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Der Prozess Shylock contra Antonio

Es ist bekannt, daß Shakespeare in seinen Dichtungen ein ungewöhnliches Maß von juristischem Wissen verrät. Manche Shakespeare-Forscher haben daher vermutet, daß er in einer Rechtskanzlei tätig gewesen sein müsse. Der um die Eindeutschung Shakespeares so verdiente Tieck führt ihn in einer seiner Shakespeare-Novellen sogar als einen jungen Kanzlisten vor, der von früherlernter Würde und frühgeübter Tugend überfließt. Das ist eine recht überflüssige Bemühung, die Biographie Shakespeares nachzudichten. Denn er zeigt ja auch überraschende naturwissenschaftliche, medizinische und andere Fachkenntnisse. Die Bildung der so bildungssüchtigen Zeit ist eben in seinem genialen Beobachtungs- und Einfühlungsvermögen wie in einem Spiegel aufgefangen.

Die wahrhafte Allgemeinbildung hat Shakespeare mit vielen Zeitgenossen gemein. So war er auch »Jurist«. Wahrscheinlich hat er nie andere Akten als die seiner eigenen Prozesse kennengelernt. Aber wie dem auch sei, der Prozeß Shylock contra Antonio verträgt und verlangt eine juristische Betrachtung. Wir wollen uns ihr mit aller gebotenen Nüchternheit und Voraussetzungslosigkeit und ohne alle musischen Rücksichten und Vorbehalte widmen.

Wir wenden uns zuerst den Parteien zu.

Die Figur, die bei Shakespeare zuerst an der Gerichtsstätte erscheint und für die es im Prozeß um Leib, Leben und, was nicht übersehen werden darf, auch um die menschliche und kaufmännische Ehre geht, soll zuerst betrachtet werden: der Beklagte Antonio, Kaufmann in Venedig.

Antonio – wenn wir seinen ganzen Namen wüßten, würde es sich herausstellen, daß er einem alten Adels- oder Patriziergeschlecht der Handelsstadt Venedig angehört – war vor kurzem noch ein reicher und großer Kaufmann, ein Schiffseigentümer und Überseehändler. Die Größe und Macht der Republik spiegelt sich in seinem Beruf, den er mit dem Reichtum zweifellos von seinen Vätern ererbt hat. Doch die »Königin des Meeres« ist schon nicht mehr, was sie einmal war: Antonio versteht sich allem Anschein nach besser aufs Geldausgeben als aufs Geldverdienen. Die Großzügigkeit des Kaufmanns hat sich bei ihm schon zur Gutmütigkeit und Weichheit des Lebensgenießers verengt. Er ist ein Enkel.

Dies zeigt sich auch in seiner Neigung zur Melancholie, zu weltschmerzlichen Stimmungen und zur Lebensmüdigkeit. Degenerations- und Dekadenzerscheinungen! Er schätzt das Geld gering ein, noch geringer als die Menschen, am geringsten fast das Leben. Er braucht Zerstreuung und Aufmunterung außerhalb seines Berufs. Deshalb hat er sich mit einer Schar von jungen Menschen umgeben, die offenkundig mehr an seinem Reichtum als an seiner gewiß reizvollen Persönlichkeit hängen. Man kann allerhand gegen ihre Lebensführung einwenden. Doch sie sind von guter Herkunft, die ja oft genug mit schlechter Vermögenslage zusammentrifft. Schlecht bei Kasse und gut bei Laune – das trifft bei jungen Leuten ebenfalls nicht selten zusammen. Und das gerade gefällt dem Kaufmann. Er läßt sich seine Aufheiterung durch sie etwas kosten und die Jünglinge lassen es an nichts fehlen, um den schwermütigen Antonio in ihr leichtes Leben hineinzuziehen. Er hat ja niemanden außer ihnen – weder Frau noch Kinder.

Einer von den jungen Leuten ist sein erklärter Liebling: Bassanio, ein ehemaliger Student und Soldat, der feinen Umgang pflegt und gute Sitten hat. Sein eigenes Vermögen hat er längst verschwendet, die Tasche Antonios schon öfter in Anspruch genommen. Nun will er sich endlich sanieren – durch eine reiche Heirat. Auf dem in der Nähe der Stadt gelegenen Herrensitz Belmont wohnt eine junge, schöne, blonde, reiche Dame, die er einmal im Gefolge eines Marquis von Montferrat besucht hat. Um sie möchte er in standesgemäßer Weise werben. Dazu braucht er Geld. Deshalb hat er seinen Freund und Gönner Antonio um ein letztes Darlehen in der Höhe von dreitausend Dukaten gebeten. Es soll sich lohnen und gut verzinsen, auch für Antonio, denn wenn Bassanio die reiche Braut heimgeführt haben wird, will er ihm auch die früheren Darlehen zurückerstatten. Aber Antonio muß dem Schützling bekennen, daß er gerade über kein bares Geld verfügt und auch seinen üblichen Kredit erschöpft hat. Trotzdem zögert er keinen Augenblick, dem jungen Mann beizuspringen und nimmt die Dienste des Geldverleihers und Juwelenhändlers Shylock in Anspruch.

