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Das europäische Judentum im 16. Jahrhundert

Die Juden der iberischen Staaten des Mittelalters haben unter anderen Voraussetzungen und Umständen gelebt als die englischen. Man darf sogar sagen, daß sich in den beiden die Extreme jüdischer Existenz verkörperten. Dort waren die Juden in Staat, Kultur und Wirtschaft gesetzmäßig hineingewachsen – glühende Patrioten, Stützen der Throne, Funktionäre der Verwaltung, Souveräne der Wirtschaft, der Wissenschaft und der Künste. Hier waren sie auf der Außenseite von Staat und Volk geblieben. War England das europäische Gebiet, in dem die Juden, so weit nachweisbar, am spätesten erschienen sind, so gehören die iberischen Judensiedlungen zu den ältesten des Abendlandes. War die Insel im Nordwesten nur ein Durchzugsgebiet, so war die Halbinsel im Südwesten ein Sammelbecken für das jüdische Volk.

Als zwei Jahrhunderte nach der englischen Majestät Eduards I. die Majestäten der vereinigten Königreiche von Aragonien und Castilien, Ferdinand und Isabella, sich zur Ausweisung der Juden aus ihren Gebieten entschlossen, da traf dies einen nach Zahl und Qualität wesentlichen Teil ihrer Völker und überdies einen Teil, der sein Heimatrecht auf eine frühere Zeit zurückführen konnte als die Mehrheit der christlichen Bevölkerung der Halbinsel. (Daß freilich in der gelegentlich behaupteten etymologischen Verwandtschaft der Namen Iberer und Ebräer auch nur ein Körnchen Wahrheit liegt, ist zu bezweifeln.)

In diesen Besonderheiten liegt der Grund, warum die »Entjudung« Spaniens nicht im entferntesten gelingen konnte. Unzählige, wie der terminus technicus lautete, »heimlich Judaisierende« blieben im Lande, die sich nicht erst in der Zeit der Austreibung, sondern während der Bedrückungen und Verfolgungen, besonders in den Jahren 1391, 1412 und 1435 zur scheinbaren Konversion entschlossen haben. Seit einem Jahrhundert also gab es in Spanien bereits getaufte Juden, die sich mit dem jüdischen Glauben innerlich noch verbunden fühlten. Das Jahr 1492/1493 hat sie lediglich ins geschichtliche Licht gerückt. Die »Marranen«, wie man sie mit einem Wort von zweifelhafter Herkunft nannte, hatten damals schon, im Jahre der Austreibung, einen Teil des spanischen Adels und der Aristokratie durchsetzt. Mit ihnen aufzuräumen, dazu bedurfte es über drei Jahrhunderte wütender Inquisition mit Folter und Scheiterhaufen.

Am Ende des sechzehnten Jahrhunderts, also zur Zeit Shakespeares, waren bereits viele Marranenfamilien ihren 1493 ausgewiesenen Glaubensgenossen gefolgt – nach Afrika und Asien, nach den neuentdeckten Inseln und Küsten, in Europa insbesondere nach Italien, in die Türkei und, im letzten Jahrzehnt, in die Niederlande. Sie waren innerlich und äußerlich ein von den übrigen europäischen Juden verschiedener Menschenschlag. Sie waren körperlich groß, schmal- und langköpfig, dunkelhaarig, meist großäugig. Sie sprachen das Hebräisch mit hellen, das A bevorzugenden Lauten, hatten besondere Gebete, eine liturgische Poesie großen Stiles und brachten besondere, den Juden Nord- und Osteuropas fehlende Veranlagungen mit, so die philosophische Begabung (Spinoza) und das diplomatische und staatsmännische Talent (Disraeli). Sie hießen Sephardim, die anderen europäischen Juden Aschkenasim.

Während der Austreibung aus Spanien – die Verbannung aus Portugal folgte vier Jahre später – sind nur wenige Juden den Lockungen, sich taufen zu lassen, unterlegen. In Portugal allerdings gehorchten die meisten dem Zwang. Die Auswanderung verlangte heroische, ja märtyrerhafte Haltung von ihnen. Das hat unter denen, die ein Ziel und eine neue Existenz erreichten, den »spanischen« Stolz noch erhöht. Sie haben, am Eingang zur Neuzeit, die Erscheinung des europäischen Juden regeneriert.

