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Spätabends, als Vater und Mutter zu Bette gegangen waren und auch der kleine Rudi ruhig schlief, legte Agi ihre Näharbeit zusammen und machte sich zum Schreiben zurecht. Draußen schneite es kleine glitzernde Flocken, die auf den Fensterrähmchen weiße Polster bildeten, im Herde knisterte das Feuer, wohlige Wärme durchströmte die stille Stube, anheimelnd tickte die Uhr, und Agi schrieb in behaglicher Sammlung:
»Unser lieber Koja!
Dein inhaltsreicher Brief hat uns ergriffen und erfreut. Ich habe manche Geschichte eines bedeutenden Mannes gelesen, der so wie Du das Glück hatte, in der Jugend bittere Not, selbst den Hunger, aber auch die rettende Liebe kennen zu lernen. Du bist viel besser daran, als irgendeiner Deiner wohlhabenden Mitschüler. In Dir bleibt die Sehnsucht nach einem besseren Leben, das Du bei fleißigen, wohlhabenden, feingebildeten, wohltätigen Menschen kennen gelernt hast, immer wach und Du wirst unentwegt arbeiten, um Dir selbst und Deinen Lieben das bessere Leben zu erringen, und auch Fremden helfen zu können. Du wirst ein Mann werden, der für die Leiden seiner Mitmenschen ein tiefes Verständnis haben wird. Es ist nicht anders, als daß Dich das strenge Schicksal zum hilfsbereiten Manne erzieht. – Ich bin um zwei Jahre älter als Du; daher mag es kommen, daß ich Dir etwas voraus bin und das Glück genieße, Dir und der Mutter raten und helfen zu können. Der Vater verdient, was er für sich braucht und das ist uns eine rechte Erleichterung, wenn er auch für uns nicht viel erübrigen kann. Denk' Dir, ich nähe jetzt an einer Aussteuer, für die ich noch vor Weihnachten über 200 Gulden bekommen werde. Bruder! Damit werd' ich mehr ausrichten, als Du Dir träumen läßt. Deinen ersehnten Herkuleskäfer sollst Du zu Weihnachten haben, aber was mir die Hauptsache ist: ich werde Dir ein möbliertes Kabinett bis zum Schuljahrsschluß bezahlen können. Du wirst ein Zimmerherr sein, so wie der Herr Urban. Und was wir im Versatzamt haben, wirst Du auslösen und es bei Dir behalten, daß es Dir in etwaiger Not wieder einmal zur Aushilfe dienen könne.
So gut auch das unglückliche Fräulein Rosa zu Dir ist, so rührend auch ihre liebevolle Sorge um ihren alten Vater sein mag, werde ich doch froh sein, wenn Du Dir einmal durch Stundengeben so viel verdienst, daß Du auf Deinem Stübchen Dein ordentlich verdientes Abendmahl allein verzehren kannst. Du brauchst die Abende für Dich. Du brauchst sie nicht nur zum Lernen, Du brauchst sie zur Besinnung auf Dich selbst, damit Du nicht haltlos und planlos dahinlebest. Und so gut es Dir auch im Jünglingsverein gegangen ist, betrübt es die Mutter und mich, daß Du dort wieder als ein Almosenempfänger dich hast bewirten lassen. Nur wo Du etwas leistest, sollst Du etwas empfangen. Darum rat' ich Dir immer wieder und wieder: Gib Stunden, soviel du kannst und werde endlich von der Mildtätigkeit der Menschen unabhängig. Du bist jetzt in dem Alter, wo Du schon mehr Selbstgefühl haben solltest. – Ich schick' Dir diesmal zwei Guldenzettel. Kauf' Dir als Weihnachtsgeschenk von mir im vorhinein ein dickes Heft mit steifen Deckeln. Das mach' zu Deinem Tagebuch. Erinnere Dich an den Satz im lateinischen Übungsbuch: » Utinam omnes Pythagoraeorum more cotidie commemorent, quid interdiu dixerint, audierint, egerint!« – Wenn Du das tust, was in der Philosophenschule der Pythagoreer Brauch war, wenn Du täglich abends Dir vergegenwärtigst, was Du untertags Bedeutungsvolles (im guten wie im schlimmen Sinne) gesagt, gehört und getan hast, dann wirst Du Dich schon um Deiner Selbstachtung willen vor allem hüten, was Dich entwürdigen oder schädigen könnte; Du wirst das tun, was Dich dem Ziele näher bringt, was Dir und uns anderen Freude bereiten wird. Schreib' als Leitsatz auf die erste Seite Deines Tagebuches folgendes Gedicht (ich glaub', es ist von Rückert):
»Das Unkraut ausgerauft, wächst eben immer wieder.
