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Nächtliche Fahrten.

Die Fahrt im vollbepackten Möbelwagen, dessen Plachen im feuchten Morgenwinde an die Rückwände der Schränke platschten, hatte für Agi den Reiz einer abenteuerlichen Reise. Hand in Hand saß sie mit der Mutter in der Sofaecke und empfand anfangs ein ungewohntes Behagen darin, einmal müßig das Leben der Großstadt zu beschauen, deren reges Treiben langsam vor ihren Augen zurückglitt. Am lauten Gewühle des Naschmarktes vorbei, ging's in langsamem Steigen zum Viadukt der Südbahn empor und weiter zwischen Fabriken und Armeleut-Zinskasernen, vorbei an wüsten Bauplätzen, Ziegelöfen und wassergefüllten Lehmgruben zur freien Höhe des Wienerberges. Die Blicke der Fahrenden streiften weithin über windbefegte Brachäcker, die sich zum Steinfeld niedersenkten. Dort unten schimmerten an baumbestandnen Wasserläufen die roten Dächer der Ortschaften, überragt von Pappeln und Kirchtürmen. Fern im Osten blaute ein sanfter Höhenzug, dessen bewaldete Flanke von weißschimmernden Steinbrüchen angenagt war. Dort irgendwo lag Mannersdorf, wo das liebe Haus ihrer wartete mit der hohen Linde. Ein fremdes Haus, und doch ein Haus der Sehnsucht, dem sie sich näherten. Langsam fuhr der plumpe Wagen die Straße abwärts, die angezogene Radbremse quietschte und gleichmäßig schlugen die Pferde mit ihren Hufen den Boden, immerzu, immerzu, vom Kutscher, der keine Peitsche führte, wurden sie nur selten angerufen, wenn es galt, einem mit Dünger beladenen Bauernwagen auszuweichen. Unablässig entstiegen der Pfeife des schweigsamen Mannes bläuliche Rauchwölkchen, die im Winde zerflatterten. Mutter Maria, die dem kleinen Rudi die Brust gegeben und ihn durch sanftes Wiegen in ihren Armen eingeschläfert hatte, brach das lange, gedankenvolle Schweigen: »So reisen die Komödianten mit all ihrem Hab und Gut, aus dem alten Elend ins neue.« – »Nein, Mutter, wir reisen nicht ins Elend. – Mag's dem Vater noch so schwer werden, sich in einer Stellung zu behaupten, wir werden uns überall behaupten. Dort drüben in dem Bauerndorf am Leithagebirg' werden wir besseren Verdienst finden als in Wien, wo so viele Näherinnen ein kümmerliches Dasein fristen. – Schauen wir zurück auf die letzten Jahre, seit wir aus der Neuda fort sind, geht es nicht immer vorwärts? – Hat nicht Koja drei Gymnasialklassen hinter sich gebracht? Ist er nicht in der vierten? Dann noch vier Jahre, und er tritt zur Matura an und dann kommt er auf die Hochschule. Und wenn er Doktor wird, ist alle Not vorbei. Aber Landarzt muß er werden und wir werden mit ihm wirtschaften. – O Mutter, das wird schön sein!« – Nicht gewohnt, die Hände müßig zu haben, entnahm sie ihrem Handgepäck einen angefangenen Socken für Koja und begann zu stricken. Bei Maria-Lanzendorf wurden die Reisenden durch eine lange Prozession von Wallfahrern aufgehalten. Da ließ der Kutscher den Wagen vor einem Wirtshause stehen, hing den Pferden die Habersäcke an die Köpfe und ging in die Gaststube. Mutter und Agi holten Kaffee und Brot hervor, aßen, tranken und betrachteten die in lockerer Reihe hinziehenden Wallfahrer; es waren meist Frauen, von denen manche mehr an der Last ihres Kummers zu schleppen schien, als an der Bürde ihrer Jahre. Wieviele Schicksale pilgerten da nebeneinander hin, wieviel unsichtbare Kreuze wurden da getragen! Und weiter ging die stille Fahrt stundenlang über die Ebene mit ihren herbstfahlen Wiesen und Feldern, auf denen hie und da ein Bauer langsam hinter dem Pfluge schritt.