Ihre Vorfahren waren ja seit einem Jahrtausend und länger in Spanien Kaufleute, Seefahrer und Handwerker, Ärzte, Astronomen und Philosophen, Minister, Diplomaten und Offiziere, Dichter und Theologen gewesen. Eine Schicht von Juden aus überwiegend großbürgerlichen Traditionen verließ die Pyrenäenhalbinsel. Ihre Spuren mußten sich bald im Bild der damaligen Welt abzeichnen. Sie haben den jüdischen Aktionsradius zugleich mit der jüdischen Physiognomie in Europa verändert.

Den vielfältigen Gründen der Judenaustreibung aus Spanien nachzugehen, besteht hier kein Anlaß. Nur so viel sei festgestellt: die Juden waren in Spanien ein aufbauendes, ein geistig, politisch und wirtschaftlich produktives Element. Aber sie hatten zu viel Macht und zu viel Mittel in ihrer Hand vereinigt, wohl auch zu viel Macht und zu viel Mittel gezeigt und wirken lassen, um nicht Anstoß und Ärgernis zu erregen. Sie sind sowohl ihrem Mut zu Unternehmungen wie auch ihrem Übermut im Auftreten zum Opfer gefallen. Aber diese (und andere) Momente wirkten nur als Imponderabilien mit. Hart und klar und grausam wurde die Eliminierung der zum Christentum nicht zu bekehrenden Juden von der Kirche gefordert, die bereits eine Ahnung von den kommenden Dingen der Reformation beunruhigte.

Ihr Anspruch stimmt überein mit dem staatlichen Anspruch der national erstarkten Königreiche. Nicht zufällig ist das Ausweisungsdekret in der eben eroberten Burg Alhambra, dem letzten Kastell des Islams auf spanischem Boden, von den siegreichen und siegestrunkenen Majestäten unterzeichnet worden. Isaak Abravanel und Abraham Senior hießen die beiden jüdischen Finanzminister, Steuerpächter und Großkapitalisten, die den langwierigen und kostspieligen Krieg gegen die »Ungläubigen« finanziert hatten.

Unter den Erwägungen, die der frommen Königin Isabella und ihrem Beichtvater Torquemada, dem Herrn der Inquisition, die Austreibung nahelegen mußten, war vor allem diese: die spanischen Juden haben es sich immer angelegen sein lassen, ihre abgefallenen Glaubensbrüder zur Rückkehr zum Judentum zu bewegen oder aber, wenn der Abfall nur äußerlich war, ihnen die heimliche Befolgung der jüdischen Riten zu ermöglichen. Solange es also Juden in Spanien gab, konnte der Gewinn der Kirche aus jüdischem Stamm nicht als sicher gelten. Mit dem Marranenproblem sollte in Spanien aufgeräumt werden. Es wurde jedoch erst jetzt bedrängend in jedem Sinn.

Zugleich mit den Juden wurden auch die christlichen Ketzer auf dem Scheiterhaufen geopfert. So erlitten die Juden ihren Anteil an den Kämpfen um den Bestand der Kirche. Sie kamen als Märtyrer in den christlichen Gesichtskreis. Das Judentum wurde auf eine neue Weise aktuell. Es trat aus der mittelalterlich mythischen Verpuppung in eine neue Realität ein. Es bot sich der psychologischen Betrachtung dar – zum ersten Male wieder seit den Kämpfen gegen das römische Weltreich.

 

Wie großartig die Marranen auch dem Judentum ihre Treue gehalten haben, so ist doch nicht zu verkennen, daß ihr judenchristliches Dasein ein hohes Maß von Heuchelei, von Unaufrichtigkeit gegen Kirche und Staat, gegen Gott und Mensch verlangte und daher eine entsprechende Begabung sich entfalten ließ. Der Zwang, ein Doppelleben zu führen – christlich nach außen und jüdisch im Innern –, war keineswegs dazu angetan, nur märtyrerhafte und heroische Eigenschaften zu entwickeln. In ihr Leben und Wesen trat etwas Abenteurerhaftes, Verschlagenes und Hasardierendes ein, freilich auch etwas Kühnes und Genialisches in der Kunst, das Leben zu meistern.

Marranen wurden außergewöhnliche Soldaten, Seefahrer, Kolonisatoren und überhaupt Menschen mit stark entwickelter Phantasie und Unternehmungslust. Besonders Portugal, in dem die Inquisition viel später und läßlicher einsetzte als in Spanien, hat in der Zeit der überseeischen Entdeckungen und Eroberungen ungeheure Vorteile von seinen Marranen gehabt. In Generationen geübt, ein gefährliches Leben zu führen, begannen sie dieses Leben zu lieben und natürlich desto mehr, je höher das Ziel war.