Und immer kämpfen mußt du neu das Böse nieder.
Wie du mußt jeden Tag neu waschen deine Glieder,
So die Gedanken auch an jedem Tage wieder.«
Und gleich auf der zweiten Seite beginn mit der kurzen Aufschreibung der ausgezeichneten Geschichte, die Du aus der Versammlung der jungen Leute als köstlichen Fund heimgetragen hast. Du willst Arzt werden, damit Du andern helfen kannst. O, mein lieber Koja! schon der stete Hinblick auf dieses Wirken wird Dich davor bewahren, daß Du etwas tätest, was Dich körperlich oder seelisch schädigen könnte. Wenn Du andern helfen willst, mußt Du selbst ein Gesunder und Starker sein. Ich leg' Dir die Photographie der Mutter bei, gib sie in Dein Tagebuch und schau' sie täglich in der Früh' an, bevor Du aus dem Hause gehst. Diese starke Frau, die uns Kinder nicht im Elend hat verkommen lassen, sei Dir eine Heilige; sie betet täglich für Dich, daß Du als guter, reiner Bursch' zum tüchtigen Manne werdest. Du spürst in der Ferne ihre führenden Gedanken. Mach' ihr heißes Muttergebet wahr. Denk' an sie, daß Du nichts tuest, worüber sie weinen müßte und daß Du ja tuest, was der Freudenlohn ihrer Liebe werden möge. Und denk' auch ein bißchen an Deine getreue Schwester
Agi
Nachschrift: Daß Du beim Präparator Schuster Dir das Mittagmahl verdienst, freut uns ganz besonders. Ist es nicht viel ehrenvoller, sich das Essen zu verdienen, als es sich schenken zu lassen? Hast Du als Bettelstudent in St. Pölten nicht oft ein dämliches Gefühl gehabt? – Horch' in Dich hinein: ist nicht jetzt ein leiser Jubel in Dir darüber, daß Dein zunehmendes Können Dir und anderen nütze ist? Das wird noch ganz anders werden, wenn Du einmal Doktor sein wirst.« –
Agi streckte die Tage, um die Aussteuer rechtzeitig vor Weihnachten liefern zu können. Sie nähte bis 1 Uhr nachts, schlief dann tief und traumlos, bis sie der Wecker um 5 Uhr aufrief und ließ schon vor 6 Uhr früh die Nähmaschine rasseln. Das beste Tageslicht um die Mittagszeit herum nützte sie aus, um das augenmörderische Ausnähen der Monogramme zu bewältigen.
Als sie endlich mit ihrer Bestellung fertig war, packte sie alles säuberlich in zwei reine Tischtücher und wollte liefern. Da sie aber allein die zwei schweren Päcke nicht zu tragen vermochte, holte sie erst die Magd der Wirtin zur Hilfe. Sie ließ das Mädchen vorangehen und ging ihr nach, versunken in fröhliches Vorrechnen, wie sie das viele Geld verwenden wollte, Wie tat ihr die prickelnde Kühle und der Anblick des Schnees so wohl, der die Dorfstraße mit reinem Weiß deckte. Da begegnete sie der Rauscher-Seraphine, der Tochter des Verwalters, einer Kundschaft, die ihr bei ihrem zweiten Kommen das Duwort angetragen hatte. Und Seraphine war froh, der neuen Freundin von ihrem jungen Glücke vorschwärmen zu können, während sie ihr beim Tragen ihres Packes half. Der Forstadjunkt hatte beim Vater um ihre Hand angehalten. Seit Mittag waren sie verlobt. Und schon bat sie, Agi solle auch ihr die Aussteuer nähen. Oh wie gern sagte Agi zu! Mit halbem Ohre hörte sie der Freundin zu und machte sich dabei ihre eigenen Gedanken. Sie wünschte, alle Mädchen von Mannersdorf sollten nacheinander glückliche Bräute werden; beim Aussteuernähen allein würde sie ein Vermögen verdienen. Und wenn sie Geld in der Sparkasse liegen hatte, dann brauchte Koja seine Zeit nicht fremden Leuten zu geben, studieren konnte er, ohne Stunden zu geben, ohne beim Präparator zu arbeiten.
