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Das Schuljahr war zu Ende. Es begannen die Sommerferien. Diesmal brachte Koja wirklich ein Vorzugszeugnis heim, das der Vater in seiner Freude herumzeigen konnte bei Vorgesetzten und am Stammtisch, bis es von Fingerabdrücken, Fett- und Bierflecken verunziert war.
Nur zwei Tage verbrachte Koja im Urlaub bei Mutter und Agi. Dann wurde er von seinen Zöglingen im offenen Landauer abgeholt nach Wilfleinsdorf, knapp an der ungarischen Grenze, wo die Frau mit den Kindern den Sommer zubrachte. Behaglich zurückgelehnt saß Koja auf dem federnden Ledersitz zwischen Traudel und Regerl, die in stiller Freude seine Hände zwischen ihren Patschhändchen hielten. Ihm gegenüber saßen Flori und Ferdi, die in übersprudelnden Worten ihm von János Sprich: Jánosch = Johann. Molnár erzählten, dem Vetter aus Großwardein, einem jungen Juristen, der nur ungarisch sprach und der zu ihnen kommen wollte, um von Koja in den Ferienwochen so viel Deutsch zu erlernen, als er zur »Einjährig-Freiwilligen«-Prüfung Außer der Muttersprache wurde von den künftigen Reserve-Offizieren noch eine zweite lebende Sprache verlangt. brauchte. Belustigt hörte Koja ihnen zu. Mediziner wollte er werden, und das Schicksal zwang ihm immer wieder die Rolle des Sprachlehrers auf. In Wilfleinsdorf angekommen, hatte Koja die Empfindung, daß er ins Schlaraffenland geraten wäre. Es gab Backhühner mit Häuptelsalat und duftenden Riesling aus dem Weinkeller des Bürgermeisters und alles so reichlich, wie bei einem bäuerlichen Festessen. Und so ging's nun Tag für Tag in angenehmer Abwechslung von Enten- mit Hühnerfleisch, als hätte die Woche nur Sonntage; das Geflügel war nämlich dortzulande billiger als Rindfleisch oder Schweinefleisch. Dazu gab es viel Milch- und Eierspeisen. Noch nie hatte Koja so üppig gelebt.
Eine Morgenstunde widmete er dem Lernen mit den Kindern, die übrige Zeit aber verbrachte er mit ihnen im Freien. Sie jagten Schmetterlinge und Käfer und sammelten im nahen Kaisersteinbruch jenseits der ungarischen Grenze Versteinerungen. Sie badeten in der Leitha und pflückten Blumen; es war ein Leben voll Freud' und Behagen. Als der Ungar sich einstellte, benützte Koja das Latein als Vermittlungssprache, und ließ sich von dem lernbegierigen Juristen ein Gedichtenbuch von Petöfi bringen, dazu ein ungarisch-lateinisches Wörterbuch. In jedem Satz erfragte er das Zeitwort und von da aus die übrigen Satzglieder, übersetzte übers Latein ins Deutsche und ließ die deutsche Übertragung von János auswendiglernen. Die herausgehobenen Zeitwörter und Hauptwörter wurden abgewandelt, Gegenstände, Personen und Tiere der Umgebung wurden benannt, ihre Namen mit Eigenschaftswörtern und Zeitwörtern zu Sätzen verbunden, Zahlwörter wurden anschaulich vermittelt und gleich in den vier Grundrechnungsarten angewandt. János fügte sich den schier unbescheidenen Anforderungen seines um fünf Jahre jüngeren Lehrers, der ihm täglich morgens die zweite Lehrstunde widmete. An regnerischen Tagen saßen die beiden wohl drei Stunden beisammen und János führte genau Buch. Für jede Stunde schrieb er einen Gulden auf. Und Koja rechnete sich's aus, daß er am Ende der achtwöchigen Ferien mindestens hundert Gulden verdient haben mußte, hundert Gulden! – In den Lehrstunden ein eifriger Lehrer, sonst ein lieber Gefährte der Kinder, stieg Koja bei der dankbaren Mutter in der Wertschätzung, die sie ihm damit bewies, daß sie ihm nach ihrem Verständnis alles Gute reichlich gönnte.
