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Das Drama

Shakespeare hat mit der Fabel vom Pfund Fleisch, in die der Streit über und um das Recht eingepflanzt ist, das Motiv von den drei Kästchen verbunden, um das sich die Liebeshandlung seiner Dichtung gruppiert. Auch dieses Motiv hat einen langen Weg hinter sich. Die Hand der Schönen gewinnt, wer von den drei Kästchen, dem goldenen, silbernen und bleiernen, das richtige wählt, das unscheinbarste, das bleierne. Die Moral dieser Geschichte ist nicht frei von Banalität. In der Umgebung des unermeßlichen Reichtums Porzias ist es ein mehr als billiges Vergnügen, sich das Blei zu erphilosophieren. Das Haus ist ja voll von Silber und Gold. Porzias verstorbener Vater, der den Erfolg der Werbung um seine Tochter von der Wahl des bleiernen Kästchens abhängig gemacht hat, muß ein arger Banause gewesen sein. Anders gesagt: Der Mythos von dem Kästchen ist in der Welt Shakespeares schon recht veraltet. Die dunkle mittelalterliche Zeit spukt – nicht ohne Ironie – auch in diesem Motiv.

Im »Pecorone«, dem florentinischen Novellenwerk, ist die Schloßherrin von Belmont, um deren Hand geworben wird, nichts weniger als ein edles Fräulein. Sie hat im Hafen von Belmont ihren Herrensitz und ist eine reiche, habgierige Witwe. Sie wartet auf Freier, die sie schröpfen kann. Zweimal gelingt ihr dies bei dem Jüngling Giannetto, wie der erfolgreiche Freier im »Pecorone« heißt, zweimal verliert er das Schiff, das ihm sein Pate Ansaldo in Venedig ausgerüstet hat, bis er, das dritte Schiff riskierend, der schlauen Dame, ähnlich wie der Ritter der Kaiserstochter in den »Gesta Romanorum«, auf die Schliche kommt. Dieses dritte Schiff ist mit dem Darlehen ausgerüstet, das der Jude gegeben hat. So knüpft sich der Rechtsstreit an.

Shakespeare konnte eine habgierige oder gar betrügerische Frau überhaupt nicht brauchen. Sie wäre mit einem Shylock in Konkurrenz getreten und ihr richterlicher Betrug hätte von vornherein einen noch peinlicheren Beigeschmack bekommen: ein Schelm hätte den andern betrogen! Alle Habgier und alles Unrecht sollte – äußerlich wenigstens – in der Person Shylocks vereinigt werden. Die Dame von Belmont mußte, im Gegensatz dazu, in den höchsten Zustand der Menschlichkeit, der Fraulichkeit und Milde gebracht werden. Sie hat ja die herrlichen Sätze über die Gnade zu sprechen:

»Die Art der Gnade weiß von keinem Zwang,
Sie träufelt, wie des Himmels milder Regen,
Zur Erde unter ihr, zwiefach gesegnet:
Sie segnet den, der giebt, und den, der nimmt;
Am mächtigsten in Mächt'gen, zieret sie
Den Fürsten auf dem Thron mehr als die Krone;
Das Zepter zeigt die weltliche Gewalt,
Das Attribut der Würd' und Majestät,
Worin die Furcht und Scheu der Kön'ge sitzt.
Doch Gnad' ist über dieser Zeptermacht:
Sie thronet in dem Herzen der Monarchen,
Sie ist ein Attribut der Gottheit selbst,
Und ird'sche Macht kommt göttlicher am nächsten,
Wenn Gnade bei dem Recht steht …«

Von dieser »Gnade bei dem Recht« ist nun freilich, wenn Shylock später um sein Recht geprellt wird, mindestens um sein Recht auf die Forderung, nicht mehr die Rede und nichts mehr zu merken.

