinweg ins Gesicht und sprach in seinem Wiener Dialekt: »Ja, san S' denn no nit g'scheit? – Soll denn Ihre Schwester als Kranke so lang warten, bis Sie Doktor san? Ob Sie um ein Jahr später oder früher ihr Doktorat machen, das bleibt sich jetzt schon gleich. Aber ob Sie Ihrer Schwester jetzt das Leben anstückeln oder ob Sie's g'schwind zugrund' gehen lassen, das bleibt sich nit gleich.« Kojas Gesicht war rot geworden, er wollte etwas erwidern. Wallentin aber winkte ihm ab: »I hab' no net ausg'red't. Wissen S', was ich tät an Ihrer Stell'? – Ich ließ mich mit 'n Maturazeugnis als Unterlehrer in einem Dorf oder Städtel anstellen und nehmet die Schwester mit. Und wenn ich alles das könnt', was Sie können, ich mein', Viecher ausstopfen, Buchbindern und Stundengeben im Lautenschlagen, im Französischen, in Latein und weiß Gott in was noch, tät ich ein Jahrl lang oder länger, wenn's sein müßt, brav Geld verdienen und die Schwester mit Milch und Eiern recht herauspäpeln. Und wenn's dann gesund wär', tät ich ihr helfen, daß sie ihre Lehrerinprüfung machen könnt'. Und erst dann, wenn's frisch und munter auf ihrem Posten wär', ließ ich mich als Mediziner immatrikulieren. Schau'n S': wenn Sie Lehrer sind, machen Sie Ihren Militärdienst in den Ferien ab, verlieren keine Zeit und was die Hauptsache ist: Ihre Leut' verlieren die Hilf' nicht, die s' grad jetzt von Ihnen brauchen.« Da warf Dr. Haas, der Deutschprofessor ein: »Rückert sagt in den Makamen des Hariri:

›Und wo's nicht geht auf geraden,
Dort geh' getrost auf den Seitenpfaden‹.«

Mit vorgeneigtem Kopfe hatte Koja den Ratschlägen seiner alten Lehrer gelauscht. Er sagte sich, daß die Kranke nichts ahnen dürfte von seinem Abschwenken.

Professor Wallentin half ihm über alle Bedenken hinweg, indem er ungebeten an den Bezirksschulinspektor von Hietzing-Umgebung, mit dem er befreundet war, eine warme Empfehlung der beiden Geschwister Kajetan und Agathe Lorent schrieb, so daß er beiden den Weg ebnete. Nun mußte Koja zum Amtsarzte und dann reichte er sein Gesuch ungesäumt ein.

Wartend auf den Erfolg, war er wieder als Präparator tätig, damit es der Kranken an nichts fehlte. Langsam, aber merklich machte Agis Genesung Fortschritte. Sie fühlte sich von fürsorgender Liebe umhegt; da tat ihr die Ruhe so wohl. Zum erstenmal in ihrem Leben hatte sie Ferien.

So oft Koja der Mutter einen Geldbetrag ablieferte, war ihm der dankbare Ausdruck ihrer Augen eine Gewissensberuhigung. Frau Schmidt besuchte die Kranke ab und zu und brachte ihr Obst, das Agi den Brüdern überließ. Im Kleidersalon gab es jetzt fast nichts zu tun; die heiße Zeit, in der die besten Kunden in den Sommerfrischen weilten, war für die Schneiderinnen die » Saison morte.« Tote Zeit. Bald war Agi so weit, ohne Schaden auch einen Ärger zu ertragen. Der Pater hatte in der Fabrik wieder einmal seine Tausend Schachteln abgeliefert, war auf dem Heimweg schwach geworden und hatte sich wieder erst gründlich »gestärkt«. Angeheitert war er abends heimgekommen und hatte sich an Agis Bett gesetzt, um sie wieder mit seinen Fragen nach dem Grundkauf zu quälen. Als die Mutter ihn zu entfernen suchte, bat Agi: »Laß ihn, Mutter; es ist gut, daß mich der Vater in die Wirklichkeit zurückruft. Er beweist mir gerade, daß wir von hier fort müssen.« Diesmal blieb der Trunkene nicht lange sitzen. Von heftigen Schmerzen in der Nierengegend ergriffen, mußte er zu Bette gebracht werden.