An der Türe des Wirtshauses verabschiedete sie ihre Freundin. Sie fand die Wirtin im leeren Extrazimmer. Mit Stolz breitete sie ihre Arbeit auf zwei Tischen aus, jedes Stück mit dem Monogramm nach oben, prüfend musterte die Wirtin die Säume und die Knopflöcher. Sie schob die Hand unter die Monogramme, daß die hochgewölbte Weißstickerei ins rechte Licht kam. Dann griff sie nach der beigelegten Rechnung. Agi fühlte ihr Herz klopfen: Ob der Wirtin vielleicht der Nählohn zu hoch war, über den Agi schon bis auf den letzten Gulden verfügt hatte? – Aber die schien ihr nichts vom Lohn abhandeln zu wollen; denn sie begann zu loben: »Schön haben Sie das gemacht, ja, Fräul'n Agi, sehr schön! Alles was recht ist. – Aber es langt halt net.« Verständnislos fragte Agi: »Was langt nicht?« – »Na, das ist doch leicht zu verstehen: Ihr Herr Vater hat bei uns seit fünf Wochen auf Borg gegessen und getrunken. Schuldig ist er mir zweihundertfünfunddreißig Gulden. Sie kriegeten zweihundertsechzehn, da fehlen noch neunzehn Gulden. Verstehen S' das jetzt, wenn ich sag', ›es langt net?‹« – Bleich bis in die Lippen stand Agi da. Kein Aber kam über ihre Lippen. Nur ihrem Staunen gab sie Ausdruck: »Ich versteh' nur nicht, wie die Schuld in fünf Wochen auf zweihundertfünfunddreißig Gulden anwachsen konnte.« »Nicht, daß er selber so viel gebraucht hätt',« gab die Wirtin zur Antwort, »aber beim Kartenspielen ist's Brauch, daß die Herren um einen Liter Wein oder um einen Doppelliter Bier spielen. Wer verliert, der zahlt. Und gut geschehen hat sich's der Herr Vater doch auch lassen bei uns: Schweinsbraten, Kalbsbraten, Omeletten, Kaiserschmarren, alles hat ihm geschmeckt. Mein Gott, das ist ja zum Begreifen; auf der Strecke kriegt er ja nichts Gescheites; 's Essen hat er sich bei uns gelobt und erst das Pilsner Bier und den Riesling.« – Agi legte die Tischtücher, die vom Tragen der Aussteuer verknittert waren, langsam und bedächtig auf den Bügen zusammen, strich kräftig mit der Hand darüber und lachte krampfhaft auf: »Und jetzt langt's nicht!« – »Sie tun mir leid!« Die dargebotene Hand der Wirtin übersah sie. – »Guten Tag!« während sie durch den Schnee heimzu stapfte, wurden ihre Füße schwer, immer müder, immer langsamer ging sie dahin. Als sie daheim in den Lichtkreis der Lampe trat, erschrak die Mutter: »Kind! wie siehst du aus? was ist dir?« – Unfähig zu sprechen, warf sich Agi in den Stuhl vor der Nähmaschine, wühlte die Finger ins schneefeuchte Blondhaar und schrie auf: »Mein Kopf, mein armer, übernächtiger Kopf! – O weh!« »Sag', was ist's?« drängte die Mutter. – »Es langt nit, es langt nit!« – »So sag' doch, Agi, was langt nit?« – »Oh, wie hab' ich mich gefreut, was ich für Koja und für uns verdiente! Wie gern hab' ich genäht Tag und Nacht, wenn mich auch der Rücken geschmerzt hat? Aber auf meinen Lohn hat die Wirtin gerechnet: Abarbeiten hab' ich müssen, was der Vater bei ihr Schulden gemacht hat! Zweihundertfünfunddreißig Gulden in fünf Wochen!« »Wie ist denn das möglich!« warf die Mutter ungläubig ein. »Wie das möglich ist? Das hab' ich auch gefragt. Beim Kartenspiel hat er literweis den Gewinnern Bier und Wein gezahlt und sich selbst hat er auch nichts abgehen lassen. Schweinsbraten, Kalbsbraten, Omeletten, Kaiserschmarren hat er sich schmecken lassen, Pilsner Bier und Riesling! Du, die stillende Mutter, hast von Erdäpfeln gelebt, von Brot und Zichorienkaffee. Und Koja hat geweint vor Hunger.