Shakespeare hat das Motiv mit den drei Kästchen aus Gold, Silber und Blei, ein reines Märchenmotiv, auch im Hinblick auf die Figur des Juden, als zentrale Situation aufgenommen, in der sich die Idee der ganzen Dichtung zeigt. Diese Idee nämlich kreist, wie der Literaturhistoriker Gervinus (1805-1871) schon festgestellt hat, um den Besitz.

Vier Kategorien von Angehörigen der »besitzenden Klasse« treten auf.

Zuerst Porzia: Sie lebt auf dem Landsitz Belmont unweit Venedigs. Sie hat an irdischem Gut, was und wieviel man nur wünschen kann. Sie ist die schlechthin Reiche. Ihr Besitz ist außer Gefahr, sie lebt in Sicherheit und aus dem Vollen: herrliches Haus, herrlicher Park, Dienerschaft und Musik, Natur und Kultur. Das ist der gesättigte, in Generationen aufgehäufte, »gediegene« Reichtum. Sie kann es sich leisten, das Ideale zu pflegen. Eingesessen und eingebettet erblüht diese Reiche zur inneren und äußeren Schönheit.

Dann Antonio: Auch er reich und edel von seinen Vätern her – ein »königlicher Kaufmann«. Er wagt und riskiert sein Vermögen. Er ist der Unternehmer der frühkapitalistischen Zeit, in der die großzügige und kühne Art des Handels noch nicht der Romantik entbehrt. Es liegt noch etwas Ritterliches und Abenteuerliches darin, Schiffe in ferne Länder zu senden. Wer so viel wagt, der darf und der kann nicht am Geld hängen. Er ist, englisch gesprochen, ein merchant-adventurer. Das Wagnis ist der Sinn seines Lebens. Das Geld ist nur Mittel, allerdings auch Gewinn und Krönung des Wagnisses. Antonio ist Herrscher über das Geld. Es gibt Herrscher, die das Objekt ihrer Herrschaft verachten. Antonio beherrscht und verachtet das Geld.

Um ihn herum schwärmen junge Leute, die nichts haben und trotzdem nichts entbehren. Sie zehren von fremdem Reichtum. Ob über die Freundschaft oder über die Liebe hinweg, ob durch Mäzenatentum oder durch eine reiche Partie, bleibt ihnen gleich. Sie sind die Mitreichen, die Lilien auf dem Felde, flotte Habenichtse, sie dienen nicht und verdienen doch. Sie sind die Kostgänger des Reichtums und heben den Unterschied und Gegensatz zwischen arm und reich auf. (Wieviele von dieser Sorte mag es im Umkreis von Essex und Southampton gegeben haben!)

Zuletzt Shylock: Er ist so sehr dem Geld verhaftet, daß es den Inbegriff seines Lebens ausmacht. Er hat kein liegendes Gut, keine Schiffe auf dem Meer, er hat und will nur bares Geld oder Juwelen, die so gut sind wie bares Geld. Für ihn ist das Geld Selbstzweck. Es anzuhäufen, es zu vermehren, es zu lieben, zu wissen, daß es da ist – das ist sein Leben. Er arbeitet für das Geld, das Geld arbeitet für ihn. Er ist genau so groß, wie die Macht seines Geldes. Erweist sich dessen Ohnmacht, wird er selbst ohnmächtig.

Vornehm ist es, als Erbe auf ererbten Gütern zu leben.

Ritterlich ist es, seine Schiffe und damit seine ganze Habe den Winden und den Seeräubern preiszugeben.

Romantisch ist es, kein Geld zu haben und doch fröhlich in den Tag hinein zu leben.

Aber unvornehm, unritterlich und unromantisch ist es, sein Dasein nur der Erhaltung und der Vermehrung des Geldes zu widmen und zu verdanken.

Dies ist das Schicksal des Juden Shylock. Er steht unter der Herrschaft des Geldes. Er ist sein Sklave.