Damit dem Hauslehrer ja nichts abgehe, ließ sie nach jeder Hauptmahlzeit einen kräftigen Kaffee kochen und stellte ihm ein Kistchen Zigarren zur Verfügung. Auch an's Rauchen gewöhnte er sich; er kam sich vor wie ein Erwachsener. So gestaltete sich das »Herauspäpeln« für den in Dürftigkeit aufgewachsenen Studenten zu einer regelrechten Schlemmerei, in die er sich ebenso leicht hineinfand, wie er sich einst ins tägliche Fasten hineingefunden hatte. An den lauen Sommerabenden zog Kojas Singen zur Laute allerlei sangesfreudige Gäste in den Hausgarten der Zierlechnerischen. Im Scheine des Windlichtes, das auf dem Gartentische stand, saßen rund herum junge und alte Sommerfrischler, tranken Wein, erzählten allerlei Erlebtes, Erdichtetes und Gehörtes; da wurde es meist Mitternacht, eh' die Gesellschaft auseinanderging; ja manchmal reihte sich ein Lustwandeln im Mondschein an die lauten Abendstunden.
Die nächste Folge davon war, daß Koja sich an ein spätes Aufstehen gewöhnte, und dann als ein Unausgeschlafener seine verspäteten Lehrstunden abhielt, eine weitere Wirkung war, daß er das Gefühl innerer verläßlicher Führung verlor und sich Anlässe zu Selbstvorwürfen gab. Die fürsorgliche Hausfrau aber half ihm über die Verstimmungen hinweg, indem sie ihm auch untertags ein gutes Glas Wein zukommen ließ. Da verstummten die Selbstvorwürfe und Koja ward so heiter wie ein Selbstzufriedener.
Besonders lustig war das Baden in der Leitha, an dem die Großen und Kleinen teilnahmen. Das tief eingeschnittene Flußbett hatte hohe, steile Lehmufer, in welche von badenden Kindern Stufen gegraben worden waren. Koja legte durch Abgraben des Lehms eine sehr steile, schiefe Ebene an, die, mit Wasser besprengt, eine glatte Rutschbahn wurde. Das pfeilschnelle Niedergleiten und das Aufplatschen im Wasser gab einen Hauptspaß! Koja, der den Kindern erzählt hatte, wie er im Strombad zu Melk beinahe ertrunken wäre, gab im hüfttiefen Wasser den Kindern regelrechten Schwimmunterricht. Eines Tages führten ihn die Kinder zu einem Tümpel in einer Flußbiegung, wo das wirbelnde und gurgelnde Wasser die Ufer kesselartig ausgewühlt hatte und nach der Meinung der Leute grundlos war. Die Bauern faselten davon, daß hier der Fluß mit dem Neusiedler See jenseits des Leithagebirges in unterirdischer Verbindung stehe. Um den Kindern die Unsinnigkeit solcher Behauptung zu erweisen und seine Kunst im Tauchen zu zeigen, versprach ihnen Koja, hier bis zum Grunde niederzutauchen und von dort eine Handvoll Land heraufzuholen. Vergebens suchte ihn die Mutter der Kinder von dem Vorhaben abzubringen. Sie wies ihm die trichterigen Wirbel inmitten des Kolkes Kolk oder Tumpf = tiefe Grube im Flußbett., wo nach ihrer Meinung das Wasser ins Erdinnere gezogen wurde. Er aber zeigte ihr das reichliche Anschwemmsel von Röhricht, Binsen und Astwerk, das in der Ausbuchtung am jenseitigen Ufer sich staute, ohne vom Wirbel in die Tiefe gezogen zu werden. Mit einem regelrechten Kopfsprung stürzte er sich vom hohen Ufer ins Wasser, ruderte kräftig tiefer und tiefer, das Wasser wurde kühl, dann kalt, das Licht verlor sich, er aber strebte trotz des merkbaren Auftriebes zur Tiefe, um den Bodensand zu erreichen. Als aber das Atembedürfnis ihn zwang, sich unverrichteter Sache wieder aufwärts zu wenden, kam er wohl vom Kalten ins Kühle und Laue, aber nicht wie er erwartet