Wenn es ihnen gelang, aus dem »glühenden Ofen« in andere europäische Länder zu entkommen, repräsentierten sie dort einen neuen jüdischen Typ. Auch was sie sonst mitzubringen pflegten, war erstaunlich: große Reichtümer, noch größere Verbindungen, einen Überblick über die Welt der Wirtschaft und der Politik, eine von der Naturwissenschaft und der Heilkunde bis zur Philosophie gehende, oft in einem Menschen versammelte Bildung, Liebe zur Kunst und zum Wohlleben und endlich auch ein außergewöhnliches diplomatisches Geschick.

Ohne an der Renaissance selbst teilgenommen zu haben, waren viele von ihnen in hohem Maß von Kultur und Lebenskunst Renaissancemenschen. So haben sie in Rom und Venedig, Florenz und Ferrara, in Amsterdam und Hamburg, in Konstantinopel und Saloniki gewirkt, sich bedeutende Geltung verschafft und – so überstürzt sich die Entwicklung – Anlaß zur Bildung von neuen Judenmythen gegeben, oder aber zur Erneuerung der mittelalterlichen, deren Kraft noch längst nicht verbraucht war.

 

Die Marranen sind, wohin immer sie kamen, als Spanier aufgetreten. Sie haben ihre Sprache mitgebracht, ihre Kleidung, all ihre Lebensgewohnheiten. Sie haben sich auch, wo immer ihre Zahl es ermöglichte, zu sephardischen, also spanisch-jüdischen Gemeinden zusammengeschlossen. Spanisches Wesen (und Unwesen) ist mit ihnen gewandert, hat sich durch sie ausgebreitet und ist in fremden Milieus seßhaft geworden. Sie haben der alten Heimat in der neuen, und sogar in der neu-alten, nämlich in Palästina, treu bleiben wollen. Nicht anders als jene vom zwölften bis zum vierzehnten Jahrhundert nach Polen und Rußland geflüchteten Juden, die dort die heimatlich deutsche Sprache zum Jiddischen ausgebildet haben.

Jedenfalls: Das Judentum, das im Laufe des sechzehnten Jahrhunderts sich über die Küsten des Mittelmeers ergossen hat, ist mit spanischem Gesicht und unter spanischer Maske aufgetreten. Daß sich in ihm die Liebe zu Spanien und der Haß gegen Spanien seltsam gemischt haben, gehört zum Wesen des unfreiwilligen Emigrantentums. Schließlich sind ja auch mit dem zwiespältigen Gefühl alte menschliche Bindungen, alte Handelsbeziehungen und alte geistige Interessen gewandert.

Es mußte sich den Einwanderern gegenüber nicht nur die Frage erheben: »Sind diese Juden Spanier?«, sondern auch die andere: »Sind diese Spanier Juden?«. Denn es war ja nicht so, daß die Vertriebenen, oder später die Flüchtlinge überall, wohin sie kamen, ihr Judentum frei entfalten durften. In den christlichen Ländern war es nahezu die Ausnahme. Infolgedessen waren die Ankömmlinge gezwungen, ihr Marranentum fortzusetzen. Sie haben es also auch außerhalb Spaniens nicht leicht gehabt und, wie man hinzufügen muß, denen, die sie in ihrer Mitte aufgenommen haben, nicht leicht gemacht. Es war Zwielicht um sie – Zweifel und Geheimnis, die ewig sich wiederholende Tragikomödie des Emigrantentums, nicht nur des jüdischen.

 

Die Juden, die im späten fünfzehnten und während des ganzen sechzehnten Jahrhunderts aus Iberien kamen, sahen sich einer besonders gespannten politischen Konstellation gegenüber. Europa kämpfte um eine Neuordnung der Macht- und Wirtschaftsverhältnisse wie um seine geistige Entwicklung. Es stand am Beginn der nationalstaatlichen Konsolidierung, von der das politische Bild bis auf den heutigen Tag bestimmt ist. Das nördliche und das südliche Meer waren die Ränder und zugleich die Schauplätze der Entwicklung. Der Osten und Westen begriffen die Spannungsmomente der Kämpfe in sich. Die abendländische Welt begann ein neues Kapitel politischer Geographie.