Sonst kein Mensch weit und breit. Agi hatte eine alte Landkarte hervorgeholt und auf ihren Knien ausgebreitet. Schnarrend flogen Ketten von Rebhühnern auf, Hasen hoben sich aus den Furchen, äugten zum knarrenden Wagen herüber und humpelten gemächlich weiter, Haubenlerchen liefen über die Straße, aber keine stieg jubilierend zum grauen Himmel empor, von dem die Wolken tief niederstrichen, gejagt vom Westwinde. Dann nahm die Gegend steppenartigen Charakter an; weitgedehnte Hutweiden, wo vereinzelt Rinder und Pferde grasten, waren mit feuchten Böden durchsetzt, aus denen Binsen und Schachtelhalme wuchsen. Ein Trupp von großen, lichtbraunen, hochbeinigen Vögeln, die Agi aus der Martinschen Naturgeschichte her als Trappen erkannte, bewegte sich in gestrecktem Laufe über die Heide südwärts, wo die kleinen Wasserspiegel der Mooraugen von Moosbrunn herüberschimmerten. – Das hätte Koja sehen sollen! So nahe bei der Großstadt eine so ganz, ganz andre Welt, die Steppe! Je mehr die Abenddämmerung sich auf die flache Einöde niedersenkte, desto ernster dachte Agi an den fernen Bruder. – Müde von der durchwachten Nacht, war die Mutter neben ihr eingeschlafen. Sie aber starrte in die zunehmende Dunkelheit, als wollte sie die unsichere Zukunft mit ihren Blicken ergründen. Da begann erst leise, dann lauter und heftiger ein windgepeitschter Regen gegen die Plachen des Wagens zu trommeln. Der Wind sprang herum, die Tropfen kamen von vorne. Der Qualm aus des Kutschers Pfeife reizte Agi zum Husten. Die Mutter erwachte und das Kind begann vor Kälte zu wimmern. Der Kutscher hielt den Wagen an, entzündete die Wagenlaterne, hing sie an die Deichselstange und ließ vorne die Plache herab. In völliger Finsternis fuhren die Reisenden weiter, an Ortschaften vorbei, in denen helle Glocken zur Abendandacht riefen. Und weiter zogen die müden Pferde das plumpe Gefährt, Wind und Regen entgegen auf zerweichtem Wege. Endlich, endlich hielt der Wagen in Mannersdorf. Den Adreßzettel in der Hand, erfragte der Kutscher die Wohnung und fuhr links hinüber auf den holperigen Sommereiner Weg. Als er vor der großen Linde haltmachte, kletterte Agi vom Wagen, ließ sich von der Mutter das Brüderchen herabreichen und half ihr beim Aussteigen. »Gott sei Dank, wir sind daheim!« Freundliches Lampenlicht strahlte durch die weißen Spitzenvorhänge der Fenster des ebenerdigen Gebäudes. Da trat ein behäbiger Bauer aus dem Tore, die qualmende Pfeife zwischen den Zähnen: »Was wollen S' denn da?« – »Wir sind Ihre neue Wohnpartei Lorent,« gab Agi, befremdet von der Frage, zur Antwort, »der Vater ist Eisenbahner; er hat die Wohnung bei Ihnen aufgenommen.« – »Ah ja, g'fallen hätt's ihm schon, wohl, wohl. Aber er hat kein Drangeld 'geben. – Da hab' ich's an andre Leut' vermietet. – Gestern sind's ein'zogen. Sie seh'n ja, daß s' Licht haben.« – »So lassen Sie uns wenigstens die Möbel in einen Schuppen unterbringen,« sprach Agi mit vor Erregung bebender Stimme. Statt einer Antwort drehte sich der Bauer um, ging in den Hof zurück und verriegelte geräuschvoll das Tor. Der Kutscher bedeckte die dampfenden Pferde mit wollenen Kotzen. Zu Agi gewendet, machte er den Vorschlag: »Wir stellen im Gemeindewirtshaus ein.« – Sie aber schüttelte den Kopf. »Dort haben wir nichts verloren.« Dann zog sie ihre Börse und entleerte sie in die hohle Hand des Kutschers. »Nehmen Sie als Trinkgeld, was wir haben, es sind 76 Kreuzer. Und jetzt laden wir ab; da mitten auf der Straße.« – »Bei dem Regen?« – »Ja, bei dem Regen.« Da rollte er die Seitenplachen auf, löste die Knoten der Seile und begann, die Stücke einzeln hinunterzureichen, wo sie von Agi übernommen werden sollten. Aber sie war zu schwach dazu. Die Schränke mußten aufgesperrt, das Bettzeug und die Kleider mußten herausgeräumt werden, die Laden des Wäschekastens mußten herausgezogen und einzeln hinuntergebracht werden.