hatte, ins Lichte. Schon war er im warmen Oberwasser, aber noch immer war's finster über ihm. Vom Lufthunger ängstlich strebte er aufwärts, geriet aber in eine so dichte Verfilzung von starrendem Gezweige und Röhricht, daß er mit dem Kopf nicht durchkonnte. Er mußte trotz höchster Atemnot kehrt machen und wurde von der Strömung flußabwärts getragen. Er fuhr mit dem Kopf aus dem Wasser, sah aber nichts von den Kindern; pfeilschnell schoß er zwischen den hohen Ufern dahin, die von dichten Brombeerhecken bekleidet und darum unersteiglich waren. Der Wind trug ihm das ohrenzerreißende Jammern, Schreien und Weinen der Frau und der Kinder zu. Es dauerte lange, bis Koja eine Stelle fand, wo er an den quastenartig ins Wasser hängenden Wurzeln einer Erle sich zum Uferrande emporturnen konnte. – Er hätte jauchzen mögen, aber er bezwang sich, lief im Bogen durchs Wiesenland stromaufwärts und schlich sich leise an die Wehklagenden an, die in ihrer Ratlosigkeit am Ufer zusammengedrängt standen. Als Koja einen Schritt hinter ihnen war, hörte er die Frau sagen: »Feri, renn' in die Mühl' hinunter, sie sollen mit langen Haken kommen. Vielleicht finden sie ihn doch noch, bevor er ganz tot ist. Mit künstlicher Atmung wär' er noch zu retten.« – Da sagte Koja laut und gelassen: »Das hat's nicht not.« Als hätte der Blitz neben ihnen eingeschlagen, schrien die Kinder auf und wendeten sich dem Sprechenden zu. Dann aber erscholl ein Jubelschrei wie aus einem Munde: »Jöi! der Herr Lehrer!« Und nun fielen sie über ihn her, küßten und umarmten ihn und warfen ihn zu Boden. Die kleine Traudel hämmerte ihm mit ihren Fäustchen auf den Rücken, zauste ihn an den Ohrläppchen, strählte ihm mit den Fingern die triefenden Haarstränge aus der Stirn und konnte sich nicht satt sehen an dem Totgeglaubten und Wiederlebenden. – Und nun mußte er erzählen, als er dazu kam, wie er mit dem Kopf ins Anschwemmsel geraten war, fuhr sich die Frau mit beiden Händen in die Haare. Zur Gleitbahn zurückgekehrt, legte sich die ganze Gesellschaft in die Sonne. Ein Feuerchen wurde entzündet und die Jause gewärmt, alle waren in der Stimmung glücklicher Abenteurer und Koja war sehr gesprächig. »So wie mir, muß Joe zumut' gewesen sein, dem Bedienten des Afrikareisenden Fergusson, als er aus dem Luftballon in den Tsadsee gesprungen war.« »Erzählen, erzählen!« scholl es wie aus einem Munde. Und Koja begann mit Anschaulichkeit und Selbstvergnügen die köstliche Jules-Verniade »Fünf Wochen im Luftballon« zu erzählen, die er in der glücklichen Melker Zeit gelesen und innerlich so erlebt hatte, als wär' er dabei gewesen. Bei der Jause, beim Heimweg, beim Waldgang erzählte er fort, jede Gedächtnislücke durch selbsterdachte Zugaben füllend. Die Kinder lauschten mit Spannung und Teilnahme, wie die kühnen Reisenden aus dem köstlichsten Behagen ruhiger Ballonfahrt in arge Lebensgefahren geraten waren inmitten von Wilden, bei Blitz und Donner im Urwald, in der Sandwüste, im Gefels und im See, von Beduinen verfolgt, – und wie sie immer wieder ihr Leben gerettet hatten auf ganz unglaubliche Art, die aber glaubhaft wurde durch die Darstellungsweise Jules Vernes, des genialen Erzählers technischer Märchen. Nach dem Abendessen schrieb Koja wieder einmal einen langen Plauderbrief, an dem Mutter und Agi ihre Freude haben sollten. Er versprach, bald mit seinen Zöglingen zu kommen.