Im Norden ist England in seiner Auseinandersetzung mit Spanien Weltmacht geworden. Sein vormaliger Erbfeind Frankreich hat sich dabei in die Rolle des ausgleichenden Nutznießers hineingefunden. Denn die große Kontroverse und das entscheidende Antipodentum entwickelte sich zwischen England und Spanien, die sich nicht nur als Repräsentanten der beiden feindlichen konfessionellen Lager, sondern auch als Rivalen in der westlichen überseeischen Welt gegenüberstanden.

Die Königin Elisabeth und der König Philipp II. vertraten zwei Prinzipien, die im Geistigen und Geistlichen, im Politischen und im Wirtschaftlichen unvereinbar waren. Die Zerstörung der spanischen Armada an der englischen Küste hat den Kampf zu Gunsten Englands, zu Gunsten der Insel entschieden. Der Kampf ging weiter – als Krieg der Diplomatie, der Intrigen und Komplotte. Wie die kühnen Seefahrer und Freibeuter Elisabeths die Küsten des spanischen Reiches und seiner Kolonien bedrohten, so landeten die Spione Philipps und die leidenschaftlichen Parteigänger der Kirche nach wie vor auf der britischen Insel und betrieben die spanischen, papistischen und antidynastischen Geschäfte. Daher war, was auch nur an Spanien erinnerte, auf der elisabethanischen Insel verdächtig und verhaßt.

Für die Juden, die aus Spanien verjagt worden waren, hätte nichts näher liegen können, als die englische Insel anzulaufen, wo der Handel der Welt sich zu sammeln begann. Aber als Juden durften sie die Insel nicht betreten, jedenfalls sich nicht auf ihr niederlassen. In der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts hatte sich allerdings eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Marranen in einigen Städten, so in London und Bristol, festgesetzt, wo sie sogar heimliche Gemeinden bildeten und heimlich Bethäuser bauten. In den englischen Häfen war ein marranischer Geheimdienst entstanden, der die Wege der Flüchtlinge gegen den Zugriff der Inquisition sicherte. Aber all dies führte zu nichts anderem als zu einem zwielichtigen Verhältnis der Juden zu England. Als Spanier waren sie verdächtig, Spione Philipps zu sein, als katholisch Getaufte unerwünscht und als Konkurrenten im Handel erst recht nicht beliebt. Eine englisch-jüdische Annäherung also war ausgeschlossen, im Gegenteil, die besonderen Verhältnisse mußten die Vorurteile der Insel gegen die Juden einstweilen noch vergrößern, die Abneigung gegen sie noch verschärfen.

Unter den jüdischen Geschichtsschreibern Englands besteht Streit darüber, ob es im England Elisabeths und insbesondere im London jener Zeit Juden in größerer Zahl gab. Die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß manche Marranen in Anbetracht der großen wirtschaftlichen Chancen in England geblieben waren. Man weiß sogar von mehreren solchen Fällen. Für bekenntnistreue Juden aber fehlte die Lebensmöglichkeit.

Dafür gibt es einige historische Zeugnisse. Im Jahre 1562 wurde ein Doktor Arnande, der sein Judentum verheimlicht hatte, als Jude entlarvt, vors Gericht gestellt und dazu verurteilt, zuerst auf einem Karren schimpflich durch die Straßen gefahren und dann ausgewiesen zu werden. Ähnlich wurde 1598 ein Prager Jude Joachim Gaunz oder Ganz, der als Ingenieur in den englischen Kupferbergwerken beschäftigt war, ausgewiesen, als er sich als Jude bekannte. Im Jahre vorher veröffentlichte der aus Polen stammende Philip Ferdinandus die sechshundertdreizehn Ge- und Verbote der Thora, durfte aber in England bleiben, da er konvertierte.

Wie selbst der geistig hochstehende Engländer um die damalige Jahrhundertwende über die Juden dachte, darauf läßt etwa eine Stelle aus der utopischen Erzählung von Francis Bacon »Nova Atlantis« schließen. Diese erst nach Bacons Tod veröffentlichte Utopie von einem christlichen Idealstaat, den englische Seefahrer auf einer Südsee-Insel vorfinden, erwähnt auch Juden, die auf jener sagenhaften Insel Bensalom wohnen:

»Es leben dort einige jüdische Familien, die Religionsfreiheit genießen, eine Vergünstigung, die man ihnen um so eher gewähren kann, als sie sich in ihrem Wesen sehr von den Juden in anderen Gegenden unterscheiden. Denn während die anderen Juden den Namen Christi hassen und gegen das Volk, bei dem sie wohnen, insgeheim eine tief eingewurzelte Abneigung hegen, haben diese volles Verständnis für viele göttliche Eigenschaften unseres Heilands und sind dem Volk Bensaloms mit großer Liebe zugetan.«