« Agi hatte die Worte in Erbitterung hervorgestoßen. Mit bebenden Händen tastete sie am Eisengestell der Maschine hinunter, ließ die Stirne hart aufs Brett fallen und schluchzte stoßweise, daß die Maschine erklirrte. Und immer wieder stieß sie die Worte hervor: »Es langt nit, es langt nit. Es wird nie langen! – Mutter, Mutter, ich bring' den Koja nicht los aus dem Elend in der Engelgasse! – Koja, unser Koja, der Besondere! – armseliger Bettgeher und Schachspieler!« Die Mutter stand fassungslos über dem Schmerz der Tochter. Tief ergriffen fand sie lange kein Trostwort. Leise strich sie ihr mit der Rechten über den Scheitel, hob ihr Gesicht zu sich empor, küßte ihr die Tränen von den Wangen und tätschelte ihr den Rücken. »Agi, wir hätten den Vater nicht so viel wissen lassen sollen. – Er hat gemeint, du verdienst sonst auch noch viel. Wenn er kommt, laß mich allein mit ihm.«
Agi stand auf. Sie langte aus ihrem Körbchen einen angefangenen Socken und begann strickend im Zimmer auf und ab zu gehen, wie immer, wenn sie scharf dachte; das rasche Klappern der Nadeln verriet noch ihre Erregung. Sie überlegte. Und plötzlich brach sie in Selbstvorwürfe aus. »Hätt ich doch geschwiegen, hätt' ich wenigstens dem Koja nichts davon geschrieben!« – In Selbstverhöhnung lachte sie auf: »Den Herkuleskäfer hab' ich ihm zugesagt für Weihnachten und ein möbliertes Kabinett bis zum Schulschluß; die Pfänder sollt' er auslösen im Versatzamt.« – Und wieder schwieg sie, aber langsamer klapperten die Nadeln. Dann trat sie ans Fenster und legte die schmerzende Stirne an die kalte Glasscheibe.
Nach einer Weile wendete sie sich zur Mutter. Ihre Wangen waren gerötet wie im Fieber: »und den Herkuleskäfer kriegt er doch«. – Dann legte sie sich auf den Diwan, das Gesicht gegen die Wand gekehrt und verfiel in tiefen Schlaf. Leise ging die Mutter ihrer Beschäftigung nach. Der Abend sank, aber sie machte kein Licht. vor dem Sparherd saß sie ganz nahe am Feuertürchen und strickte im Lichtschimmer der flackernden Flammen am Socken, der Agi entfallen war.
Als Lorent heimkam, stieß er im Dunkeln an einen Sessel. Da fuhr Agi auf, ertastete ihr Umhängtuch und drückte sich am Vater vorbei ins Freie. Draußen hatte es zu schneien aufgehört. Der Mond stand hoch. Der Widerschein seines kalten Lichtes schimmerte bläulich auf dem Schnee. Agi wanderte ziellos dahin, die Dorfstraße entlang und wollte am Gemeindewirtshaus vorbei. Da bannte der Zusammenklang vieler Frauen- und Männerstimmen und einer überlauten Klavierbegleitung ihre Schritte. Die Dörfler waren bei ihrer Liedertafel. Was war es, das sie sangen? – Zum erstenmal in ihrem Leben vernahm sie das Schillersche Lied an die Freude. Helle, fast schrille Sopranstimmen übertönten den schwachen Tenor und den noch schwächeren Baß:
»Göttern kann man nicht vergelten,
Schön ist's, ihnen gleich zu sein.
Gram und Armut soll sich melden,
Mit dem Frohen sich erfreu'n.
Groll und Rache sei vergessen,
Unserm Todfeind sei verzieh'n;
Keine Träne soll ihn pressen,
Keine Reue nage ihn.
Unser Schuldbuch sei vernichtet,
Ausgesöhnt die ganze Welt,
Brüder, überm Sternenzelt
Richtet Gott, wie wir gerichtet.«
Weiter horchte Agi nicht, von Kälte geschüttelt stapfte sie fort durch den Schnee. Was sie gehört hatte, war ein Evangelium, dem zu glauben sie die Kraft nicht in sich fühlte. Unsagbare Traurigkeit befiel sie. Sie kam sich klein vor. Sie näherte sich langsam dem Schlosse. Irgendwo in der Ferne hub der Singsang des Nachtwächters an. Sie machte kehrt.
