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Von János, der es im Deutschen zu einem kühnen und verständlichen Radebrechen gebracht hatte, bekam Koja am Ende der Ferien die runde Summe von hundertfünfzig Gulden. Koja füllte sie durch Hinzufügung von fünfzig Gulden aus seinem Erzieherlohn zu zweihundert auf, wechselte sie in lauter Silbergeld um und nahm sie bei seinem Abschiedsbesuch, den er allein machte, nach Mannersdorf mit. Die Mutter mußte die Schürze aufhalten und er weidete sich an ihrem Staunen, Wundern und Freuen, als er den klingenden Schatz Stück nach Stück hineinfallen ließ. Die Mutter bekam feuchte Augen und Agi jubelte. Leinwand und Wollstoffe wollte sie kaufen, um den Bruder mit Wäsche und Kleidern auszustatten, wie es sich für einen Obergymnasiasten gehörte! Aber fünfzig Gulden gab sie Koja zurück. »Kauf' dir, was dich freut und was dich in der Naturgeschicht' vorwärts bringt, Bücher oder irgendein Skelett; mach' dich vertraut damit, was du später brauchst; du willst ja Doktor werden; da mußt du erst ein guter Naturgeschichtler sein.« – Und mit Freuden nahm Koja das Geld aus der Schwester Hand; sie hatte recht, er sollte davon eine bleibende Freude haben. Tags darauf, als er seine Habseligkeiten und die im Leithakalk gesammelten Schneckenkerne, Muscheln und Haifischzähne in zwei Kisten packte, hatte er das peinliche Gefühl, als nehme er vom lieben Wilfleinsdorf Abschied für immer.
Als er aber in Wien seine Studien im Obergymnasium aufnahm und sich auch den gesteigerten Anforderungen des Unterrichtes seiner Zöglinge gewachsen fühlte, schwand die schlimme Vorahnung, sein Selbstvertrauen wuchs. Bei einem Antiquar erstand er für sich ein abgerissenes Exemplar des Bock'schen Buches, bekam aber dann erst Rankes zweibändiges Werk über den Menschen zu sehen und kaufte auch das, alles in allem zahlte er fünfzehn Gulden; noch blieben ihm fünfunddreißig.
Sein Verkehr mit Münchhausen lockerte sich, da Willy die Akademie der bildenden Künste bezogen hatte, um sich gleich seinem Großvater Danhauser zum Maler auszubilden. Andere Kameraden schlossen sich Koja an. Darunter war der Sohn eines kleinen Wirtes in der Matzleinsdorfer Straße, der schlank aufgeschossene, schmalbrüstige Kurt Klempner, der ein gut Stück des Schulwegs mit Koja gemeinsam hatte. Mitglied der geheimen (pennalen) Verbindung Arcadia, redete er zu Koja begeistert vom Schläger- und Kapierfechten, vom Rempeln, von Mensuren, vom Kommers und gebrauchte bei jeder Beteuerung die Formel »Auf Cerevis«. Anfangs hielt Koja das ganze Geschwätz für Aufschneiderei, als aber Klempner ihn einmal auf den Paukboden mitnahm, der neben der Kneipe im Pferdestall des benachbarten Kurschmiedes untergebracht war, staunte Koja den verbummelten Mediziner Wenz an, der mit wahrer Meisterschaft die jungen Leute im Gebrauch der Schläger unterwies. Koja bekam von der Sache eine günstige Meinung. Da der abschüssige Bretterboden des Stalles, der nur bei Tage zum Einstellen der zu beschlagenden Pferde diente, hohl war, dröhnte er dumpf, so oft einer der Fechtenden beim Ausfall kräftig aufstampfte. Das Pfeifen und Klirren der Klingen, die Kommandorufe des Fechtmeisters, das blitzschnelle Parieren Abwehren. der Hiebe, ließ Koja die Geistesgegenwart und Tatbereitschaft der Fechtenden bewundern, wenn sie auch gepolstert und mit mächtigen »Stierköpfen« maskiert aufeinander losgingen. Als gleich nach der Fechtübung eine Schlägermensur zwischen einem Arkaden und einem fremden Pennäler ausgetragen wurde, bei der nur die Augen der Kämpfenden geschützt waren und der Arkade den Gegner durch eine Schulterquart kampfunfähig machte, die der Mediziner an Ort und Stelle geschickt verband, fühlte sich Koja von einem Fieber der Begeisterung ergriffen und trat als Fuchs in die Verbindung ein. Bald genoß er als Lautenschläger und Singwart nicht nur ein besonderes Ansehen, sondern teilte bei Kneipereien den Vorzug des Fechtmeisters, daß alles, was er trank und aß, auf Verbindungskosten ging.