Der Weg nach England war also den Juden verschlossen. Dafür gibt es in der jüdischen Oberlieferung ein ebenso rührendes wie romantisches Zeugnis (vergl. des Verfassers Roman »Maria Nunnez – Eine jüdische Überlieferung«, Philo Verlag, Berlin 1934). Es wird folgendes berichtet:

Ein Schiff mit Marranen, die vor der Inquisition flüchteten und in Amsterdam eine neue Heimat zu finden hofften, wird – wahrscheinlich im Jahre 1593 – von einer Fregatte der englischen Kriegsmarine gekapert. Auf dem Schiff befindet sich mit ihrem Onkel, Bruder und anderen Verwandten ein etwa sechzehnjähriges Mädchen, Maria Nunnez, schön, klug und kühn. Der Befehlshaber des englischen Seglers, ein junger Mann von hohem Adel (sein Name ist nicht überliefert), verliebt sich in die Marranin und bietet ihr die Ehe an. Sie aber lehnt ab, denn sie will mit den Ihrigen der Mission treu bleiben, in dem freien Amsterdam eine neue Heimat zu suchen, wo sie sich wieder zum Judentum bekehren dürfen.

Der Herzog führt das erbeutete Schiff nebst den Insassen nach London, wo diese in den Tower wandern. Er erzählt der Königin von seinem Fang und insbesondere auch von dem Mädchen Maria. Elisabeth wird neugierig auf die Jüdin und befiehlt sie zur Audienz. Dabei gefällt und imponiert ihr Maria Nunnez so sehr, daß sie mit ihr an einem Frühlingstag in der offenen Staatskarosse durch die Straßen Londons fährt. Dann erlaubt sie den Marranen, auf ihrem Schiff nebst ihren Reichtümern, die sie mit sich führen, die Reise fortzusetzen. Sie sind die ersten jüdischen Einwanderer in Amsterdam und die Begründer der nachmals so großen und bedeutenden Judengemeinde, aus der später nicht nur Uriel Da Costa und Spinoza hervorgehen, sondern auch jener Manasse ben Israel, der durch seine Verhandlungen mit Oliver Cromwell die Neuansiedlung von Juden in England vorbereitet.

Auch wenn diese Überlieferung nicht historisch sein sollte, so ist sie immerhin symptomatisch, insofern sie die gelegentliche Anwesenheit von Juden im London Shakespeares bezeugt, aber auch die Unmöglichkeit einer dauernden Niederlassung illustriert.

 

Eine ganz andere Rolle haben die Juden bei den Verwicklungen gespielt, die im Mittelalter aus dem politischen und religiösen Gegensatz zwischen Europa und Asien entstanden. Hier ging es um die Entscheidung, ob Südosteuropa in die Hand des Islams fallen sollte. Hier stand, so wie im Norden die Papstkirche gegen die Reformation, das Kreuz gegen den Halbmond. Die Türken haben ihre Waffen auf den europäischen Boden getragen. Im Norden verfolgte man die Fortschritte der »Ungläubigen« zwar mit christlichem Unmut, aber man hatte ja mehr als genug mit der papistischen und der spanischen Gefahr zu tun.

Der europäische Gegner der Türken war, von der politischen Macht des Papstes und von Spanien abgesehen, die Republik Venedig. Jahrhunderte hindurch ist sie die Herrscherin des Mittelmeers und seiner Küsten gewesen. Jetzt war sie durch den türkischen Imperialismus aufs schärfste bedroht. Sie verlor zusehends an Boden. Zwar gab sich der Vatikan alle Mühe, die katholischen Mächte gegen den vordringenden und sogar die italienische Küste durch Raubzüge heimsuchenden Feind mobil zu machen – die Päpste versuchten sogar, die Ideologie der Kreuzzüge neu zu beleben. Aber Spanien und Frankreich lagen ja selbst miteinander, wenn nicht im Krieg, so doch im ewigen Kriegsspiel, bei dem die italienischen Staaten mit Ausnahme Venedigs, aber mit Einschluß des Kirchenstaates, kaum mehr waren als Trümpfe, die der eine ausspielte und der andere zu übertrumpfen suchte.

Die Türken, auf dem Landweg bis Wien vordringend, zur See allerdings geschlagen und in ihre Schranken zurückverwiesen, taten dem christlich-europäischen Prestige großen Abbruch. Der Papst selbst mußte sich gelegentlich dem Willen des Sultans beugen und Venedig, die Königin des Mittelmeers, glitt in einen Vize-Rang hinab.