Drei Personen vertraten ihr den Weg: eine ältere Dame, ein Herr und ein Mädchen; es war die Rauscher-Seraphine. Unerkannt wollte Agi an ihr vorbei. Aber schon fühlte sie sich am Arm gepackt und zurückgezogen. »Agi, was ist dir? Kommst du von uns? – Wir waren bei der Liedertafel. – Warst du bei uns wegen meiner Aussteuer?« Da mengte sich die Mutter darein. Sie bestand darauf, Agi sollte umkehren, mit ihnen eine Tasse Tee zu trinken. Und Agi ließ sich führen. Als sie im wohldurchwärmten, bildergeschmückten Speisesaal mitten unter den fröhlichen Menschen saß, dem gutgelaunten Verwalter gegenüber, der sie mit der Frage neckte, ob sie ihre eigene Aussteuer schon fertig hätte, die Männer wären ganz weg über sie, den Ausbund aller Mädchentugend, da fiel die Traurigkeit von ihr und sie fand die scherzhafte Erwiderung, ihr Bräutigam müßte ein Ausbund von Männertugend sein, ein solcher wär' ihr in ganz Mannersdorf noch nicht begegnet.
Seraphine schwatzte lebhaft auf sie ein und legte ihr ein belegtes Brötchen nach dem andern auf den Teller. Nach der zweiten Schale Tee wurde Agi heiß, die Kerzenflammen vor ihren Augen bekamen große Lichthöfe, das Zimmer begann sich zu drehen, als ob sie trunken wäre. Da straffte sie sich auf und erklärte unvermittelt: »Ich muß heim!« – Der Forstadjunkt und Seraphine ließen sich's nicht nehmen, sie heim zu begleiten. Und so glücklich waren sie eines mit dem anderen, daß sie den ganzen Weg leise vor sich hinsangen, was ihnen aus dem vielstrophigen Lied an die Freude in den Sinn kam.
Als Agi am nächsten Morgen im Begriffe war, zu der Verwaltersfrau zu gehen, vertrat ihr ein älterer Bauer den Weg; er war im schwarzen Sonntagsstaate und hatte ein Myrtensträußlein im Knopfloch.
Es war der alte Gstettner, einer der wohlhabendsten Bauern in Wannersdorf. Agi meinte, er käme als Kundschaft, führte ihn in die Stube und bot ihm einen Stuhl an. Er aber begann zu ihrem Staunen von seinem G'schwisterkind zu erzählen, dem jungen Brandstätter, dem im vorigen Jahr die Frau gestorben war; er legte des Witwers Photographie vor Agi, lobte ihn als nüchtern, gutherzig und angesehen, schilderte das schöne Schnittwarengeschäft, das er im eigenen schuldenfreien Hause zu Bruck an der Leitha hatte, erzählte von seinen zwei lieben Kindern, die ohne Mutter recht »arme Waserln« Kleine Waisen. wären, zählte die vielen Joch Wiesen, Acker und Wald auf, die zum Haus gehörten, sprach vom gesegneten Viehstand und von den Sorgen des jungen Witwers. Agis Staunen wuchs. Da kam er zu dem Schluß: »In so ein Haus gehört eine brave, gescheite, rechtschaffene Frau, die den Kindern eine gute Mutter wär!« – Nun begriff Agi, wo er hinaus wollte. Sie schlug ihre Augen zur Mutter auf, die in sichtlicher Erregung neben ihr stand. Eine Blutwelle stieg ihr ins Gesicht, dann aber wurde sie blaß und sprach unvermittelt: »Nix für ungut, aber ich muß jetzt fort; auf mich wartet eine Kundschaft.« – Betroffen über die sichtliche Abwehr suchte der Brautwerber ein vermeintliches Hindernis wegzuräumen: »Und er schaut nit aufs Geld, der Brandstätter, nur auf die Bravheit, und eine brävere Braut wüßt er sich nit weit und breit als Sie, Fräulein Agi –« –
Da gab sie ihm langsam und jedes Wort wägend die Antwort: »Sagen Sie ihm meinen Dank für seine gute Meinung; ich wünsch' ihm von ganzem Herzen, daß er eine so gute Frau findet, als er glaubt, daß ich's sein könnt. – Aber ich heirat' nicht; meine Leut' könnten mich nicht g'raten. entbehren. Es ist mein letztes Wort. – B'hüat Gott!«
Damit reichte sie ihm die Hand und ging, gefolgt von den Augen der Mutter. Den Vormittag verbrachte sie bei Seraphine mit dem Aufteilen und Zuschneiden der schönen Ballen Leinen, Chiffon und Barchent, aus denen sie die Wäscheaussteuer für die Braut herstellen sollte. Es war ausgeschlossen, daß Agi die neue Bestellung vor dem Christfest erledigen konnte, aber ihre Andeutung, sie möchte ihren Lieben recht schöne Weihnachten bereiten, genügte, daß ihr die Verwaltersfrau zweihundert Gulden auf den Lohn vorausgab.
