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Koja hatte keine Ahnung, wie es um Agi stand. In Wien angekommen, nahm er sein gewohntes Leben auf. Er war ja im vorletzten Gymnasialjahr. Vom diesjährigen Erfolge hing es ab, in wieviel Gegenständen er im nächsten Jahre bei der Reifeprüfung befreit sein würde. Er studierte meist länger als bis Mitternacht und bei Tage bekämpfte er die Abgespanntheit, indem er ab und zu in eine Gastwirtschaft trat und, ohne Platz zu nehmen, ein »Stehseidel« Bier trank.
Unmerklich wurde ihm dies zur Gewohnheit. So kam er wieder um sein inneres Gleichgewicht und sein Hauslehrerdasein blieb nicht frei von Fehltritten, die er weder an Agi berichtete, noch ins Tagebuch schrieb. Das lag seit geraumer Zeit unbenützt in der Tischlade. Was er verdiente, verbrauchte er. Und als die Weihnachten kamen, besuchte er seine Leute nicht als Schenkender, sondern war wie in seinen Knabenjahren der Beschenkte; er schämte sich vor sich selber, und vermied es, mit Agi allein zu sein, obwohl er merkte, daß sie von ihm vertrauliche Mitteilungen über sein Leben erwartete. Diesmal blieb er nur einen Tag bei den Seinen. Als er sich von ihnen mit Handschlag und Kuß verabschiedete, prallte er vom Munde des Vaters zurück. Ein Hauch von Schnaps war ihm in die Nüstern gekommen. Von Agi, die Vater und Sohn scharf beobachtet hatte, durch einen Blick aufflackernder Angst gewarnt, ließ er seinen Widerwillen nicht merken.
Agi geleitete den Bruder zur Bahn. Als sie ihm das Weihnachtspäckchen in den Wagen hinaufreichte, gab sie ihm ein paar Worte mit auf den Weg: »Schau nur du, daß du nicht zu lange im Wellental bleibst.«
Während der Eisenbahnfahrt hätte Koja wohl Muße gehabt, sein Leben zu überprüfen, aber er nützte die Zeit, um mit Hilfe der Tabellen von Plötz die Weltgeschichte zu wiederholen. So kam es, daß er in Wien weiterlebte wie bisher.
Daß Vater Lorent sein geringes Taschengeld, das nicht auf Wein oder Bier langte, in Schnäpsen vertrank, machte Agi Kummer. In ihren Augen war er ein Kranker, für dessen Genesung sie die Verantwortung trug. Oh, hätte sie ihn nur unabhängig machen können von der Gesellschaft, in die er nicht taugte! Er brauchte ein selbständiges Arbeiten auf einem noch so kleinen, aber eigenen Grunde, außerhalb einer Ortschaft, weitab von Versuchern, fern von Gelegenheiten zum Trinken. Weil Agi der Gedanke an Urbans Haus der Sehnsucht weh tat, baute sie in ihren Stunden des Wachträumens an einem Häuschen, das ihr durch eigene Kraft erreichbar schien. Wenn's ihr gelang, in einem Dorfe Handarbeitslehrerin zu werden und als Schneiderin so zu verdienen, wie die Oberlehrersfrau verdiente, dann konnte sie Vaters Ersparnisse vermehren und, wenn auch mit Schulden, ein bescheidenstes Haus der Sehnsucht pachten oder erwerben, in dem der Vater genesen sollte, ehe es zu spät war.
Aber es schien bereits zu spät zu sein. Lorent begann zu kränkeln, hörte aber nicht auf, gelegentlich zu trinken. Dem Arzt, den Agi ins Haus kommen ließ, klagte Lorent über häufige Atemnot, über Schmerzen in der Lebergegend und über Kreuzweh. Der Arzt verschrieb ihm Odermennigtee und Einreibungen mit Opodeldok. Der Kampfergeruch, der sich aufdringlich in der Wohnung bemerkbar machte, brachte allen zum Bewußtsein, daß die Krankheit im Hause war. Nach einigen Tagen aber konnte Lorent wieder Dienst machen. Mit fieberhaftem Eifer trieb Agi an Sonntagen und Abenden ihre Studien und meldete sich in Wien zur Prüfung für den Maitermin. Und als sie die Prüfung ablegte, zeigte sich, daß sie viel mehr gelernt hatte, als notwendig gewesen war. Einer der prüfenden, Schulrat Hinterwaldner, dem ihr Aufsatz »Die Erziehung unter schwierigen Verhältnissen« besonders gefallen hatte, machte zu ihr die Bemerkung: »Ihnen würde es nicht schwer fallen, die Befähigung zur literarischen Lehrerin nachzuweisen. Das wäre einträglicher und Sie kämen leichter zu einer Stelle.«
Daheim angekommen, schrieb Agi Gesuche mit Zeugnisabschriften an verschiedene Bezirksschulräte. Dann nähte sie wieder für die Dörfler und wartete und wartete.