 

Das Herrentum der anderen gegenüber dem Geld und Besitz wird mit allen Mitteln betont. Schon die drei Kästchen symbolisieren die Verachtung von Gold und Silber – ein, wie gesagt, schwächliches Symbol. Ein stärkeres schon sind die beiden Ringe, die Graziano und Bassanio am Schluß der Gerichtsverhandlung dem angeblichen Doktor Balthasar und seinem Begleiter schenken. Denn diese Ringe empfangen ihren Wert nicht von dem Stück Metall, aus dem sie gemacht sind. Sie stellen »höhere« Werte da.

Aber selbst die Art, wie Lorenzo mit der Shylock-Tochter zugleich die Shylockwerte entführt, dieser nackte und grobe Raub, diese unverblümte Mitgiftjägerei, wird vom Dichter mit einem Anschein von Recht und Romantik umgeben. Die Jugend, der Übermut und die Lebenslust Lorenzos – sie bekommen Recht gegenüber dem toten Besitz Shylocks. Solches Gut, sagt Shakespeare zwischen den Zeilen, hat keinen Anspruch auf Schutz und auf Unversehrtheit, es ist Raub an der Menschheit, am Leben und also wert, wieder geraubt zu werden. Ein schwärmender Müßiggänger ist dem Dichter eine erfreulichere Erscheinung als ein rechnender Geldverleiher. So stark bekennt sich Shakespeare zum Herrentum. Das ist nicht englischer Geist, aber es ist der Geist der Renaissance.

Die Großzügigkeit nun vollends, die Antonio und Porzia dem Besitz gegenüber an den Tag legen, scheint förmlich einem Wunschtraum des Dichters entsprungen zu sein, sich auch so verhalten zu können. Die beiden rechnen nicht. Bassanio ist ein verarmter Verschwender – ihm hilft Antonio. Antonio ist nach Verlust seiner Schiffe kaum etwas anderes als ein verarmter Verschwender – ihm hilft Porzia. Und wird nicht auch Graziano, der ihre Dienerin Nerissa heiratet, einer ihrer Kostgänger werden? Oder auch Solanio und Salarino, die bisher von Antonio gelebt haben? Schließlich bleibt Porzia allein die Gebende.

Sie demonstriert alle Gesinnung und Haltung, die der Welt Shylocks widersprechen. Sie repräsentiert das Gegenspiel wider ihn: eine Frau. Eine Frau wählte Shakespeare als Sinnbild einer Zeit und einer Welt, deren Insignien sein ganzes Werk bestimmen. Porzia verkörpert bereits den Mythos einer neuen Zeit, die im England Shakespeares noch den ganzen Reiz der Neuheit hatte, weit davon entfernt, sich schon durchgesetzt zu haben. Es ist der Mythos vom neuen Menschenadel. Er entspringt dem antiken Vorbild und gewinnt bei Shakespeare eine realistisch gehärtete Form, die das Reformatorische der im sechzehnten Jahrhundert beschlossenen Zeitwende weltlich, menschlich erschließt, erweitert und erhöht. Durch Porzia bekommt der Begriff des Reichtums seinen Doppelsinn. Den Sinn, daß äußerer und innerer Reichtum einander zu entsprechen haben. Bei Porzia bleibt im Verhältnis zwischen Mensch und Besitz kein Rest. Porzia hat, als einzige Person des Stückes, das Mittelalter ganz überwunden. Darum ist sie die führende und entscheidende Kraft im Gegenspiel gegen Shylock.