Dieser ist der Kläger.

Der Kläger ist ein in Venedig ansässiger Jude. Es gibt dort eine bedeutende Gemeinde seiner Glaubensgenossen. Sie haben sich im Jahre 1534 als »Korporation« konstituiert, worunter man etwa ein Mittelding zwischen gemeindlicher und zünftlerischer Zusammenfassung zu verstehen hat, der es obliegt, die Verhältnisse der erwerbstätigen Juden untereinander zu regeln und ihre Gesamtheit gegenüber dem Staat zu vertreten.

Um 1550 hat es, schätzungsweise, rund tausend Bekenner des mosaischen Glaubens in Venedig gegeben. Ihre Zahl hat sich seitdem wahrscheinlich vervielfacht – durch Zuzug aus Spanien und Portugal, aber auch aus nördlichen Ländern und aus anderen italienischen Städten. Denn in der Republik Venedig hat man gegen die Juden nicht so sehr religiöse Bedenken und Vorurteile als vielmehr solche, die aus kommerziellen Erwägungen kommen. Man versucht ihre wertvollen Verbindungen auszunützen und sich zugleich ihrer Konkurrenz zu erwehren, indem man sie in das Bank-, Wechsel- und Pfandleihgeschäft drängt.

Die venezianischen Juden haben ebenfalls allerhand Verfolgungen hinter sich. In der zweiten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts sind sie aus der Stadt ausgewiesen worden und haben sich in dem nahen Mestre angesiedelt. Später durften einzelne Juden gegen Erstattung einer bestimmten Taxe die Stadt wieder betreten, bis man ihnen zu Anfang des sechzehnten Jahrhunderts die zwei Inseln bei den früheren Gießereien als Wohnsitz, als »Ghetto«, angewiesen hat. (Shylock freilich scheint in der Stadt zu wohnen.)

Um die Mitte des Jahrhunderts ging die Signoria mit dem Plan um, die Juden auszuweisen. Er scheiterte aber am Widerspruch der christlichen Kaufmannschaft, die die geschäftliche Zusammenarbeit mit den Juden nicht entbehren konnte. Sie erklärte sogar, daß viele christliche Kaufleute, wenn man die Juden ausweise, gezwungen seien, mit ihnen die Stadt zu verlassen. Denn die Juden beherrschten einen wesentlichen Teil des Außenhandels. Immerhin konzentrierten sie sich in der Folge, wie schon gesagt, auf das Geld- und Pfandgeschäft. Auch der Kläger Shylock gehört dieser Branche an.

Wie weltlich und utilitaristisch Venedig auch orientiert ist, so hat es trotzdem an Spannungen religiöser Art nie gefehlt. Die Inquisition verfolgt auch hier die Juden. So ist es ihr gelungen, im Spätjahr 1553 mit Hilfe der staatlichen Macht auf dem Markusplatz ein Autodafé zu veranstalten, bei dem ganze Wagenladungen jüdischer Schriften, vor allem von Talmudexemplaren, verbrannt worden sind.

Es ist für den Verlauf und für die Entscheidung des Prozesses nicht unwichtig, den Gegensatz in der kaufmännischen und gesellschaftlichen Stellung der beiden Prozeßparteien schärfstens zu betonen. Ein Neubürger mit beschränkten Rechten steht einem Großbürger der herrschenden Gesellschaftsklasse gegenüber. Also: Ein Kleiner verklagt einen Großen, ein Halbfreier einen in Freiheit schwelgenden Herrn. Um zwischen zwei so ungleichen Parteien Gerechtigkeit walten zu lassen, muß das Gericht von besonderer und vorbildlicher Überparteilichkeit sein.

Über die Person des Klägers ist noch einiges bekannt. Er ist Witwer und haust mit seiner einzigen Tochter Jessica zusammen. Sie hat ihn kurz vor dem Prozeß verlassen und ist, unter Mitnahme von Geld und Geldeswert, dem jungen Edelmann Lorenzo gefolgt, der dem Kreis um Antonio angehört. Auch ein Diener, der ziemlich nichtsnutzige Lanzelot Gobbo, ist kürzlich von Shylock weggegangen. Shylock lebt nun ganz allein und trauert seiner Tochter und seinem Gelde nach. Jessica ist inzwischen Christin und die Frau Lorenzos geworden. Shylock gilt als frommer Jude – ob mit Recht, wird sich noch erweisen.

Er ist bekannt als Geldverleiher. Er macht seine Geschäfte manchmal zusammen mit seinem Glaubensgenossen Tubal, dessen Mittel er auch in vorliegendem Fall in Anspruch genommen haben will. Tubal und ein weiterer Jude namens Chus sind Shylocks »Landsleute«. Daraus folgt, daß auch er nicht in Venedig geboren, sondern eingewandert ist. Woher er stammt, steht nicht fest. Die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß er kein Sepharde ist. Denn man vermißt bei ihm den Stolz und die Großzügigkeit, die den Sepharden eigen zu sein pflegen. Er ist ein kleiner Mann und ein niedergedrücktes Gemüt. Es wäre interessant zu wissen, wo und wie er seine Frau Lea verloren hat.