Am nächsten Morgen stand Agi auf und erklärte sich für genesen. Sie schrieb an alle Bezirksschulräte, bei denen sie vor einem Jahre um die Stelle einer Handarbeitslehrerin eingereicht hatte, Briefe, die Koja als dringend aufgab. Im Verlauf einer Woche kamen drei Absagen. Dann aber brachte gerade zur Mittagszeit der Briefbote gleich zwei amtliche Briefe anderen Inhalts: Agathe Lorent sollte am 15. September als Handarbeitslehrerin in Gießhübel antreten und Kajetan war als Aushilfsunterlehrer für Perchtoldsdorf bestellt. – Jetzt erst erzählte Koja der Schwester, was Professor Wallentin zu ihm gesprochen, und wie er sich für ihn und Agi eingesetzt hatte. – Und sie nahm sein Abschwenken ruhiger auf, als er befürchtet hatte. Über die Landkarte gebeugt, freuten sich die Geschwister darüber, daß die Gemeinden, in denen sie ihr Lehramt ausüben sollten, kaum eine Wegstunde voneinander entfernt waren. Und Gießhübel lag im Jurakalk. – Im Geiste wurden den Schauenden die Schraffen der Karte zu bewaldeten Höhen, deren Rebengelände sich sanft niedersenkten zu den Wiesen, Feldern und Gärten der Ebene. – Und sie suchten nach einem Plätzchen, wo sie am liebsten ihr bescheidenes Haus der Sehnsucht errichtet hätten, auf sonnigem Hange sollte es liegen und sollte weiten Ausblick gewähren ins arbeitgesegnete Land. –

Der Vater hatte gespannt dem Gespräch der Kinder gelauscht. Er kleidete sich zum Ausgehen an, und Agi mußte mit ihm gehen, das Geld von der Postsparkasse beheben zum Grundkauf. Aber so eilig er's auch hatte, es mußte die Kündigung des Betrags eingereicht werden, und erst vier Tage später sollte er wiederkommen, um das Geld zu beheben. Indessen fuhr Koja nach Perchtoldsdorf und stellte sich dem Obmann des Ortsschulrats vor.

AIs Vater Lorent sein Geld abholte, bestand er eigensinnig darauf, daß ihm der Beamte den Betrag in Silber und Gold auszahlte. – Nur mit Agis Hilfe vermochte er die Diensttasche mit den vielen Münzen heimzubringen. Als er daheim zu Bette gebracht wurde, fand sich, daß ihm die Beine bis zu den Knien angeschwollen waren. – Der Arzt verordnete ein Mineralwasser; und die Beine mußten hoch gebettet werden. Als der Vater zu schlafen schien, fragte Agi flüsternd den Bruder: »Wann könnten wir nach Gießhübel fahren oder gehen?« – »Morgen nachmittag, ich mach' mich frei,« gab Koja leise zurück. Da meldete sich der Kranke: »Nehmt das Geld mit und kauft gleich den Grund.« – »Ja, Vater, sei nur ruhig, wir kaufen den Grund.« –

Beim Abendmahl sprach Agi zum kleinen Brüderchen, das sie sich auf den Schoß gesetzt hatte: »Jetzt wirst du's schön haben. Henderln im Hof und einen Kikerihahn und Blumen auf der Wiese und liebe kleine Vogi; die werden singen!« – Da ließ die Mutter ihr Bedenken hören: »Aber mit zwanzig Gulden im Monat bist du eigentlich nicht glänzend gezahlt, liebe Agi.« – »Das ist ja nur das ganz Sichere; auch Wohnung und Beheizung gehört dazu. Bedenk' doch, Mutter: die Kinder werden mich lieb haben, alle Mütter werden mich kennen, Kundschaften werde ich haben; ich bin doch jetzt eine ausgelernte Kleidermacherin. Da verdiene ich mit der Nadel leicht fünfmal soviel, als der Gehalt beträgt.« – Koja aber widersprach: »Agi, du sollst es nimmer nötig haben, dich durch nächtliche Arbeit zugrunde zu richten. – Ihr könnt Euch jetzt auf mich verlassen. Ich hab's endgültig gelernt, am Wirtshaus vorbeizugehen.