Die Sammelgänge in Flur und Wald brachten viel Ausbeute. Da mußte Koja nach Wien fahren, Insektennadeln, Spannbretter, Schachteln mit Torfboden und Glasdeckel, aber auch Bestimmungsbücher zu beschaffen. Er wählte das Bergesche Schmetterlingsbuch Verlag Schweizerbarth, Stuttgart., in dem auch die Raupen und ihre Nährpflanzen abgebildet waren, das Hoffmannsche Käferbuch Verlag Schweizerbarth, Stuttgart., Wagners Deutsche Flora Verlag Schweizerbarth, Stuttgart., das soeben erschienene Lehrbuch der Geologie von Toula Verlag Hölder, Wien., das für Hochschulen bestimmt war und das prachtvolle »Mineralreich« von Brauns Verlag J. F. Schreiber, Eßlingen. Die Zierlechnerischen hatten ja beim Buchhändler offene Rechnung und sie knauserten nicht, wo es sich um den Unterricht der Kinder handelte. Nun ging das Sammeln und Bestimmen erst recht an, und Koja lernte dabei mehr als die Kinder. Von da an wurden auch Raupen gesammelt und für diese Futterpflanzen eingetragen. Die Fahrt nach Mannersdorf wurde geschoben und die Ferien flohen dahin; denn die Tage waren ausgefüllt mit köstlichen Freuden. Herr Zierlechner, der ab und zu seine Familie auf dem Lande besuchte, gab seiner Zufriedenheit mit dem Hauslehrer Ausdruck, indem er ihm das Monatsgeld vom 15. August an um zehn Gulden erhöhte. Koja hatte das Gefühl, daß er unentbehrlich sei. Er begann sich als Mann zu fühlen und mit seinem Ungarn die Abende im Gasthause zuzubringen, wo ihm das eisgekühlte Schwechater Bier mundete. Hier wurde er vom Bürgermeister ins Tarockspiel eingeweiht und folgte auch gerne seiner Einladung in den Weinkeller. In der Herrengesellschaft gewann Koja an Wert. Aber die Selbstführung verlor er. Er hatte abends keine Zeit mehr zum Tagebuchschreiben und tat auch mancherlei, das niederzuschreiben er sich geschämt hätte. Im Verkehr mit seinen Zöglingen legte er sich einen herrischen Ton zurecht, in den eine Reizbarkeit hineinspielte, die zwar von der Mutter als schulmeisterliche Strenge gewertet wurde, aber die Willigkeit der Kinder oft sehr beeinträchtigte. Wenn Ferdi beim Übersetzen das Imparfait mit dem Passé défini verwechselte, rechnete es ihm Koja als Verbrechen an und setzte ihm den Kopf durch Schopfbeutler und Klapse zurecht. Und so oft der an solche Behandlung nicht gewöhnte Junge sich dagegen auflehnte, geriet der Student in einen Jähzorn, in dem er schrie, daß die Leute auf der Gasse stehen blieben. So kam er in den Ruf eines sehr strengen Lehrers, der den Kindern nichts durchgehen ließ. Aber unter den Sommerfrischlern gab es feine Beobachter, die dem Baumeister, wenn er Sonntags aufs Land herauskam, gelegentlich schlimme Andeutungen machten. Der Hauslehrer begann ihm nun zu mißfallen. Und Koja war in seiner Gegenwart befangen.
Beim Baden und wandern jedoch war er den Kindern nicht der strenge Lehrer, sondern nach wie vor der ältere Kamerad, der sich in Spässen überbot.
Nun gehörte das Kahnfahren auf dem nahen Neusiedler See jenseits des niederen Leithagebirges zu den noch immer unerfüllten Wünschen der beiden Knaben, da sich bisher noch niemand gefunden hatte, der für sie den angstvollen Widerstand der Mutter überwunden hätte. Vom See, dessen flache, schlammige Ufer ihm den Spottnamen »die große Lachen« eingetragen hatten, wußten alte Leute zu erzählen, daß er bei stürmischem Wetter so manches Menschenopfer gefordert hatte. Denn draußen, außerhalb der Schilfinseln, war er klaftertief. Aber Koja machte den Wunsch der Knaben zu dem seinen und setzte der abwehrenden Mutter so lange mit seiner Beredsamkeit zu, bis sie an einem hellen, windstillen Sonntagmorgen endlich die Einwilligung gab. Um einem Verbot vorzubeugen, vermied sie es, ihrem Mann von der Sache zu sprechen, der am Sonntag seine liebe Ruh' haben sollte.
Um ein Uhr brach Koja mit dem Knaben auf.