Zwischen den beiden Prozeßparteien hat schon lange vor dem Prozeß offene Feindschaft geherrscht – besonders darum, weil dem Antonio das Geldverleihen gegen Zinsen verhaßt ist. Darüber muß man sich allerdings bei einem venezianischen Handelsherrn wundern. Das Zinsnehmen ist zwar durch das kanonische Recht den Christen verboten. Den Juden aber ist es ausdrücklich erlaubt. Überdies halten sich auch die Christen, wenn sie es überhaupt je getan haben, längst nicht mehr an jenes veraltete Verbot, was ihnen übrigens leichter möglich wäre als den Juden, denen die Befassung mit dem Warenhandel, mit Handwerk und Ackerbau vielfach verboten oder wenigstens erschwert ist. Um so verwunderlicher ist die Abneigung des Großkaufmanns Antonio gegen das Zinsennehmen, denn er verkauft ja seine Waren auch nicht ohne Gewinn und darin ist die Verzinsung seines Anlagekapitals als Quote enthalten.

In diesem Punkt also ist Antonio rückständig und noch in mittelalterlichen Anschauungen befangen. Für ihn ist Shylock ein »Wucherer«, auch wenn er keine zu hohen Zinsen nimmt. Er beschimpft und mißhandelt ihn, wo er ihn trifft.

Um so leichtsinniger ist es von Antonio gewesen, sich dem Kläger so in die Hand zu geben, wie es der dem Gericht vorliegende Vertrag erweist.

 

Von diesem Vertrag muß nun die Rede sein.

Seine formale Gültigkeit steht außer Zweifel. Er ist von einem Notar beurkundet. Sein formgerechtes Zustandekommen wird von dem Beklagten nicht bestritten.

Antonio hat im Vertrauen auf seinen Reichtum das verfängliche Rechtsgeschäft abgeschlossen. Sein Handelsvermögen und, dementsprechend, sein Kredit schienen das Vielfache der geliehenen Summe zu betragen. Die Schiffe sind scheinbar inzwischen alle verloren gegangen. Merkwürdig ist, daß Antonio in Venedig nicht auch beleihbares liegendes Gut (ein Haus, Magazin und ähnliches) oder etwa einen Geschäftsfreund hat, der ihm, schon aus Standessolidarität oder aus »christlicher Liebe«, vor der Schmach bewahrt, von dem Juden Shylock in Schuldhaft gesetzt und vors Gericht gezogen zu werden. Ist denn Antonio schon ein Bankrotteur? Es scheint so, denn er hat an seinen Freund Bassanio nach Belmont geschrieben: »Meine Gläubiger werden grausam, mein Glücksstand ist ganz zerrüttet.« Seine Geschäftsfreunde scheinen sich von dem verschwenderischen Melancholiker zurückgezogen zu haben.

Daß der Vertrag von zwei aufgeregten und nicht in bestem Einvernehmen stehenden Kontrahenten abgeschlossen ist, merkt man auch an einer mangelnden Übereinstimmung zwischen der mündlichen Abmachung und ihrer schriftlichen Fixierung.

Shylock sagt zu Antonio:

»Geht mit mir zum Notarius, da zeichnet
Mir Eure Schuldverschreibung; und zum Spaß,
Wenn Ihr mir nicht auf den bestimmten Tag,
An dem bestimmten Ort, die und die Summe,
Wie der Vertrag nun lautet, wieder zahlt:
Laßt uns ein volles Pfund von Eurem Fleisch
Zur Buße setzen, das ich schneiden dürfe
Aus welchem Teil von Eurem Leib' ich will.«

Darauf erwidert Antonio:

»Es sei, aufs Wort! Ich will den Schein so zeichnen.«

In der Gerichtsverhandlung aber stellt Porzia aus dem ihr vorliegenden »Schein« fest:

»Und nach den Rechten kann der Jud' hierauf
Verlangen ein Pfund Fleisch, zunächst am Herzen
Des Kaufmanns auszuschneiden.«

Wie ist diese schärfere Fassung – »zunächst am Herzen« – entstanden? Gewiß umfaßt die mündliche Abmachung – »aus welchem Teil von Eurem Leib ich will« – auch das Recht, »zunächst am Herzen« zu schneiden. Aber vielleicht wäre Antonio doch stutzig geworden, wenn Shylock gleich vom Herzen, dem Sitz des Lebens, gesprochen hätte. Offenbar hat Shylock diese schärfere Fassung vor dem Notar zu Protokoll gegeben (denn er sagt ja schon vor der Gerichtsverhandlung: »Ich will sein Herz haben, wenn er verfällt«) und Antonio hat unterschrieben, ohne sich den Vertragstext genau anzusehen, oder er hat den Vertrag überhaupt für eine Farce gehalten, worüber er zu Bassanio einige Äußerungen macht.