Aber Woche auf Woche, Monat auf Monat verging, und keine Berufung kam. Das Angebot an Arbeitslehrerinnen war größer als die Nachfrage. Da borgte sich Agi Bücher vom Oberlehrer und bereitete sich zur Lehrerinnenprüfung vor. Sie zeichnete Karten, Skizzen und schrieb Auszüge aus Geschichte, Physik und Chemie. Ihre Einbildungskraft sollte ihr die Anschauung ersetzen, aber die versagte vielfach. Nun setzte sie ihre Hoffnung auf Koja. Sie schrieb ihm unter anderem: »Wie freu' ich mich auf die diesjährigen Ferien. Du kommst zu uns und wirst mit mir experimentieren. Denkst Du noch an Deine ersten Chemieversuche in der Pelzgasse?«
Aber Koja, der vor lauter eigenen Angelegenheiten Agis Brief nur flüchtig gelesen hatte, vergaß, auf ihren Hilferuf zu erwidern. Und als das Schuljahr um war, folgte er mit Freuden der Einladung Urbans nach Nierding. In den drei Tagen, die er vor seiner Abreise in Mannersdorf zubrachte, gab er Agi und der Mutter vollauf zu tun: seine Kleider und seine Wäsche mußten ja in Ordnung gebracht werden. Er machte weite Spaziergänge, trank gelegentlich sein gewohntes Stehseidel und zeigte daheim rückhaltlos sein Freuen auf die köstlichen Wochen bei Urban. Daß die Mutter vergrämt und der Vater etwas verfallen aussah, daß Agi, ohne viel mit dem Bruder zu reden, ihre Nähmaschine rasseln ließ, fiel ihm nicht auf. – Daß Koja Bier trank, hatte Agi an seinem Atem gespürt; und sie wunderte sich, daß für ihn das Schicksal des Vaters keine Warnung war. Daß er von ihrer bestandenen Prüfung nicht sprach, daß er nach ihren Plänen, ihren Enttäuschungen, ihren Sorgen nicht fragte, daß er ihren Hilferuf so ganz überhört hatte, erzeugte in ihr einen herben Groll. Ihre gekränkte Liebe ließ es nicht zu, dort noch einmal um ein kleines Opfer zu bitten, wo sie tausendfach größere gebracht hatte.
Wohl ausgerüstet, fuhr Koja seinen Freuden entgegen. Und bald kam ein schwärmerischer Brief von ihm: Urban hatte seine Stallungen mit lärchenen, sanft abfallenden Böden und mit zementierten Futtertrögen versehen und größere Fenster eingesetzt. Er, Koja, hatte auf dem ersten Pirschgang einen starken Rehbock geschossen, Klärchen war mit ihm beim Heuwenden gewesen, und abends hatte sie gesungen, und er hatte sie auf der Laute begleitet usw.
So schrieb der vom Glück Begünstigte an die vom Schicksal Mißhandelten und erwartete von ihnen ein Mitfreuen.
Nicht nur die Physik und Chemie, auch die mathematischen Fächer, auch die Musik und das Turnen, waren Gegenstände, in denen Agi allein nicht vorwärts kam. Und doch mußte sie literarische Lehrerin werden, wenn sie mit Mutter, Vater und Rudi nicht verkommen sollte, ehe Koja sein Ziel erreicht hätte. Und wenn er's erreicht hatte, war dann noch auf ihn zu zählen? Wuchs er sich nicht, wie jeder von Liebe Verwöhnte zu einem Selbstling aus, der für empfangene Opfer kein Gedächtnis hatte? So sehr sie das Landleben liebte, sie mußte wenigstens auf ein oder zwei Jahre nach Wien, wo sie die Bildungsgelegenheiten aufsuchen wollte, um später doch auf dem Lande ihr Häuschen der Sehnsucht zu erwerben, wo der Vater unter ihren Augen bei der Arbeit sich ändern sollte. Denn solange er der Zerstörer des Familienwohles blieb, waren alle Träume von Glück nichtig. Schneller als Agi beabsichtigt hatte, wurde sie zur Übersiedlung nach Wien genötigt.
Lorent war mit dem Fuhrwerk in Bruck gewesen und hatte bei drohendem Gewitter die Pferde heimgehetzt, weil er sich so krank gefühlt hatte, daß er kaum aufrecht sitzen konnte.