Sie hatten einen Marsch von etwas weniger als drei Stunden vor sich. Den Wiesenhang am wüsten Kloster emporsteigend, kamen sie in den jungen Eichenbestand einer Einsattelung, stöberten Hasen, Haselhühner und Rehe auf und begegneten einer meterlangen aschgrauen Äskulapschlange und zwei Smaragdeidechsen. Sie erreichten auf halbem Wege die Quelle des Windenbaches, an dem sie singend niederstiegen, bis sie im Dorf der Großeltern der Kinder waren.
Als die Großmutter vernahm, daß sie auf den See wollten, erhob sie händeringend Einsprache: »Verdrießt euch's Leben, daß ihr an so einem Tag schinakelfahren Kahnfahren. wollt?« Sie prophezeite bei wolkenlosem Himmel ein Gewitter; sie wollte bemerkt haben, daß die Spatzen in aller Früh' überlaut gewesen wären und die Fliegen zudringlich. Die Knaben aber drängten: »Fahren wir, fahren wir, Herr Lehrer!« Da hängte Koja der alten Frau lachend seine Laute um den Hals und tätschelte ihr die Wangen: »Auf Wiedersehen, Großmutter, in einer Stund' oder zwei!« Und fort ging's zum See. Auf halbem Wege zum Strande traf das muntere Kleeblatt auf den Wilfleinsdorfer Flurhüter, der ihnen die Hütte des Fischers Loibel zeigte. Der war froh, durch das Verleihen seines Bootes einen Gulden zu verdienen, händigte Koja ein Ruder und den langen Bootshaken aus, mit dem er den Kahn im seichten Wasser weit hinausstoßen konnte; er riet ihm ernstlich davon ab, in den offenen See hinauszufahren, weil an dem schwülen Tag der Windstille nicht zu trauen wäre. Koja schmunzelte über die Besorgnis des alten Mannes, wies den beiden Knaben auf dem schmalen Bänkchen im Stern ihre Sitze an und trieb mit der Stange das Boot durch den engen Kanal, der im schilfbestandenen Lehmboden des seichten Ufergeländes ausgehoben war. Kaum im offenen Wasser, begann er in überquellender Jugendlust zu singen; sein »Gaudeamus« klang weithin über die sonnbeglitzerte Wasserfläche, die hie und da von einer flachen Schilfinsel unterbrochen war. Als er den Blick zurück schweifen ließ über die bewaldete Kette des Leithagebirges, bemerkte er, daß im fernen Westen weiße, ballige Wolkenbänke lagen, die langsam zum leeren, lichtblauen Himmel aufrückten. Noch standen die Rohrhalme regungslos und die Blätter der Silberpappeln auf den Inseln hingen schlaff herab. Ein leichter Windhauch machte den bisher glatten Wasserspiegel erzittern, das Schilfrohr begann zu lispeln und die Blätter der Pappeln ließen bei lebhaftem Plaudern ihre weißbefilzten Unterseiten erflimmern. Da deutete Koja auf die Wolkenbank und schickte zwischen vorgehaltenen Händen eine Frage zum Ufer: »Kommt was?« Der Fischer, von dem sich der Flurhüter soeben verabschiedet hatte, rief eine Antwort, die Koja nicht verstand, und machte sich an einem Boote zu schaffen. – Wieder wurde die Wasserfläche eben, wieder stand das Schilf regungslos und die Pappeln schwiegen. Mit kräftigen Stößen trieb Koja das Boot an der letzten Insel vorbei ins offene Wasser. Fern im Osten lag ein mißfarbiger Streifen über dem See, der das drübere Ufer verschleierte. Gegen Süden hin dehnte sich die Wasserfläche endlos hin, der Himmel ruhte auf dem glitzernden Spiegel. So mochte das Meer aussehen! Und Koja begann das Schifferlied zu singen:
»Auf, ihr Maaten, auf den Bord beeilt euch,
Singt Eurer Heimat und dem Lieb ade!«
Plötzlich aber verstummte er. Ein wuchtiger Windstoß hatte sich aufs Wasser gelegt, und ihm den Hut vom Kopfe gerissen. Koja bohrte den Bootshaken in den schlammigen Grund. Es gelang ihm aber nicht, den Kahn festzuankern. Er vermochte nur, sein Abtreiben zu hemmen. Er versuchte es, mit dem Ruder gegen den Wind anzufahren, vergebens. Da griff er wieder zur Stange. Lange Wellen mit lehmgelben Schaumkämmen liefen vom Ufer her quer in den See, die Schilfrispen legten sich klatschend aufs Wasser, weiße Möwen gaukelten schreiend auf und strichen mit langen Flügelschlägen über die Wellen hin. Blendend weiß türmte sich die Wolkenbank empor, mit unheimlicher Schnelligkeit hinterm Gebirge aufsteigend, bis sie sich unter die Sonne schob als graue Wand, die zusehends dunkler wurde, des Himmels Scheitelgegend überziehend. Die Wolkenballen schoben sich vorwärts, an den Rändern langfetzig zerrissen. Wie eine Schar ungeheurer Krokodile und märchenhafter Ungeheuer drängten die sturmgejagten Wolken gegen Osten, wo ein schwefelgelber Dunstschleier in Grüngrau überging. Dann zuckte ein bläulich weißer Blitz vom Wolkenrande nieder zum aufgewühlten See; und wo er einschlug, entstand eine gelbliche Feuerkugel, die mit donnerähnlichem Krachen barst. Blitz folgte auf Blitz, ein Donnergrollen löste das andere ab. Flori und Ferdi hielten krampfhaft die Krämpen ihrer neuen Strohhüte. Blaß vor Angst, flehten sie: »Fahr' mer z'ruck, Herr Lehrer, fahr' mer z'ruck!« »Legt euch auf den Boden des Schinakels«, befahl Koja, »und bleibt liegen! – Ich bin schon selber zuviel Segel, mehr braucht's nit!« Schon hatte er Mühe, mit der Stange den Boden nur zu erreichen, dessen nachgiebiger Schlamm keinen festen Halt bot. Das Boot gab dem Luftdruck nach und das übern Bootsrand spritzende Wasser sammelte sich auf dem Boden des Kahnes. Die Knaben wagten nicht, sich aufzusetzen, sie begannen zu wimmern: »Wir ertrinken, Herr Lehrer, wir ertrinken!« – Da lachte er krampfhaft auf und begann die zweite Strophe des Gaudeamus zu singen: » Ubi sunt, qui ante nos in mundo fuere?« »Wo sind jene, die vor uns auf der Welt gewesen?« Die Kinder sollten nicht merken, daß er darauf gefaßt war, jetzt und jetzt als höchster Gegenstand auf der weiten Seefläche von einem Blitz getroffen zu werden. Daß der Schall seiner Stimme am Westufer vernommen würde, hoffte er nicht, von dorther kam ja der Wind und trug die Worte seines Liedes als Schallfetzen ostwärts. Alles, was er tun konnte, war, daß er die Spitze des Bootes gegen die Windrichtung hielt, damit keine Welle ihm seitlings über die Bordseite ins Innere schlüge; sonst wäre es gekentert. Aber auch diese Vorsicht schien zwecklos. Denn plötzlich setzte ein wolkenbruchartiger Regen ein; das Wasser im Kahn stieg, die Knaben mußten sich auf die Ellbogen stützen, um nur die Köpfe frei zu haben. Und als unvermeidlich sah Koja voraus, daß der gefüllte Kahn zum Grunde sacken würde. Weiter sang er » Vita nostra brevis est, brevi finietur.