Auch die Bemerkungen Shylocks »zum Spaß« und vom »lustigen Schein« sind dem Kaufmann Antonio offenbar entgangen. Der mündliche Vertrag ist eben auf der Straße zustande gekommen, woraus man weniger dem Shylock, der sein Geschäft wahrscheinlich vielfach im Umherziehen betreibt, als dem so würdigen und vornehmen Großkaufmann Antonio einen Vorwurf machen darf. Die Frage ist, ob Antonio nicht aus den Bemerkungen Shylocks und aus der mangelnden Übereinstimmung zwischen mündlicher und schriftlicher Abmachung eine »exceptio«, eine Einrede ableiten kann – einmal wegen mangelnder Ernsthaftigkeit der Vereinbarung und dann wegen Irrtums über den Vertragsinhalt.

Wäre der vom Gericht geladene bedeutende Rechtsgelehrte aus Padua, der Doktor Bellario, selbst zur Verhandlung erschienen, so wären diese Punkte gewiß nicht ungeprüft geblieben. Ob dem Beklagten freilich damit geholfen gewesen wäre, steht auf einem anderen Blatt. Denn daß der Kläger Shylock starr und stur auf seinem »Schein« besteht, geschieht nicht ohne Rechtshintergrund. Dieser Schein nämlich gilt offenbar als Urkunde, die ein abstraktes Schuldverhältnis, losgelöst von der Schuldursache und von dem außerurkundlichen Willen der Kontrahenten, begründet. Die formalistische Rechtsauffassung der römischen und der ihr folgenden europäischen Jurisprudenz hat die Gültigkeit solcher »Scheine« begünstigt und gestützt.

Wenn freilich Porzia ausdrücklich konstatiert:

»Denn des Gesetzes Inhalt und Bescheid
Hat volle Übereinkunft mit der Buße,
Die hier im Schein als schuldig wird erkannt«,

so sind wir versucht, an Shakespeares Gesetzeskenntnis zu zweifeln. Wir haben zwar schon in anderem Zusammenhang erwähnt, daß derlei »Fleischpakte« noch gelegentlich vorgekommen sind, aber sie haben auf freier Übereinkunft und nicht etwa auf einer ausdrücklichen Zulassung durch das Gesetz beruht. Überhaupt ist es im sechzehnten Jahrhundert Brauch, daß in Verträgen Konventionalstrafen vereinbart werden, die in groteskem Mißverhältnis zur vertraglichen Leistung stehen, zwar so, daß die große Konventionalstrafe als scheinbare Hauptleistung bezeichnet wird – etwa in der Form: »Ich schulde zehntausend Dukaten, ich schulde sie nicht, wenn ich dreitausend Dukaten an dem und dem Tage zahle« (Niemayer). Derlei Verträge sind in Italien und in England nicht selten gewesen.

Ein anderer Schönheitsfehler des Vertrags juristisch-formaler Natur soll nicht verschwiegen werden, zumal man annehmen darf, daß ihn Shakespeare vermieden hätte, wenn er ein »gelernter« Jurist gewesen wäre. Bassanio, der Geldbedürftige, führt die Darlehensverhandlungen mit Shylock so, daß er diesem Antonio als Bürgen anbietet. Darnach wäre er als der Darlehensempfänger auch selbst der Schuldner und Antonio käme erst in zweiter Linie für die Zahlungsverpflichtung in Betracht. Die Rechtsform der Bürgschaft ist dem römischen Recht und allen Stammes- und Landesrechten wohl bekannt und in ihnen klar entwickelt. Man kann nicht umhin, daraus einige Folgerungen für die Prozeßlage zu ziehen, vor allem die, daß Bassanio verpflichtet gewesen wäre, für die fristgerechte Zahlung der Schuld besorgt zu sein. Daß er es daran hat fehlen lassen, entspricht seinem Leichtsinn und ist eine Rücksichtslosigkeit und Undankbarkeit gegen seinen Gönner und Freund Antonio. Ferner: warum bietet Bassanio nicht das Pfund Fleisch aus seinem Körper an? Er sagt zwar:

»Ich gäbe alles hin, ja opfert' alles
Dem Teufel dar, um dich nur zu befrein«

und ähnliches.

Aber von einer eindeutigen Willenserklärung durch ihn, Shylock möge ihm das Pfund Fleisch aus dem Leib schneiden, vernimmt das Gericht nichts. Es könnte allerdings sein, daß in dem Vertrag, der vor dem Notar geschlossen worden ist, Antonio nicht bloß als Bürge, sondern als Selbstschuldner figuriert oder aber als »selbstschuldnerischer Bürge«, wobei es dem Gläubiger überlassen bleibt, an wen von beiden er sich halten will. Shakespeare läßt das unentschieden.