Am nächsten Tage fuhren die Geschwister mit dem ersten Nachmittagszuge vom Südbahnhof weg nach Brunn am Gebirge, von wo sie zu Fuß weiter wollten. Koja hatte trotz der Abmahnung der Mutter die Tasche mit allem Gelde bei sich. Der Kranke hatte es so gewollt. Er hatte darauf bestanden, sie sollten in seinem Namen gleich ein Grundstück beangaben. Daß daheim der Vater siech darniederlag, daran dachten die Geschwister jetzt nicht. Im hellen Reisefrohsinn saßen sie behaglich Schulter an Schulter am offenen Fenster. Der laue Gegenwind spielte mit Agis Löckchen, die von silberig glänzenden Haaren durchzogen waren, aber ihr Gesicht war jugendlich. Sie saßen an der rechten Seite des Zuges, den Bergen zugekehrt. Sie fuhren durch die Ebene dahin, an den rauchenden Fabrikschlöten von Atzgersdorf und Liesing vorbei, zwischen Wiesen und Ackerbreiten. Ihre Augen folgten der Wellenlinie der Wiener-Wald-Berge im Westen und suchten aus der Generalstabskarte, die Koja aufgeschlagen hatte, die Namen der Berge und Orte zu bestimmen. Am Fuße des Parapluieberges lag das malerische Perchtoldsdorf mit seiner Schloßruine an der Kirche und dem weit höheren Glockenturm, dem Wahrzeichen aus der Zeit der Türkeneinfälle. Und im Südwesten hoch oben zeichnete sich ein spitzer Kirchturm vom wolkenlosen Himmel ab; auf dem Kamm des bewaldeten Bergzuges lag Gießhübel.

Als sie die Straßenbahn verließen und überm Brunner Felsenkeller zwischen den Weingärten emporstiegen, merkte Koja wohl, daß Agis Arm immer schwerer und schwerer auf dem seinen ruhte. Aber unentwegt setzte sie Fuß vor Fuß. In ihrer zähen Überwindung der Müdigkeit war etwas Sinnbildhaftes, vor sich oben an der Kante der ersten Bodenstufe sah sie einen mächtigen Kastanienbaum mit einem Kreuz davor. Dort erst wollte sie rasten.