« Unser Leben ist ja kurz; kurz wird es beendet. Aber er hoffte noch. Wenn die Knaben auch keine Dauerschwimmer waren, vielleicht hielten sie sich über Wasser, bis vom Lande Hilfe kam. Freilich, wenn sie sich ängstlich an ihn hingen, dann waren sie alle drei verloren. Und wieder gab er einen Befehl: »Schuhe und Röcke ausziehen!« Er selbst machte sich auch so zu schwimmen bereit. Dicht und undurchsichtig strich der windgepeitschte Regen nieder; vom Ufer, von den Schilfinseln, von einem rettenden Kahn war nichts zu sehen. Der warme Regen hatte etwas Beruhigendes. Aber im Kahne stieg das Wasser. »Niederknien!« rief er den Knaben zu, »und mit den Händen das Wasser hinausschaufeln!« – Es nahm nicht ab, – wenn's nur nicht zunahm. Aber stärker, schwerer, geschlossener fiel der Regen, das war kein Regnen mehr, es war ein Rinnen und Schütten. Und weiter sang er: » Vivant omnes virgines, graciles formosae. Alle Jungfraun leben hoch, anmutsvoll gestaltet. Vivant et mulieres, bonae laboriosae …« Hoch die Frauen allzumal, die so gut und emsig. Sein Singen klang ihm wie eine Verhöhnung seiner heiligsten Empfindungen. Denn in tiefster Seele war das wehe Gedenken seiner Lieben und der Gewissensvorwurf, daß er die Kinder ins Verderben führte, die ihm anvertraut waren, plötzlich fühlte er, daß der eiserne Bootshaken etwas Zähes, Federndes im Grunde gefaßt hatte, das nicht nachgab. Es mochten die Wurzeln eines Baumes oder Strauches sein, aus der Zeit, wo der Seeboden jahrelang trocken und bewachsen war. Der Kahn war nun festgeankert. In neuerwachter Zuversicht sang Koja lauter als vorher: » Vivat Academia, vivant professores!« »Hoch die Universität, hoch, die dort uns lehren!«
Als er Atem holte, um zur letzten Strophe anzusetzen, hörte er vom Lande her scharfe Ruderschläge. Da ließ er einen Jauchzer erschallen, der auch gegen den Wind gehört werden sollte. Und aus dem Grau des stürzenden Regens löste sich die Gestalt eines plumpen Flachbootes, das beinahe an ihm vorbeigefahren wäre; darin stand der alte Fischer, dem der Wind das graue Haupthaar ums Gesicht peitschte. – Ruhig und gelassen steuerte er sein Fahrzeug an den Kahn Kojas heran. Die kalte Stummelpfeife zwischen den Zähnen murrte er ihm zu: »Haben S' ins offene Wasser müssen, Sie verrückter Zwickel?« – dann aber zog er zwei Tauenden durch die Ruderschleifen der beiden Boote und koppelte sie so Seite an Seite zueinander. Koja und die beiden Knaben mußten nun in seinen Kahn hinüber; er selbst schleuderte mit einer hölzernen Wurfschaufel das Wasser aus Kojas Boot. Dann begann ein schräges Aufkreuzen gegen den Wind, wobei der Fischer selbst den Bootshaken handhabte; Koja und Ferdi halfen mit den Rudern. Der Regen ließ nach, die Luft wurde sichtig. Erst unterm Schilfbestand einer Insel wurde gerastet. Dann ging's wieder schräg nach links hin bis zum nächsten Röhricht. Aber ehe sie noch den Kanal erreichten, hörten sie die Kahnböden gegen den Grund scharren. Der Sturm hatte das Wasser vom flachen Strande abgefegt. Da rammte der Fischer den Bootshaken tief in den Grund und band daran die Boote fest.
Watend im Schlamm strebten sie nun alle dem Ufer zu. Koja und die Knaben schwenkten im Übermut ihre Röcke und Schuhe, sie lachten und schwatzten, des wiedergesicherten Lebens froh. Von Zeit zu Zeit aber schrie einer von ihnen auf, wenn er sich an einer Schilfstoppel den Fuß verletzte.