Was Shylock auf Grund des Scheines verlangt, ist an sich zwar eine deliktische Handlung, wie etwa auch der chirurgische Eingriff, aber sie ist durch die Einwilligung des Beklagten in einen Vertragszustand überführt und dadurch ihres deliktischen Charakters entkleidet. Volenti non fit iniuria – dem Einverstandenen geschieht kein Unrecht, ist ein in allen Rechtssystemen geltender Grundsatz. Antonio darf sich nicht beklagen, wenn ihm das geschehen soll, was zu dulden er sich verpflichtet hat. Er hat weder in Not noch unter einem Druck gehandelt. Sein freier Vertragswille ist in keiner Weise beeinträchtigt worden. Er hat sich sogar sagen müssen, daß der von ihm so oft geschmähte, mißhandelte und geschäftlich geschädigte Jude ihm das zinslose Darlehen nicht aus plötzlich erwachter Liebe oder Hilfsbereitschaft geben kann. Es hätte, da er ja ein Kaufmann ist, seiner Überlegung bedurft, welches Vertragsinteresse bei Shylock vorliegt. Der sonst so leichtfertige Bassanio hat ihn sogar vor dem Vertragsabschluß gewarnt. Er hat sich aber in seiner Gleichgültigkeit und wohl auch in einer Stimmung des Lebensüberdrusses nicht warnen lassen. So hat er denn, wenn Recht Recht bleiben soll, die Folgen zu tragen, wie verabscheuungswürdig diese auch sein mögen.

Es ist nicht ganz zu verstehen, daß er vergißt, wie schwer er Shylock, den sein Recht suchenden Kläger, gereizt hat. Wen man so verachtet, wie Antonio den Shylock, mit dem schließt man keinen Vertrag, von dem läßt man sich nicht zinslos ein Darlehen geben, also etwas schenken. Wenn auch Zinsen nehmen für Antonio verächtlich sein mag, so doch wohl nicht Zinsen geben? Antonio hat Vorteile von Shylock annehmen wollen, dessen Person, dessen Gewerbe und dessen Volk er beschimpft hat. Dazu kommt, daß einer seiner Freunde dem Shylock die Tochter und einen Teil seines Vermögens geraubt hat. Auch dies ist ein deliktischer Tatbestand!

 

Nun zum Prozeßverfahren.

Als Richter fungieren der Doge und der Senat von Venedig. Das fällt insofern auf, als die Signoria mit dem Dogen an der Spitze die Regierungs- und Verwaltungsbehörde des Staates ist. Für Zivilprozesse hat es im Venedig des sechzehnten Jahrhunderts eine sogenannte »Quarantia al civil nuova« gegeben. Vor einen dieser Gerichtshöfe hätte auch die Klage Shylocks gehört. Es kann aber sein, daß sie einem Kreis besonders qualifizierter Fälle zuzurechnen ist, deren Entscheidung sich die höchste Staatskompetenz vorbehalten hat. Auch ist es, bei der im sechzehnten Jahrhundert noch nicht vollzogenen Trennung von Verwaltung und Justiz, möglich, daß die oberste Staatsbehörde in Ansehung der hohen gesellschaftlichen Stellung Antonios und der Zugehörigkeit Shylocks zur »Giuderia« die Entscheidung übernommen hat. Endlich ist auch noch möglich, daß ein Prozeß mit solchem Klagebegehren, das ins Deliktische hineinreicht, zumal wenn der Kläger ein Jude ist, als Politicum aufgefaßt und deshalb der politischen Instanz übergeben worden ist.

Es wird nach strengem Recht verfahren, das wird von mehreren Seiten betont. Das Gericht ist sich darüber klar, daß die Gerechtigkeit das Fundament des Staates ist und daß insbesondere Venedig als Welthandelsstadt und als Stadt der Fremden besonders darauf sehen muß, Rechtsbeugungen zu vermeiden. Man ist in Venedig gewohnt und stolz darauf, daß hier wirklich Recht gesprochen, »jus« ausgelegt und vollstreckt wird. Das steift dem Kläger Shylock den Nacken.

Wie ernst es dem Dogen damit ist, das pure Recht walten zu lassen, geht aus der Vorladung des berühmten Rechtsgelehrten Doktor Bellario aus Padua hervor.

Padua ist zur Zeit Shakespeares eine berühmte Hochschule, deren Hörer gegen Ende des Jahrhunderts sich aus nicht weniger als dreiundzwanzig Nationen rekrutieren. Natürlich studieren auch Engländer dort. Graf Rutland, der Freund von Essex und Southampton, ist ebenfalls paduenser Student gewesen.