Und als alles in buntem Haufen auf der kotigen Straße lag, beschienen vom gedämpften Lichte, das aus den Fenstern fiel, trat der Kutscher auf Agi zu und wollte ihr das Trinkgeld zurückgeben. Sie aber nahm es nicht; schroff lehnte sie ab: »Fahren Sie ins Wirtshaus und lassen Sie sich etwas Warmes geben. Ich danke Ihnen recht!« – Verlegen ob der Zurückweisung, steckte er das Kleingeld ein und wendete den Wagen. Agi aber führte die Mutter, die den weinenden Säugling vergeblich zu beschwichtigen suchte, zu einem Koffer und hüllte sie in eine Tischdecke. »So, Mami, da bleib' jetzt sitzen, bis ich zurückkomm'.« Und schon lief sie die Straße hin ins Innere des Dorfes. Nur wenig Fenster waren erhellt. Die meisten Einwohner schliefen. Und wo Agi Licht schimmern sah, klopfte sie an, ob eine Kammer oder ein Schuppen leer stünde, daß sie die Möbel unterbringen könnte. Und überall sagte sie, daß sie Näharbeit suchte. Nach einigen vergeblichen Versuchen fand sie einen Bauer bereit, die derzeit als Rumpelkammer Gerümpel-Kammer. dienende Ausgedingstube Ausgedingstube = Wohnung für die greisen Wirtschaftsbesitzer, wenn sie die Leitung des Hauswesens dem Nachfolger übergeben haben. (Ein Servitut.) zu räumen. Dort lieh man ihr einen Schiebkarren. Mit dem kehrte sie zur Mutter zurück und küßte ihr die Tränen von Augen und Wangen: »Ich hab' eine Wohnung! Mutter, welch ein Glück!« Erst lud sie die Matratzen und einige Polster auf und band sie mit Spagatschnüren nieder. Langsam fuhr sie mit der ungefügen Last zum neuen Heim. Ein paar verspätete Gassenjungen gafften sie an und einer sprach halblaut zu den andern: »Uj jö, schaut's die Stadtfräuln an; an Huat muaß aufhaben, wann s' schubkarrenfahrt.« Beim Scheine eines von den Hausleuten entlehnten schmaldochtigen Lämpchens machte sie mitten auf dem Stubenboden ein breites Lager zurecht. Mutter und Kind sollten ruhen. Und dann fuhr sie zurück und kehrte im stärker fallenden Regen wieder mit dem hochaufgeladenen Rest des Bettzeugs. – So setzte Agi die Übersiedlung fort im strömenden Regen. Niemand half ihr, wie ausgestorben schien der Ort, selbst die Hunde, deren Gebell anfangs ihre Fahrten begleitet hatte, waren verstummt. Der Nachtwächter, ein weißhaariger Greis in langem Schafspelz, der sie mit vorgehaltener Hellebarde angehalten hatte, hörte ihre hastige Erklärung ungläubig an und drängte ihr seine Begleitung auf, wobei er ihr mißtrauisch mit der Laterne ins Gesicht leuchtete. Dann aber erwies er sich als so gutmütig, daß er der Mutter die Bewachung des Hausrates abnahm, damit sie mit dem Kinde schlafen gehen konnte, ja er war Agi beim Ausladen der zwar leeren und leichten, aber für das schwanke Gefährt plumpen Schränke behilflich. – Seine Stundensprüchlein, die er sonst an verschiedenen Stellen der Ortschaft abzusingen pflegte, sang er diesmal nur auf der Sommereiner Seite. Auf der letzten Fahrt ging er mit der Laterne neben Agi her. Und des freundlichen Greises Wohlwollen, der von der armen Näherin gewiß nicht mehr als ein Vergeltsgott erwartete, tat Agi so wohl, daß sie zu ihm Vertrauen faßte. Sie sagte ihm, wie es um ihre Lieben stand, und wie sehr sie darauf baute, Näharbeit zu bekommen, je eher, desto besser. Und er versprach ihr, im ganzen Ort Umfrage zu halten, daß sie Arbeit bekäme. – Der Regen hatte nachgelassen; zwischen den windgejagten Wolkenfetzen leuchteten Mond und Sterne hernieder. Der alte Zeiselgrabner rief die dritte Morgenstunde aus:

»Ihr lieben Leute laßt euch sagen,
Die Turmuhr, die hat drei geschlagen.
Gebt acht aufs Feuer und aufs Licht,
Daß den Herren und Frauen kein Unglück gschicht.
… 's hat dreie g'schlagen.«

Da schob Agi als letzte Last ihre mit alten Decken umwickelte Nähmaschine in die Stube, die vom niedriggeschraubten Flämmchen der Lampe nur matt erhellt war; hurtig vertauschte sie die durchnäßten Kleider mit trockenen, löschte das Licht und legte sich angekleidet neben der Mutter zur kurzen Ruhe auf das mitten in der Stube gehäufte Bettzeug. Hunger und Durst kamen ihr quälend zum Bewußtsein, und sie hätte nicht Brot noch Wasser zu finden gewußt. Die Pulse in ihren Schläfen hämmerten, das Herz arbeitete heftig, in ihren Arm- und Brustmuskeln, in ihren Beinen, in den inneren Sehnen ihrer Finger hatte sie schneidende Schmerzen, und ihr Rückgrat war wie zerbrochen. Sie wunderte sich, daß ihre Kraft jetzt erst erschlafft war, wo sie das letzte Gerät geborgen hatte. Allmählich aber ließen die peinigenden Schmerzen nach, eine köstliche Entspannung kam über sie, alle Glieder überließ sie der Schwere und lauschte dem eintönigen Geriesel der Dachtraufe. Im Halbschlummer hörte sie den ersten Hahnenschrei, dann schwand ihr Bewußtsein und ein tiefer Schlaf ließ sie Hunger, Durst und Müdigkeit vergessen. Als die Kühe im Stalle, der nur durch eine getünchte Bretterwand von der Stube getrennt war, brüllend ihren Morgentrank heischten, wurde der kleine Rudi wach. Er suchte die Mutterbrust; aber er wurde nicht satt und begann kläglich zu weinen. Da stand die Mutter auf; sie fand im Wust der Geräte die Holzkiste und die Zündholzschachtel. Sie machte auf dem offenen Herde Feuer, um den Morgenkaffee zu bereiten.

Ehe sie sich aber entschließen konnte, die mit tiefen, hörbaren Atemzügen schlafende Tochter zu wecken, klopften harte Knöchel heftig an die Stubentür, und herein trat eine ergraute, vierschrötige Bäuerin, deren derbes, wettergebräuntes Gesicht in unverhohlenem Staunen erstarrte, als sie den Wust von zerlegtem Wohngerät, Kleidern und Kisten gewahrte, womit der Stubenboden bedeckt war. Sie fragte nach »der Wiener Fräuln, die für die Leut näh'n tät«. – Von der fremden Stimme geweckt, sprang Agi auf und übernahm die Bestellung. Einen barchentenen »Bauernjanker« sollte sie nähen. Noch nie hatte sie für jemand Fremden ein Kleidungsstück angefertigt. Aber ohne Zögern ging sie mit der Bäuerin und entlehnte sich einen alten Janker ihres Mannes. Von dem nahm sie den Schnitt ab und machte sich emsig an die Arbeit. – Die Hausfrau, der es nicht entgangen war, daß die Näherin schon eine Bestellung hatte, meldete sich als zweite Kundin und gab Brot und Milch im voraus. Als Agi den Janker noch am selben Tage lieferte, bekam sie statt Bargeld einen Korb Kartoffeln, ein Stück Selchfleisch und sechs Eier. Da war mit einem Schlage die Not vorbei. Der Ruf der neuen Näherin, die so flink und dabei gut arbeitete, verbreitete sich im Dorfe, und die Bestellungen häuften sich schon am nächsten Tage.

Von Schlafmangel erschöpft, aber von der Notwendigkeit getrieben, arbeitete Agi in einem rauschähnlichen Zustande, und sooft sie unterbrechen mußte, um der Mutter beim Ordnen des Zimmergerätes zu helfen, hatte sie Mühe, sich auf den Beinen zu erhalten. Beide waren so sehr über ihre Kräfte in Anspruch genommen, daß ihnen erst am Abend des zweiten Tages die Abwesenheit des Vaters zum Bewußtsein kam.

Es war Agi, die zuerst die Frage aufwarf: »Wo ist der Vater?«


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