Als die Geschwister im Schatten der tief herabreichenden Äste ausruhten, waren sie beide ergriffen von der Lieblichkeit und Großartigkeit des reichen Landschaftsbildes unter sich. Ganz im Norden lag das Häusermeer Wiens; Türme und Kuppeln ragten aus dem Kaab, Dunstschleier. von dem der Wind eine mächtige graubraune Flagge hinübertrug aufs Marchfeld. Den Hintergrund der Großstadt aber bildete der breit hingesetzte Bisamberg und das dunkel bewaldete Kahlengebirge. Im Vordergrunde lugte aus einer Bucht des ehemaligen Meeresbeckens das malerische Perchtoldsdorf. Im fernsten Osten begrenzte das Leithagebirge mit seinen weißen Steinbrüchen das Gesichtsfeld. Nach Süden zu überschnitten die nahen Nebenhügel die Vorberge des Aningers, aus deren Waldesgrün mehrfach ruinenhaftes Steingemäuer aufragte. Da ergriff Agi des Bruders Rechte: »Koja! versteh' die Bedeutung dieser Stunde recht: wir haben einen neuen Wellenberg erklommen, aber noch nicht den hohen Strand. Dort unten im Westen des Häusermeeres, wo die Zinskasernen öde Gassen bilden, haben wir gegen das Verhungern gekämpft, und drüben am Leithagebirge liegt dein Capua; dort ist es dir so gut gegangen, daß du ein schwächlicher Selbstling wurdest. Nicht weit davon ist Mannersdorf, wo ich an Demütigung und Enttäuschung mehr gelitten hab', als du erfahren hast. Und all das liegt unter uns, es ist überwunden. Das Schicksal hat uns gehoben.« »Das Schicksal, sagst du?« warf Koja ein. »Dein starker Wille, der auch meine Kraft geweckt hat, hebt uns empor und wir werden oben bleiben.« – »Du und ich, Hand in Hand, wir werden noch eine andere Höhe erreichen, zu der die erreichte nur eine Vorstufe ist. – Über jetzt gehen wir, in Gießhübel wollen wir wieder rasten!« mahnte Agi. Als sie den Friedhof von Gießhübel an der Hochleiten erreichten, blieb sie schwer atmend stehen. Sie ließ den Blick in die Runde schweifen. Reicher durch die besonnten Ährenfelder des Vordergrundes, lag das Gelände vor ihr, durch das die Serpentinenstraße von Perchtoldsdorf emporzog. Hoch in der Luft sang eine unsichtbare Lerche im Steigen. Grillengezirpe scholl aus den besonnten Wiesen. Da lud jenseits der Straße der offene Garten eines einsamen Gehöftes die Geschwister ein, im Schatten des Hauses zu rasten. Der Hofhund schlug an und ein altes Weiblein begrüßte die Ankömmlinge. Koja erwarb von der Greisin eine Schüssel Ziegenmilch und etwas Brot. Als sich die Geschwister am Tische im Hofe zum erquicklichen Mahle setzten, sprach Agi leuchtenden Auges aus, was sie leise empfanden: »Hier wäre gut bleiben.« Der Blick über den Zaun hinweg in die Hinterbrühl war entzückend. Wie ein Dornröschenschloß ragte im Osten die hochstrebende Veste Liechtenstein aus gemischtem Hochwalde auf; tief unten im langgestreckten Tale, das den Fuß des mächtigen Anninger-Massives umfaßte, stand eine verfallene Burg auf bachumflossenem Hügel, die Römerwand. Und aus dem Föhrendunkel der jenseitigen Berglehne grüßte eine lichte Burgruine mit hohen Saalfenstern herüber; Koja sah in die Karte: »Die Burg Mödling – einst Lieblingsaufenthalt der Babenberger, an deren gastlichem Hofe Walther von der Vogelweide und Ulrich von Liechtenstein gesungen hatten.« Und die schmucke Säulenhalle darüber auf dem Kamm des Brenntenberges ist der Husarentempel, ein Denkmal für gefallene Helden.« Als das alte Bauernweiblein sich neben Agi setzte, ließ Koja die Schwester zurück und marschierte auf Gießhübel zu. Er ging als Kundschafter voraus. Agi machte sich mit der Bäuerin bekannt: »Mein Bruder ist Lehrer in Perchtoldsdorf; er heißt Kajetan Lorent; wir sagen Koja; mich rufen die Meinen Agi; und ich bin jetzt die neue Handarbeitslehrerin in der Gießhübler Schul'.« – »So, so; Sö san die neuche Strickfräuln? – Und mi hoaßens die Goaß-Waberl. Kosenname für Barbara. Seit mein Bub in Bosnien unt' g'fall'n ist, steht der Kuahstall leer. Mein Mann – Gott hab' ihn selig – wollt' a Sommerwohnung draus machen für die Wiener; aber ehvor er mit'n Bodenlegen angfangt hat, is er g'storben.« Agi nickte nachdenklich. – Aber schön hab'n Sie's da! Hier möcht' ich wohnen.« – Die Alte ließ mit Wohlgefallen ihre Augen auf Agis Antlitz ruhen. »Wär' m'r aa liaber, als alloan hausen. Im Winter, wann die Goaßen trocken stengen, Keine Milch geben. is arg. Ma' lebt von lauter Einbrennsuppen und Erdäpfel. Und wann ma' krank wird und hat neamd um oan, der an'm a Handreichung tuet, und der's Viech betreuet, da is rein zum Verzagtwerden.« Als Agi ihre Jause beendet hatte, ließ sie sich von der Goaß-Waberl das Anwesen zeigen.

Es war arg verwahrlost. Im Kartoffelacker wie im Hausgarten stand das Unkraut üppig, und hochrankende Windlinge würgten die Reben des Weingartens. »I kann's halt nimmer dermachen,« entschuldigte sich die Alte. Dann führte sie Agi in den verlassenen Kuhstall, in dem Bürdelholz untergebracht war und von da in die ebenfalls leere Futterkammer, und schließlich durch die verräucherte Küche in die geräumige Wohnstube, deren kleine, spinnwebverschleierte Fenster wohl seit Jahr und Tag nicht geöffnet worden waren, von da gelangten sie in eine einfensterige Kammer, die mit allerlei Gerät angefüllt war. »Das wär' mein Austragstübel geworden, wenn unser Fränzel das Häusel übernommen hätt'.« Im Hof zeigte die Alte auf einen Stoß zölliger Bretter, die einseitig gehobelt waren. »Da liegt der Boden für die Sommerwohnung; aber mi g'freit nix mehr. I hab' kein Anhang; ja, wann mein Franzel noch lebet! Der hätt' g'heirat' und ich wär' im Ausgeding.« Dann schloß sie den Ziegenstall auf. »I muaß jetzt a wengerl austreiben.«