Auch eine internationale juristische Kapazität lehrt gerade eben in Padua: Ottonello Discalzio (1536-1607). Er entstammt einer in Padua eingesessenen Patrizierfamilie. Die Republik Venedig pflegt ihn öfters als Gutachter oder rechtskundiges Mitglied von Kommissionen und Gesandtschaften heranzuziehen. Sie hat ihn für seine Verdienste um das Staatswesen zum Ritter von San Marco ernannt. Auch der Kaiser und andere Fürsten nehmen seine Dienste in Anspruch und verleihen ihm Titel und Ehrenstellen. Denkt man an dieses Vorbild, so versteht man, daß auch noch sein Vertreter Autorität genug besitzt, um die Entscheidung »ex cathedra« zu fällen.

Immerhin ist es ungewöhnlich, daß der Sachverständige die Verhandlung selbst führt – unter Beiseitesetzung des Dogen, des Staatspräsidenten in höchst eigener Person. Mag sein, daß Shakespeare die Unterscheidung zwischen Richter und Rechtsgutachter nicht gekannt, mag sein, daß er vielleicht auch an die alte englische Institution des reisenden Richters gedacht hat (aber hier ist die dramatische Spannung allein ausschlaggebend und sie verlangt die volle Aktivität Porzias).

 

Wie aber fällt nun das Urteil aus?

Als Recht wird erkannt – erstens: der Kläger darf sich sein Pfund Fleisch aus dem Körper des Beklagten schneiden; zweitens: aber kein Gramm mehr oder weniger; drittens: er darf dabei keinen Tropfen Blut vergießen.

Kein Gramm mehr – dagegen ist kaum etwas zu sagen, obwohl es dem alten Recht widerspricht, nach dem der Gläubiger auch mehr als ihm »taxgemäß« zusteht, aus dem Leib des Schuldners herausschneiden darf. Aber kein Gramm weniger? Nie und nirgends hat es ein Gesetz gegeben, das dem Kläger verbietet, weniger zu nehmen, als ihm durch Urteil zuerkannt ist. Vielleicht hätte der blutdurstige Shylock seinem alten Feind Antonio nur die Haut geritzt oder ihm bloß ein Atom Fleisch weggenommen, um ihm einen Denkzettel zu geben. Wie sollte ihn ein Urteil zwingen dürfen, ein volles Pfund zu schneiden!

Der dritte Teil des Spruches aber, daß Shylock beim Schneiden keinen Tropfen Blut vergießen dürfe, macht den ersten und zweiten Teil vollends illusorisch. Dieser dritte Teil bedeutet die gänzliche Aufhebung des ersten Teiles – auch juristisch, denn die Billigung einer Handlung schließt auch die Billigung der Mittel und der Folgen ein.

Hier ist die juristische Betrachtung des Urteils am Ende. Hier tritt aus der Schale des Rechts der Kern hervor: die Rechtsparodie. Hier ruhen, wenn wir nicht irren, die Augen des Dichters auf seinem England, wo die Buchstaben-Interpretation und der Formalismus in der Rechtshandhabung und Prozeßführung gerade in besonders hoher Blüte stehen. »Damit hängt zusammen, daß die englischen Gerichte nicht den Mut und nicht das Recht hatten, Schuldscheine anders als wörtlich zu interpretieren, und ferner, daß der in solchen Schuldscheinen zum Ausdruck kommende Vertragswille in absolutester Weise Anerkennung finden mußte. Die Berücksichtigung ungeschriebener, aus dem innersten Wesen und der obersten Aufgabe des Rechtes folgender freier Gesichtspunkte, wie bona fides, gute Sitte, Schikaneverbot, war völlig ausgeschlossen.« (Th. Niemayer: »Der Rechtsspruch gegen Shylock«.)

Shakespeare fügt aber in den Prozeß Shylock, den er scheinbar mit so großer Gründlichkeit aufbaut, noch eine Falle ein: Shylock darf nach seinem Schein dem Antonio ein Pfund Fleisch »zunächst am Herzen« herausschneiden. Er hat schon, virtuell, das Messer in der Hand, um das blutige Werk zu beginnen. Es ist aber ein unmögliches Werk! Denn man kann einem männlichen Wesen gar kein Pfund Fleisch »zunächst am Herzen« wegnehmen. Es ist ja keines da. Das Herz selbst ist ein Hohlmuskel, etwa so groß wie eine Faust, es ist Fleisch. Shylock darf zweifellos das Herz selbst nicht verletzen. Wo und wie also soll er schneiden – »zunächst am Herzen«? Nur wenn Antonio krankhaft fettleibig wäre, was wir nicht annehmen dürfen, hätte er vielleicht Fett genug auf den Rippen. So aber, wie wir Antonio kennen, wäre Shylock mit seinem nun nicht mehr schrecklichen, sondern lächerlichen Messer auf die blanken, harten Rippen gestoßen.