Hier nun gerieten die Juden in viel höherem Maß als in dem Kampf Englands gegen Spanien zwischen zwei Feuer. Sie saßen in großer Zahl in Venedig und in noch größerer in Konstantinopel und den anderen türkischen Städten, insbesondere in Saloniki und Adrianopel, In Venedig saßen sie im Ghetto. In der Türkei aber war ihnen die bürgerliche Gleichberechtigung zuerkannt. Sie konnten ihre Lehre pflegen, schnell aufblühende religiöse Gemeinden gründen und sogar im Staatsdienst zu Ämtern und Würden kommen. Das türkische Reich verdankte ihnen viel, nicht zum wenigsten die Kunst, neue Feuerwaffen herzustellen, die sie aus Spanien mitgebracht hatten.

Vor allem aber wurden sie für die türkische Politik wichtig, weil sie europäische Sprachen beherrschten und die europäischen Verhältnisse kannten. Auch das von Spanien her geübte diplomatische Geschick der Sephardim kam nun dem Halbmond zustatten. Der Sultan Suleiman II. und sein Sohn Selim II. haben bedeutende Juden in ihren Dienst und an ihren Hof gezogen – als Leibärzte und Leibdiplomaten.

Natürlich standen die türkischen Juden mit denen an der Ostküste Italiens, vor allem mit den Juden in den Häfen Venedig, Ancona und Pesaro in regen Handels-, Geistes- und Familien-Beziehungen. Ihre Sympathien waren auf Seiten der Türkei, wo man sie menschlich und politisch klug behandelte. So kam es und mußte es kommen, daß sie in Italien und in Europa in den Verdacht des Verrats an der christlichen Sache gerieten. Man kann die Berechtigung dieses Verdachts nicht bestreiten. Denn wie sollten die Juden sich an die Mächte gebunden fühlen, an die geistigen und politischen, von denen sie seit Jahrhunderten immer wieder Zurücksetzung und Verfolgung zu erdulden hatten? Sollten sie etwa Spanien treu sein oder den geistlichen und ritterlichen Orden, die auf den Mittelmeerinseln ein judenfeindliches Regiment führten?

Wieder einmal also hing sich das Mißtrauen der christlichen Kirche, die üble Nachrede und natürlich auch die Legende an ihre Existenz und ließ Südeuropa für sie zum heißen Boden werden. Sie wurden ein Opfer der politischen Konstellation. Das Heimliche, das sie vielleicht gelegentlich planten oder taten, wurde bis ins Unheimliche vergrößert und vergröbert. Der mittelalterliche Mythos bekam neue Nahrung.

 

Man vergegenwärtige sich nochmals die wahrhaft tragische Situation des europäischen Judentums im sechzehnten Jahrhundert. Es stand zwischen Kreuz und Halbmond, zwischen Papismus und Reformation, zwischen Europa und Asien, zwischen Venedig und der Türkei. Es war auf der Flucht vor Spanien und der Inquisition und bei dem Gegner der beiden, England, als Flüchtling unwillkommen. In Deutschland und Frankreich schwankte es zwischen Duldung und Verfolgung hin und her. In den italienischen Kleinstaaten tagten bald die Kommissionen der Inquisition und brannten die Scheiterhaufen, bald regte sich die wirtschaftlich oder humanistisch erleuchtete Vernunft zu Gunsten der Juden. Die Niederlande waren in ihrer Gesamtheit noch nicht frei.

Wo das Mittelalter sich auslebte, in Spanien, und wo die Neuzeit triumphierte, in England – in beiden Ländern waren die Tore gegen die Juden als solche fest geschlossen, Das wirkt heute noch wie ein Spiel der Geschichte mit dem Volk, das unter dem Fluch der Heimatlosigkeit stand, wie ein überhitztes und übertriebenes Spiel. Die Juden waren in eine Zwischenwelt verbannt. Sie blieben in der Fremde.

Ihre Fremdheit auf der britischen Insel spiegelt sich in der zeitgenössischen englischen Literatur. Sie erscheinen in ihr wie Gespenster aus der Nacht – als Abenteurer vom Mittelmeer, unenglisch, unchristlich, unmenschlich. Nichts als Attrappen sowohl des englischen Theaters wie der europäischen Politik.

Dies ist der Weg, der zu Shylock führt – seine nächste und intimste Vorgeschichte.


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