Agi gab ihr das Geleite hinaus auf die Hutweide; des Vaters schwere Diensttasche schleppte sie mit sich. Die Goaß-Wabi setzte sich auf einen Wegrand und sah den Ziegen zu, die sich beim Weiden gut beisammen hielten. In Agi war eine Stimme erwacht, die ihr immer deutlicher zuraunte: »Ergreif' die Gelegenheit! erwirb das Gütlein! der Alten wär' geholfen und dir und den Deinen.« Da setzte sie sich neben die Greisin und fragte ohne Umschweife: »Möchten S' bei uns im Ausgeding sein, wann wir das Häusel kaufen täten?« – »Das is's ja eben, was i möcht'. Im Ausgeding leben möcht' i; i hab' mir ein paar sorglose Jahr' verdient. – Aber da wären nach'n Tod von meinem Mann zwei Käufer dag'wesen, der eine hat sechzehnhundert Gulden geboten, der andre achtzehnhundert, nur für den Grund. Ein jeder hat g'sagt, die alte Hütten wär' nur zum Z'sammenreißen, daß neu gebaut werden könnt'; jeder hat wollen a neumodische Villa hinstellen, und keiner wollt' mich ins Ausgeding nehmen. Ich aber wär' mit zwölfhundert zufrieden gewesen, wann's mir mein Austragstübel gelassen hätten und den Goaßstall. Mein Gott, soll i denn in mein'n alten Tagen der Gmoan' zur Last fallen?« Sie wischte sich mit dem Schürzenzipfel die Augen.

In steigender Erregung hatte Agi gelauscht. Günstiger, als sie gehofft hatte, war die Gelegenheit. Dann sprach sie langsam, ihre große Freude mühsam verbergend: »Liebe Frau, wenn ich Sie anschau', muß ich an meine Großmutter denken, die alte Sonnleitnerin, die vor Jahren verstorben ist; und wenn's dazu kommt, daß wir mit Ihnen hausen, dann sollen sie von uns so gehalten sein, wie unsere leibliche Großmutter.« Damit erhob sie sich und ging in den Hof zurück. Der Hund empfing sie freundlich und geleitete sie bis zum unteren Zaun. Sie stützte die Arme auf das Polsterholz. Mit offenen Augen und offener Seele nahm sie das reiche Bild der malerischen Landschaft in sich auf. Gab's in der Wachau, gab es im vielbesungenen Rheingau schönere Gegenden als die Landschaft, die sie vor sich sah, an der sie täglich sich erfreuen sollte, wenn sie hier hauste mit ihren Lieben? Die Westseite des Husarentempels war blaßrot beleuchtet von der sinkenden Sonne, im nahen Weinberg ließ eine Sing-Zikade ihren hohen langhingehaltenen Ton vernehmen. Ein wohltuender Friede lag über der Landschaft. Koja ließ lange auf sich warten. Die Sonne sank hinter den Waldbergen inmitten goldig geränderter Wölkchen, von nah und fern klangen die Abendglocken, die Goaß-Wabi trieb ihre Herde heim.