Irrt hier Shakespeare? Kaum anzunehmen! Die Anatomie ist zu seiner Zeit noch eine verhältnismäßig junge Wissenschaft. Vesalius hat sein für die Anatomie grundlegendes Werk »De humani corporis fabrica libri septem« im Jahre 1543 herausgegeben. Im Jahre 1585 erschien, in Anlehnung an dieses Werk, ein englisches Buch, das anatomische Kenntnisse popularisiert hat: »The Englishman's treasure, with the true anatomye of man's body« von Thomas Vicary. Es hat, später unter verändertem Titel, bis ins siebzehnte Jahrhundert hinein, immer wieder neue Auflagen erlebt – Beweis genug, daß die Anatomie allgemein interessiert hat, und daß ihre Grundtatsachen bekannt waren, ganz abgesehen davon, daß man, um die Lage und Umgebung des Herzens im menschlichen Körper zu kennen, nicht anatomisch aufgeklärt zu sein braucht. Weder von Shakespeare noch von seinem Publikum darf man also annehmen, daß die Unmöglichkeit der Leistung oder der Duldung, die im Urteil enthalten ist, ihnen entgangen sein könnte. Aber dem »weisen Richter« ist sie entgangen!

Solche Sprünge über die Wirklichkeit hinweg waren allerdings auf der Bühne der elisabethanischen Zeit nicht selten. Theater und Drama waren auf Illusion gestellt. Die Wahrheit der Vorgänge hatte in der Phantasie des Dichters und des Publikums ihre Heimat und fußte auf einer stillschweigenden Übereinkunft zwischen beiden, die Regeln des Spiels nicht durch die Regeln der Wirklichkeit stören zu lassen. Daß der Jude ein Pfund Fleisch schneiden will, wo es keines zu schneiden gibt, wußten beide. Aber sie wußten auch, daß hier der englische Formalienprozeß parodiert werden sollte. Zu diesem Zweck muß das Unmögliche als möglich unterstellt werden. Die Parodie hatte den Vorteil davon.

Für den Kläger Shylock aber gilt, daß ihm selbst durch den wirklichkeitsfernen Inhalt eines von ihm so vielberufenen Scheins die Wirklichkeit genommen wird. Er geht als Person in die bare Unwirklichkeit ein – Mythos der Grausamkeit. Dies ist in Wahrheit der Prozeß und das Urteil über den Juden. Er ist gar nicht Kläger, sondern Angeklagter.

Damit stimmt das Verhalten des hohen Gerichtshofs nach dem Urteil überein. Was alles wird durch das einmütige Zusammenwirken des Dogen, des jungen Rechtsgelehrten und der Freunde des Beklagten dem Shylock zugemutet und angetan! Seine Forderung wird ihm abgesprochen, über sein Vermögen für Leben und Tod verfügt und ebenso über seinen Glauben. Alles was vorher über die so hohe und strenge Gerechtigkeit in der Republik Venedig gesagt worden ist, wird klar und grob Lügen gestraft.

Das Allerschlimmste aber tut der Dichter selbst seinem Juden an. Er läßt ihn ohne jeden Protest damit einverstanden sein, getauft zu werden. Wußte Shakespeare von den Marranen, die sich zwar unter dem ungeheuerlichen Zwang der Inquisition haben taufen lassen, aber ihrem jüdischen Glauben innerlich treu geblieben sind? Es ist kaum zu bezweifeln, daß ihm ihre Erscheinung und ihr Wesen bekannt war. Ob dem Dichter auch bekannt war, daß im Mittelalter Tausende und Abertausende von Juden den Tod oder die Verbannung einem Glaubenswechsel vorgezogen haben, ist schon eher fraglich. Hier also, was die Glaubenstreue der Juden anlangt, irrt Shakespeare wirklich.

 

Das Volk, das Shylock figürlich repräsentiert, ist das jüdische Volk des Mittelalters. Die Rechtlosigkeit, in der es sich Jahrhunderte lang befunden hat, ist im Bewußtsein der Zeit Shakespeares noch nicht dem Recht gewichen.

»… wenn er (Shylock)«, sagt der große deutsche Rechtsforscher Rudolf von Ihering in seiner berühmten Schrift »Der Kampf um's Recht«, »verfolgt von bitterem Hohn, geknickt, gebrochen, mit schlotternden Knien dahinwankt, wer kann sich des Gefühls erwehren, daß in ihm das Recht Venedigs gebeugt worden ist, daß es nicht der Jude Shylock ist, der von dannen schleicht, sondern die typische Figur des Juden im Mittelalter, jenes Parias der Gesellschaft, der vergebens nach Recht schrie? Die gewaltige Tragik seines Schicksals beruht nicht darauf, daß ihm das Recht versagt wird, sondern darauf, daß er, ein Jude des Mittelalters, den Glauben an das Recht hat …, bis dann wie ein Donnerschlag die Katastrophe über ihn hereinbricht, die ihn aus seinem Wahn reißt und ihn belehrt, daß er nichts ist als der geächtete Jude des Mittelalters, dem man sein Recht gibt, indem man ihn darum betrügt.«