Ohne die schweißtriefenden Pferde trocken zu reiben, ohne sie nach dem Ausspannen im Hofe herumzuführen, hatte er sie in den Stall gestellt, getränkt, gefüttert und war heimgegangen. In der Nacht war eines der Pferde an Herzschlag gefallen, das andre hustete. Die sofortige Entlassung des unbrauchbaren Kutschers war die nächste Folge. Von seiner gerichtlichen Verfolgung, die doch keinen Schadenersatz gebracht hätte, nahm der Verwalter Abstand.
Da entschloß sich Agi zur Übersiedlung nach Wien. Sie fuhr hin, ohne Koja zu verständigen. In der noch unausgebauten Weyringergasse auf der Wieden fand sie eine sonnige Wohnung im dritten Stock, von der aus über den nur zum Teil verbauten Gürtel und über die Linienwälle hinweg der Blick frei war auf den Park zwischen dem Süd- und Ostbahnhof und weiter bis zum burgartigen Arsenal.
Eine angenehme Überraschung erlebte sie, als sie – auf Enttäuschungen gefaßt – Arbeit suchen ging. Ohne langes Fragen fand sie im Damenschneidersalon der Frau Schmidt Beschäftigung. Die Geschäftsinhaberin, eine überzarte, blonde, kränkelnde Frau, nahm sie sofort probeweise auf. Die Übersiedlung ging diesmal mit der Bahn glatt vonstatten, die Einrichtung in der neuen Wohnung nahm nur zwei Tage in Anspruch, und Agi trat ihren Dienst bei Frau Schmidt an. Diese unterwies ihre »Neue« persönlich im Schnittzeichnen und Zuschneiden. Schon nach der ersten Woche zahlte sie ihr den vollen Lohn einer Arbeiterin, es waren wöchentlich achtzehn Gulden, und versprach ihr die baldige Ausfertigung eines Lehrbriefes, was die menschenkundige Frau von Agi erwartet hatte, ward von dieser übertroffen: Im Maßnehmen, das bisher Sache der Frau gewesen war, erwies sich Agi ebenso verläßlich wie in der Vermittlung einträglicher Bestellungen mundgewandt. Da wurde sie erste Vorarbeiterin und bezog den Wochenlohn von zweiundzwanzig Gulden.
Wenn auch der Vater jetzt beschäftigungslos war, Agi verdiente genug, daß die Familie leben konnte, freilich fast so bescheiden, wie einst in der Pelzgasse. Sie nahm ihr Studium unverdrossen auf. Im nächsten Mai wollte sie die Reifeprüfung machen. Ihr Groll gegen Koja schwand, obwohl von ihm keine weitere Nachricht eingetroffen war. Erst in der letzten Ferienwoche schrieb sie ihm einmal einen ausführlichen Brief:
»Unser lieber Koja!
Wenn Du wieder heimfährst, such' uns nicht mehr in Mannersdorf, sondern in Wien nach der Anschrift auf der Rückseite des Briefumschlages. Warum wir hergesiedelt sind, sag' ich Dir mündlich. Ich bin jetzt erste Vorarbeiterin im Kleidersalon der Frau Schmidt und verdiene genug für uns alle, daß wir nicht verhungern. Dir ist es nicht zum Bewußtsein gekommen, aber wohl mir, daß Du mit Deiner Charakterentwicklung in ein tiefes Wellental geraten bist, wie immer, wenn es Dir zu gut geht: Du bist ein Selbstling geworden, der sich uns entfremdet hat, während es uns weniger gut ging als Dir. Daran bin nun ich wieder schuld, weil ich so dumm war, in gekränkter Liebe zu schweigen, als ich hätte reden sollen. Du wirst wieder der Unsre werden, wenn wir Dich bei uns haben. Ich habe Dir in unserer neuen Wohnung ein Stübchen eingerichtet, das schöner ist als das in der Pelzgasse, vor dem Fenster hab' ich Dir mit Vaters Hilfe ein Blumengärtchen angelegt, das Deine Augenweide sein wird. Dort blüht jetzt meine Passiflora und eine Wachsblume, an deren weißen Blüten große Honigtropfen hangen.
Wir sehnen uns zwar alle nach Dir, aber wir gönnen Dir Deine Freuden. Es küssen Dich
Agi, Mutter, Vater und Rudi.«
Am fünften Tage nach Abgang dieses Briefes traf Koja in Wien ein. Sein vom flaumigen Bart umrahmtes Gesicht war gebräunt, aus seinen Augen strahlte die Freude am Leben. Es war eine Lust, ihn erzählen zu hören. Nach Agis Studium fragte er nicht, und auch Agi schwieg davon. Schon am nächsten Tag übersiedelte er zu den Seinen. Agi und Mutter hatten ihren Koja wieder, der bei ihnen am besten aufgehoben war.