Da kam endlich Koja. In den Armen schleppte er einen Ammoniten aus rotbraunem Kalkstein, größer als eine Suppenschüssel. Mit dem Oberlehrer hatte er den Bürgermeister im Steinbruch aufsuchen müssen, und dann hatte es sich ergeben, daß die Wohnung der Handarbeitslehrerin im Hintergebäude des Gemeindewirtshauses untergebracht war. Und derzeit war sie an eine Sommerpartei vermietet. »Die Wohnung werd' auch ich Jahr für Jahr an Fremde vermieten,« sprach Agi mit einem Aufleuchten der Augen, das Koja unverständlich war, »denn wir werden alle, Vater, Mutter, du, mein Koja, und Rudi hier hausen, wir kaufen das Häusel und behalten die Goaß-Wabi im Ausgeding. Da machte der Bruder verwunderte Augen: »So weit bist du schon?« – Dann nahm sie Koja beim Arm und führte ihn durch's ganze Anwesen, erklärte ihm, wieviel sie Angabe zahlen, wieviel sie als Hypothek anschreiben lassen wollte, und wieviel Geld zu den baulichen Erweiterungen und zum Lebensunterhalt für die nächsten Monate blieb. Bei der Goaß-Wabi bestellte sie das Abendmahl, wieder Milch und Brot. Im Lichtschein einer Kerzenflamme verzehrten die Geschwister ihre Mahlzeit mit der Alten, die sich gern als Großmutter angesprochen hörte. Dann öffnete Agi die Tasche und begann die Silbergulden aufzuzählen. Mit flimmernden Augen schaute ihr die Greisin zu. Noch nie im Leben hatte sie so viel schönes Münzgeld beisammen gesehen. »So, liebe Großmutter, das gehört Ihnen. Es sind sechshundert Gulden Anzahlung aufs Anwesen. Alles andere, Ihr Ausgedingrecht samt lebenslanger Verköstigung, und die Abzahlungsfristen der Hypotheken machen wir am nächsten Montag beim Notar schriftlich fest.« Die Alte dankte gerührt. – »So ein Glück! Mit guate Leut' hausen ohne Sorg' – bis ein' der Herrgott abberuft.« –

Als die Geschwister über die Serpentinenstraße nach Perchtoldsdorf zur Bahn hinunterstrebten, ging der Mond als übergroße orangenrote Scheibe überm Leithagebirge auf. Noch hatte er keine Leuchtkraft. Ein weitgedehntes, flimmerndes Lichtermeer lag tief im Norden die Wienerstadt; wo die Bahnhöfe waren, glänzten rote und grüne Signallichter gleich Rubinen und Smaragden, und wie eine Kette von Leuchtwürmchen bewegte sich durch die Ebene südwärts ein Schnellzug, dessen schrilles Pfeifen die abendliche Stille zerriß. – Keine Menschenseele weit und breit. Und dennoch sprachen die Geschwister leise von der unerwarteten Schicksalswende. Koja schilderte, wie schmuck das Anwesen in wenigen Wochen sein würde; die Mauern wollte er gelb färbeln, die Rahmen der großen Fenster, die eingesetzt werden mußten, grün streichen, alle Stuben einfach weiß tünchen. »Daß sich dem Vater die Sehnsucht nach Wiedererlangung der eigenen Scholle doch noch erfüllt hat!« äußerte Agi, »wie wunderbar! Freilich ist's nur ein bescheidenes Häuschen der Sehnsucht, wenn auch du, lieber Koja, es noch so schmuck färbelst. Aber fern von Wirtshäusern, wird es dem Vater Genesung bringen; der Mutter wird es das Leben verlängern, dem kleinen Rudi und mir wird es Gesundheit und Kraftfülle geben; für dich aber ist es die Gewähr einer gesicherten, harmonischen Entwicklung deines Charakters. Als heimatloser Armer warst du stets in Gefahr, deine Menschenwürde zu verlieren, wie sie Tausende der heimatlosen verlieren. Jetzt hast du wieder eigenen Boden unter den Füßen, der für deiner Hände Arbeit sich dankbar erweisen wird. Du lebst wieder in der Gesellschaft der Deinen, deren Wohl du fördern wirst wie sie deines fördern werden. Dein Wirken als Lehrer, als Volkserzieher, wird auf dich selbst charakterbildend rückwirken. 0b du noch Arzt wirst, oder ob du Lehrer bleibst, ob du dir selbst ein großes Haus der Sehnsucht erarbeitest oder ein kleines, auf das kommt es nicht an. Jedes Haus kann zum Haus der Sehnsucht werden, wenn in ihm einer wohnt, der geliebt wird, weil er der Liebe wert ist, ein Starker, der reich ist an Erkenntnissen, reich an Güte und Hilfswollen für andre; einer, dem andere Menschen zustreben, weil von ihm Licht und Kraft ausstrahlt, so daß er wohltut allen, die zu ihm kommen.«