Der andere bedeutende deutsche Jurist, der »Shakespeare vor dem Forum der Jurisprudenz« beleuchtet, Josef Kohler, hat gegen Iherings Meinung scharf polemisiert, indem er die rechtshistorische Seite des Shylock-Prozesses und der in ihm ergehenden Entscheidung in den Vordergrund rückt. Porzias Spruch ist für ihn »der Sieg des geläuterten Rechtsbewußtseins über die finstere Nacht, welche auf dem seitherigen Rechtszustande lastete: es ist der Sieg, der sich hinter Scheingründen verdeckt, der die Larve falscher Motivierung annimmt, weil sie notwendig ist; aber es ist ein Sieg, ein großer, ein gewaltiger Sieg: ein Sieg nicht etwa bloß in dem einzelnen Prozeß, es ist ein Sieg in der Rechtsgeschichte überhaupt: es ist die Sonne des Fortschrittes, die wieder einmal ihre erwärmenden Strahlen in die Gerichtsstätte geworfen hat, und das Reich Sarastros triumphiert über die Mächte der Nacht«.

In diesem Preisgesang auf Porzias Spruch wird die Jurisprudenz und das Recht als solches von der Rechtsgeschichte erschlagen. Josef Kohler, der nicht nur ein bedeutender Rechtsgelehrter, sondern auch ein »Shakespearomane« war, will nicht sehen, daß Rechtsbeugung nie ein Element der Rechtsentwicklung und des Rechtsfortschrittes sein kann, wenn sie aus dem Bereich des Mythos in den der Psychologie getreten ist. Er verschließt daher seine Augen vor den vielen Rechtsverletzungen, die in dem Prozeß Shylock unterlaufen, unter denen nicht die geringste gerade das Auftreten der von ihm rechtshistorisch so verherrlichten Porzia ist. Sie ist nicht nur nicht der, für den sie sich ausgibt, sie täuscht also das Gericht und die Parteien über ihre Person, sondern sie ist auch, Frau des Bassanio, als Sachverständige oder Richterin mit einem Mann verwandt, der, wenn auch nicht Partei, so doch als der wirkliche Schuldner am Ausgang des Prozesses interessiert ist.

Und in der Tat braucht Bassanio, obwohl durch seine Heirat reich geworden, die dreitausend Dukaten nicht zurückzuzahlen. Verstößt schon der Inhalt des »Scheins« gegen die guten Sitten, weshalb man ihn hätte für nichtig erklären sollen, so verstößt Porzias Auftreten in dem Prozeß gegen die primitivsten Rechtsgrundsätze, die seit je und immer gegolten haben. Durch ihr Erscheinen wird das Tribunal zur Szene, der Gerichtssaal zur Bühne, auf der mit dem Recht ein frevelhaftes Spiel getrieben, auf der ein Rechtsuchender zum Gespött wird.

Kohler unterschätzt Shakespeare, indem er ihn verteidigt. Denn der Dichter hat einen parodistischen Rechtsfall und Prozeß konstruiert, um einerseits die Problematik der Rechtsfindung überhaupt, mit der es im elisabethanischen England nicht zum Besten bestellt war, und andererseits die mangelnde Rechtsgleichheit des Individuums vor dem Gesetz zu treffen. Für die letztere Absicht hat sich ihm eben als geeignetstes Individuum der Jude dargeboten.

Hier taucht notwendig die Parallele des Prozesses gegen Roderigo Lopez auf. Auch diesem Juden waren die ordentlichen Richter versagt. Das Prozeßverfahren gegen ihn war ein politisches Spiel der am Urteil Interessierten. Das Todesurteil stand nicht erst am Ende, sondern schon am Anfang des Verfahrens. So wie im Prozeß Shylock die Freunde des Antonio sich in die Verhandlung mischen, ohne dazu legimitiert zu sein, so haben die Freunde des Grafen Essex und dieser selbst den Prozeß gegen Lopez geradezu inszeniert.

Shakespeare stand, wie wir wissen, dem Essexkreis schon durch seinen Mäzen Southampton sehr nahe. Mag er nun von den jungen Hofleuten angeregt worden sein oder aus eigenem Antrieb das allgemeine Interesse für den Prozeß gegen den jüdischen Arzt benutzt haben, die Vermutung liegt jedenfalls nahe, daß er seine Skepsis gegenüber dem Verfahren in Sachen Lopez in den Shylock-Prozeß eingebaut hat. Geht man davon aus, dann bekommt die Anhäufung von Unrecht in und nach dem Urteil gegen Shylock noch ihren besonderen Sinn. Und Shakespeare erhebt sich auch hier dichterisch und menschlich über seine Zeit und Umwelt hoch empor.

 

Als Heinrich Heine in London einer Aufführung des »Kaufmanns von Venedig« beiwohnte, hat er nach der Beendigung des Prozesses, die damals auch das Ende des Stückes war (denn der fünfte Akt war gestrichen), aus dem Mund einer leidenschaftlichen englischen Zuhörerin die Worte vernommen: »This poor man is wronged.«

Das heißt: »Diesem armen Mann geschieht Unrecht« – wiederum das Urteil einer Frau, sozusagen einer anderen Porzia, dem wir beistimmen.


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