Daß sie diesmal nicht daheim nähte, sondern beim Verwalter auf der Stöhr, Im Hause des Auftraggebers, bei ganzer Verköstigung. brachte ihr ungeahnte Vorteile. Der Aufenthalt im schönen Heim des gutgestellten Beamten, der ein leidenschaftlicher Bildersammler war, gestaltete sich für die arme Näherin zu einer Reihe von Festtagen. Ihr, die nie in ihrem Leben eine Bildergalerie gesehen hatte, war jeder Stahlstich, jedes Ölbild ein volles Erlebnis. – Den tiefsten Eindruck machte auf sie ein handkolorierter Stich: Böcklin und der Tod. Der Meister führt den Pinsel, unbekümmert um den nahen Tod, der ihm über die Schultern zugrinst. – Seraphine, die bei den Mahlzeiten Agis Tischnachbarin war, legte der Freundin die besten Stücke vor. Nie in ihrem Leben, auch nicht in der Neudazeit, hatte Agi so gut und reichlich gespeist, wie bei den Verwaltersleuten, die aus der Verlobungsfeier ihrer einzigen Tochter nicht herauskamen. Mutter Maria war glücklich darüber, daß Agis Wangen sich rundeten und Farbe bekamen.
Am letzten Schultage vor Weihnachten fuhr Agi mit dem Morgenzug nach Wien. Koja jubelte auf, als er früher wie sonst vom Gymnasium kam und die Schwester auf dem Rande seines Bettes sitzend fand, mit dem Ausbessern seiner Wäsche beschäftigt. Stumm vor Freude lagen sich die Geschwister in den Armen. Die süßfreundliche Bettfrau ahnte nicht, daß Agi gekommen war, für ihren Bruder eine andere Unterkunft zu suchen.
Agi brauchte nicht weit zu gehen, was ihr beim Buchbinder in St. Pölten schwer und unvollständig gelungen war, das gelang ihr jetzt leicht und ganz beim Präparator Schuster, den sie zunächst wegen des Herkuleskäfers aufsuchte: Er nahm Koja in Kost und Wohnung ohne ein anderes Entgelt, als seine kunstgewerbliche Hilfe, die er besser ausnützen konnte, wenn er den geschickten Jungen im Haus hatte. In der Materialienkammer, wo auch die besiedelten Aquarien und Terrarien untergebracht waren, wurde für den Studenten ein Bett aufgestellt und bei Tische bekam er seinen Platz links vom Gesellen. Noch am selben Tage konnte er mit Agis Hilfe übersiedeln. – Ungern gab er der Schwester auch darin nach, daß er sich vom abendlichen Dienste beim greisen Vater des Fräulein Rosa freimachen sollte. Aber der brauchte keinen Partner mehr zum Schachspiel. Er war in der vorigen Nacht gestorben.
Koja verbrachte die Weihnachtsfeiertage in Wannersdorf. Agi war in ihrem Glück. Nicht nur, daß sie des Bruders überschwengliche Freude mitgenoß, die ihm der Herkuleskäfer und ein Kistchen versteinerter Muscheln und Schnecken bereitete, sie hatte auch Mutter und Vater beschenkt und den alten Zeiselgrabner mit einer neuen Pfeife und ein paar Päckchen Tabak glücklich gemacht. Sie selbst hatten die Verwaltersleute und die Hausfrau mit Lebensmitteln so reichlich bedacht, daß sie den Ihrigen richtige Feiertage bereiten konnte.
Und wieder einmal genoß sie das Hochgefühl, die Familie durch unentwegte Arbeit und Vorsorge aus der Tiefe trostloser Armut in fröhliches Behagen gebracht zu haben. Alle drückenden Sorgen waren weg.