Scheinbar unvermittelt, aber aus verschwiegenen Gedanken heraus, fragte Koja: »Was sagst du dazu: Ich habe vor vier Wochen an Urban geschrieben, daß du krank seiest und daß ich deshalb in diesen Ferien nicht nach Nierding kommen Könne, – und ich habe noch keine Antwort?« – »Was ich dazu sage? Verurteil' sie nicht vorschnell, aber häng' auch dein Herz nicht voreilig an Menschen, besonders nicht an solche, die im Wohlstand leben. Binde dich nicht, so lange du noch unfertig bist; wenn du einmal in gesicherter Stellung bist, dann kannst unter den besten Mädchen wählen. – Jetzt sammel' deine Gedanken und Kräfte aufs Nächste; bereite dich auf deine Lehramtsprüfung vor und hilf mir, daß unser Häuschen schmuck werde. Du mußt ja in deiner künftigen Studierstube erst den Fußboden legen.« – Nach einem Weilchen des Schweigens warf Agi die in ihrem Denken so oft auftauchende Frage auf, ob es Zufall sei oder Fügung, daß sich so leicht und so unvermittelt die ferngeglaubte Erfüllung ihrer Wünsche eingestellt hätte. – »Von Zufall keine Rede,« entschied Koja. »Mehrere Reihen von Ereignissen, die fernher aus der Vergangenheit emporstiegen, haben sich getroffen. Daß du den Vater vom Trinken entwöhnen wolltest, indem du ihn sparen ließest fürs Haus der Sehnsucht, war dein starker, zielstrebiger Wille. – Und der hat nun das Erfassen der Gelegenheit möglich gemacht.«

Im tief eingeschnittenen Tale zwischen dem Hochberg und dem Goldbiegelberg führte die Straße die Wanderer hinein nach Perchtoldsdorf, dessen altertümliche Häuser im Schimmer der schwachen Straßenlampenbeleuchtung nur noch malerischer wirkten. Es war Kojas neue Heimat, wo er sich einleben sollte als einer, der mitwirkt an der Gestaltung der Schicksale des Nachwuchses. Erst mit dem Zehn-Uhr-Zug kehrten sie heim.

Flüsternd erzählten sie der Mutter von der restlosen Erfüllung ihrer Wünsche. Des Vaters Schlaf störten sie nicht. Sie lauschten dem leisen Berichte der Mutter. Noch vor zwei Stunden hatte der Vater aus dem Schlafe zu Koja gesprochen: Er hatte im Traume mit ihm Baumgruben ausgehoben, um junge Obstbäume zu setzen.

Als am nächsten Morgen Agi dem Vater die Milchsuppe zum Bette brachte, fand sie ihn lächelnd dort liegen, die Augen weit offen und regungslos zur Decke gerichtet. Sie berührte seine Hand; die Hand war kalt und steif.

Beim Bäumesetzen vor dem Hause der Sehnsucht war der Vater gestorben, mitten im Traume von der Freude am Arbeiten für andere. Es war ihm nicht beschieden gewesen, in Wirklichkeit auch nur das kleine Haus der Sehnsucht zu betreten.

Als Koja die Leichenwache hielt, rief das geglättete Antlitz des Toten in ihm die Erinnerung an die Weilchen wach, in denen der Vater dem Knaben freundlich einen Wunsch erfüllt hatte: Das Floß zum Robinsonspielen, die Martinsche Naturgeschichte, das Aquarium! – Dann mußte er daran denken, wie stolz der Vater mit einem guten Zeugnis seines Buben geprahlt hatte, als wär' es sein eigener Erfolg gewesen. – Da ward es ihm klar: Des Sohnes Sehnsüchte waren Wipfeltriebe vom Wesen des Vaters. In ihm rang der Vater nach Bereicherung der Seele, nach Freude und Läuterung. – Koja holte sein lange unbenütztes Tagebuch aus der Brusttasche hervor. Sein Blick fiel auf die Geheimschrift seiner Selbstvorwürfe. Und er vermochte kein Wort zu entziffern. Da mußte er lächeln. Dann aber schrieb er: »Die Geheimschrift meiner Fehltritte ist unleserlich geworden wie die Spuren der Leidenschaften im Antlitz des verstorbenen. So sieht die Vergebung aus: Das Ungute wird wesenlos, es schwindet vor dem Guten.« Und weiter: »Der Vater strebt und ringt in mir nach der Läuterung seines Wesens, das in mir weiterlebt. Ich werde ihm die Läuterung bringen.«


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