Den Zierlechnerischen blieb es nicht geheim, daß ihr Student an Freitagabenden focht und kneipte, aber sie duldeten es, weil Koja als Hauslehrer die Kinder wirklich vorwärts brachte. Unter der veränderten Lebensweise des Studenten litt nur der schwerfällige Ferdi. War Koja nach einer verkneipten Nacht reizbarer als sonst, so büßte dafür der verzagte Junge desto mehr, je heftiger er sich gegen die körperlichen Züchtigungen auflehnte. Und einmal geschah es, daß Ferdi die Drohung heraussprudelte: »I laß m'r's net gefallen, i sag's dem Vater.« – Da gab ihm Koja einen schweren Backenstreich. Die Hand auf der brennenden Wange, stürzte Ferdi davon und trat ohne anzuklopfen in die Kanzlei des Vaters. Dem zeigte er schluchzend die gerötete Wange: »Vater, der Student haut mich!« – »Er soll zu mir kommen!« gab der Vater erbittert zurück. – Als Koja die Kanzlei des Baumeisters betrat, bekam er nur wenige Sätze zu hören. »Sie werden meine Kinder nimmer schlagen, Sie versoffener Pennäler, Sie. Und wenn Sie bis zum nächsten Ersten mein Haus nicht verlassen haben, mach' ich Ihrem Direktor von der Sache Mitteilung.« Koja versuchte nicht, sich zu entschuldigen. Jedes Wort konnte die Lage verschlimmern. – Wenn die verbotene Verbindung aufgedeckt wurde, gab's für alle Beteiligten nur eine Strafe, den Ausschluß aus dem Gymnasium. Nein, die Kameraden durfte er nicht verraten. – Wehe wurde ihm ums Herz, als er an Mutter und Agi dachte. – Er verbeugte sich wortlos und ging. – Die unterbrochene Lehrstunde setzte er fort, als ob nichts geschehen wäre. Aber seine Gedanken gingen in die Weite. Wo in der Großstadt sollte er in aller Eile eine Unterkunft, wie nur gleich die Mittel zum Leben finden? – Sollte er den guten Baumeister Prokop aufsuchen und ihn um Hilfe bitten? – Nein! – Auch vor Münchhausen hätte er sich geschämt. Sein erster Gang war zum Präparator Schuster. Befremdet schaute er in das einst an Prachtexemplaren aller Art so reiche Schaufenster; jetzt war es halb ausgeräumt. Im Laden fand er die Frau Schuster. Sie trug ein schwarzes Kleid und war auffallend blaß. »In Trauer?« fragte er. – »Vorige Woche haben wir meinen Mann begraben. Wieder eine Arsenikvergiftung. Es ist schnell gegangen mit ihm. Jetzt lös' ich das Geschäft auf und zieh' zu meinem Bruder nach Tullnerbach. Die Bauernarbeit wird mir gut tun.« Sie zog eine Lade heraus, in der allerlei Schädel und Skeletteile waren. »Vielleicht können S' was brauchen? – Ich geb' alles spottbillig.« Koja vergaß, was ihn hergeführt hatte, und begann die Knochen zu mustern. Da waren die schön weiß gebleichten Skelette eines menschlichen Beines, eines Menschenarmes und daneben ein gebräuntes, etwas verwittertes, aber vollständiges Skelett vom Hinterbein eines Schimpansen, dessen starke Daumenzehe weit wegstarrte. Es waren Vergleichsstücke zur Abstammungslehre, und zwar gerade diejenigen, die ihm beim Durchblättern des jüngst erworbenen Rankeschen Werkes aufgefallen waren. – Schon zog er die Brieftasche, da fiel ihm ein, daß er bald ohne Unterstand war. Und er steckte die Brieftasche wieder ein. Begehrlich hingen seine Augen an den Skelett-Teilen. Die Klugheit hieß ihn das Geld zurückhalten, daß er nicht hungern brauchte, bis er etwas Neues fände. Eine andere Stimme aber sprach lauter in ihm: »Zugreifen, die Gelegenheit kommt nicht wieder!« – Da redete ihm die Witwe zu: »Nehmen Sie's um zwanzig Gulden, am liebsten tät ich's Ihnen schenken, aber –.« Noch zögerte er. Wie würde ihm Agi raten? – »Lieber wieder einmal Hunger leiden.« Da holte die gute Frau aus der Materialkammer ein großes Glas mit arseniksaurem Natron und eine Schachtel mit gläsernen Augen aller Arten und Größen, je zwei mit ihren Stieldrähten paarig verbunden: »Das geb' ich Ihnen drauf, vielleicht wird's Ihnen zu einem Verdienste helfen.« – Ja, er wollte sich als Präparator Geld verdienen. Und er griff dankend zu. Am Ersten bekam er ja sein Monatsgeld im Nachhinein. Die kostbaren Knochen und Behelfe in steifem Papier wohlverpackt, machte er sich auf den Heimweg, fröhlich, als hätt' ihm das Christkind einen Wunsch abgelauscht. Und er begann Pläne zu machen wegen seiner künftigen Wohnung. Wie wär's, wenn er sich an den Verbindungsbruder Klempner wendete? Konnte er nicht auf seiner »Bude« nächtigen, bis er eine neue Hofmeisterstelle fand?