Und als sie endlich in einer Strandhütte anlangten, die nur aus einem auf dem Erdboden aufruhenden Schilfdach bestand, kehrten sie ihre Taschen um und schenkten dem Fischer alles, was sie an Kostbarkeiten bei sich hatten, Taschenspiegel, Messer und auch die Börsen, ohne zu zählen, was darin war. Mit schwerer Mühe brachten sie die durchnäßten Schuhe an die Füße, zogen die Röcke an und marschierten auf Winden zu. Noch waren sie nicht weit gegangen, als ihnen ein Trupp Menschen entgegenkam, die Großmutter voran. Sie vernahmen lebhafte Ausrufe, die wohl ihnen galten: »Sö san's scho', sö san's scho'« – »Gott sei Dank!« Bevor die Großmutter ihre Enkel umhalste und küßte, schlug sie die Hände überm Kopf zusammen: »Aber die neuchen Strohhüat san hin.« – Die Fremden zerstreuten sich, – es war ja »weiter nix g'scheh'n«. Die Geretteten aber wurden von der glücklichen Großmutter in die warme Stube gebracht. Bald hingen ihre Kleider und Wäschestücke auf dem Gerähm um den Kachelofen, in dem trotz der Sommerzeit die buchenen Scheiter knackten und prasselten. Angetan mit den von der Großmutter entlehnten langen Hemden saßen die »Schiffbrüchigen« im Ofenwinkel, aßen, tranken, sangen und plauderten, bis das Gewand trocken und ein Leiterwagen angespannt war. Die schläfrigen Kinder wurden ins Stroh gebettet, Koja bekam einen alten Hut und einen Kotzen. Er setzte sich zum Knecht, der vom Wirtshaus geholt worden war und Mühe hatte, nicht nach vorne zu klinken. Es regnete wieder. Beim schwachen Schein der Deichsellaterne kroch der Leiterwagen auf der frischgeschotterten Straße langsam dahin. Das eintönige Geräusch des niederrauschenden Regens und das Klappern der Hufe des schweren Ackergaules wirkte einschläfernd. Aber manchmal machte der Wagen einen Sprung, wenn eines der Räder über einen Steinbrocken in eine tief ausgefahrene Grube holperte. Endlos schien die Fahrt.
Als nach zwei Uhr morgens das knarrende Gefährt die Dorfstraße von Wilfleinsdorf erreichte und sich dem Zierlechner-Hause näherte, sah Koja die Fenster erleuchtet und vor dem Hause stand eine Gruppe von Menschen, aus deren Mitte das herzbrechende Schluchzen von Frauen und Mädchen klang. Ein Junge, der dem Wagen entgegengelaufen war, schrie in den Haufen hinein: »Sie san's, der Student is lebendig.« – Ein Aufschrei folgte der voreiligen Kunde. Dann löste sich die Gestalt der Hausfrau aus dem Kreise der Neugierigen. händeringend trat sie zum Wagen, erkletterte ihn und begann schluchzend im Stroh zu wühlen. Ferdi und Flori, die beim plötzlichen Halten des Wagens erwacht waren, erhoben sich, rieben sich die Augen und fielen der Mutter um den Hals, »Jöi, die san ja aa' lebendig!« klang es von den Lippen einiger Gaffer, die enttäuscht schienen, daß das Schreckliche nicht geschehen war, an dem im ganzen Dorf kein Mensch mehr gezweifelt hatte. Als nämlich spätabends durch den heimgekehrten Flurhüter die Vermutung laut geworden war, daß der Wolkenbruch die Ausflügler auf dem See überfallen hätte, war ein Wagen voll Rettungsbereiter und Neugieriger nach Winden gefahren, aber noch nicht zurückgekehrt. Wahrscheinlich saßen sie in einem Weinkeller fest. Traudel und Regerl küßten und umhalsten die verloren geglaubten Brüder und streichelten die Hände Kojas, für den keiner der Erwachsenen ein Wort des Willkomms hatte. Reichbeschenkt, als wäre er der Retter der jungen Zierlechner, lenkte der ernüchterte Knecht den Leiterwagen in den Hof, brachte die Pferde in den Stall und rieb sie trocken.
Aus der Art, wie der Baumeister den Studenten bei der Ankunft anstarrte, erkannte Koja, daß er des Hausherrn Gunst verscherzt hatte für immer. Und doch fand der von der ausgestandenen Vaterangst schwer erschütterte Mann am nächsten Morgen vor seiner Wegfahrt ein Wort des Dankes für den Hauslehrer. Flori und Ferdi hatten noch vor dem Einschlafen ausführlich erzählt, wie der Student durch seine Besonnenheit den Kahn vor dem Kentnern bewahrt hatte. Koja wußte, wie groß sein Verschulden, und wie gering sein Verdienst war. Hätte sich dem Bootshaken nicht der Strunk im Seeboden angeboten zur Verankerung, das Boot wäre weit draußen, wo der See tief war, gesunken, vom Retter unerreicht.
Alle Opfer Agis und der Mutter wären vergebens gebracht gewesen, das Haus der Sehnsucht, das er mit ihnen aufrichten wollte, wäre unwirklich entschwunden, wie eine trügerische Luftspiegelung. – Aber es sollte werden, daran glaubte er jetzt fester denn je.