Wie gerufen kam ihm in der Matzleinsdorfer Straße Klempner entgegen, das schirmlose Cereviskäppchen schräg auf dem rechten Ohr, das farbige Band auffallend über der Weste, die Hand mit dem kurzen Bummelstock in der Rocktasche. Schmuck war er anzusehen. Er bog mit Koja in die schwach beleuchtete Blechturmgasse ein und hörte sein Anliegen sichtlich erfreut an. Ohne Zögern stellte er ihm den Diwan in seiner Stube zur Verfügung, ja noch mehr: »Wenn du meinem Alten die Freud' machst, ein paarmal in der Woche im Gastzimmer auf deiner Laute zu klimpern und dazu zu singen, daß die Gäst' länger bleiben und mehr Zech' machen, hast du zur Wohnung Kost und Trunk umsonst.« – Da wurde Koja stutzig. Als wär' ihm die Schwester körperlich nahe, sah er ihre grauen Augen im Unwillen blitzen, er begann die Sache vom Standpunkte Agis aus zu überdenken, wenn er's täte, handelte er würdelos. – Hatte Mutter und Agi nicht lieber für einen Hungerlohn Akkordarbeit geleistet, als daß Agi Kassierin wurde im Nachtkaffeehaus? Die Blicke aufs Pflaster geheftet, blieb er nachdenklich stehen. Ein Ausweg wär's aber doch; der bequemste. Da vernahm er plötzlich einen hartklingenden Schlag, und das Cereviskäppchen Klempners fiel ihm vor die Füße. Ein breitschulteriger Student, auf dessen Gesicht eine lang durchgezogene Terz mit einem breiten schwarzen Pflaster verklebt war, und der über der Brust ein Couleurband trug, das dem der Arkadia glich, holte soeben mit seinem Weichselstock zum Schlag aus. Klempner suchte den Hieb zu parieren, wurde aber von dem Holz des andern so kräftig aufs rechte Handgelenk getroffen, daß er mit einem Aufschrei sein Holz fallen ließ. Der Sieger riß ihm das Band von der Brust, warf es zur Erde und ging seines Weges. Er hatte den unbefugten Träger seiner Farben gezüchtigt. Klempner hielt das verprellte Handgelenk mit der Linken und hatte die Augen voll Wasser. Er ließ sich von Koja zu Wenz begleiten, der das Gelenk untersuchte und verband, »Wir müssen andere Farben wählen, die keine offizielle Wiener Verbindung trägt,« war die ganze Weisheit des »alten Herrn«. – Koja hatte die deutliche Empfindung, daß er nicht in die Gesellschaft der Pennäler gehörte. Er ging.
Hungrig und niedergeschlagen kam er bei den Zierlechnerischen an. Während er als Nachzügler sein Abendmahl verzehrte, rückte Traudel nah an ihn heran. »Der Vater ist nimmer bös. Die Regerl und der Flori haben ihn gebeten.« – »Du nicht?« – Da nickte die Kleine. »Und Ferdi?« – »Der hat dem Vater versprechen müssen, daß er fleißiger wird.« – Koja sah dankbar von einem Kind zum andern und dann hinüber zur Frau, die in ihre Zeitung vertieft schien.
Und wieder war es der Geist Agis, der in ihm zu Worte kam: Schau' dich um, daß du ein anderes Haus findest, dann scheide im Guten von hier.
Was Koja bei der Präparatorswitwe erworben hatte, ließ er wohlverpackt; er dachte schon ans Übersiedeln. – Der Anwandlung, die Ereignisse der letzten Tage in einem aufrichtigen Brief der Schwester zu berichten, widerstand er; erst mußte er ein anderes Heim, erst mußte er neuen Verdienst haben, daß ihr das Herz nicht unnützerweise schwer wurde. Dann wollte er sich mit ihr wieder aussprechen, wie mit seinem zweiten Gewissen, rückhaltslos.
Da er aber ein unbezwingliches Bedürfnis hatte, sich Selbstvorwürfe und Vorsätze von der Seele zu reden, schob er den Riegel vor seine Türe und schlug sein Tagebuch auf. Mit seinem eigenen Ich wollte er sich in tiefster Sammlung beraten; beim Tagebuchschreiben wollte er mit sich ehrlich sein. Damit ja keines der Kinder seine Selbsterziehungsgedanken bei einem etwaigen Finden des Tagebuches lesen könne, erfand er sich in aller Eile eine Geheimschrift aus willkürlich gewählten Lautzeichen, daß sie niemand ohne den »Schlüssel« lesen konnte. Er schrieb sich die Selbstvorwürfe von der Seele und fand einen Trost: Er war jetzt in einer schwierigen Lage, wohl; aber es war nicht zum ersten Male. Und jedesmal hatte sein Sichherausarbeiten einen Fortschritt gebracht. Wäre Agi an seiner Stelle verzagt? Nein. Auch er verzagte nicht.