Darum eben auch ist sie ganz und gar von Liebe umgeben, von dem ausschließlichsten der Gefühle, an dem nur einer gar keinen Anteil hat: Shylock. In beiden verkörpern sich zwei Welten, die sich nirgends schneiden und die sich, wo sie sich nahe kommen, bis zum äußersten bekämpfen. Es ist nicht bloß ein spielerischer Zufall und ein dramaturgisches Ergebnis, daß der Geist Porzias über die Welt Shylocks zu richten hat, so wie es auch mehr als eine theatralische Finte ist, wenn Porzia nicht als sie selbst, sondern in der richterlichen Vermummung des Doktor Balthasar dem Juden gegenübertritt. Aus dieser Vermummung tritt sie ein einziges Mal heraus: wenn sie die Worte über den göttlichen Wert der Gnade spricht! In ihnen nämlich überflügelt sie nicht nur die Welt Shylocks, sondern auch die Welt Antonios. In diesem Augenblick rechtfertigt der Geist ihren Besitz, ihre Liebe und sogar ihre Täuschung des Gerichts.

Porzia – das ist die Phantasmagorie eines Menschen, einer Menschheit, die noch nicht Wirklichkeit geworden ist und nie Wirklichkeit werden kann. Sie ist Wahrtraum eines Dichters – wahr in der Idee.

Damit rückt Antonio an die zweite Stelle. Seine schwachen Hände sind mit Unrecht befleckt. Das hohe Lied der Freundschaft, das man gern in ihm verkörpert sieht, hat große Schönheitsfehler. Er liebt Bassanio, weil dieser jung, übermütig und lebenslustig ist. Das ist eine mehr ästhetische als ethische Art der Freundschaft, ein Gefühl zweiten Ranges, und seine Sympathien zu den anderen Jünglingen haben erst recht kein menschliches Gewicht und kein sittliches Niveau. Der reiche Mann, der sein Geld leicht ausgibt, wird dadurch noch nicht wertvoll, auch nicht durch eine edle Melancholie, die ihn dem Leben entfremdet. Auch nicht durch ein Opfer, dessen Härte er für nichts achtet. Kurz, Antonio ist der Repräsentant einer abgelebten und dekadenten Gefühlswelt und Zeit. Mit den Vorurteilen des Mittelalters und allerdings mit einer neuen Lebensstimmung, die aber mit ihrem eigenen Spiegelbild ins Nichts oder ins Ungefähre zerfließt.

Die menschliche Rangordnung der Dichtung also lautet: Shylock – Antonio – Porzia. Die Auseinandersetzung findet zwischen der untersten und der obersten Stufe statt. Der Mann der Mitte stellt die dramaturgische Verbindung her.

Man kann die Klimax auch zeitlich benennen: Mittelalter – Übergangszeit – Neuzeit. Dem ersten gehört der Abscheu, der zweiten das Mitgefühl, der dritten die Gloriole. Das Venedig Porzias steht für eine neue Welt – wie das England Elisabeths.

Man kann den Gegensatz auch so benennen: Hie Ghetto, dort Belmont. Dazwischen liegt die Stadt Venedig. Sie wird verherrlicht – aufgerundet und aufgehellt zu einer Welt im kleinen und großen. Die Freier Porzias kommen aus allen Windrichtungen nach Belmont. Ihre Aufzählung wirkt wie ein Völkeratlas. Schon hier wird Porzia zum Mittelpunkt eines humorisch verkürzten zeitgenössischen Weltbildes.

In diese Welt tritt als unheimlich fremdes Element Shylock, der Jude – ungemäß, unzeitgemäß, unvenezianisch, geradezu unweltlich. Wie er von der Stadt Venedig verschlungen, aufgezehrt wird, das ist die jüdische Tragödie in der Dichtung Shakespeares. Wie die Stadt Venedig über alles Fremde, nicht nur über den Juden, sondern auch über die Freier Marokko, Arragon und die anderen triumphiert – auf der Daseinshöhe, Daseinserhabenheit des Schlosses Belmont, das ist die Komödie. Shakespeare hat erkannt, daß die jüdische Tragödie sich in der Komödie der Welt verbraucht.

Er hat die Komödie in ihren Figuren idealisiert, die Tragödie verdickt. Dies ist das Doppelgesicht seiner Dichtung und das Geheimnis ihrer unverwelklichen Gültigkeit, die sich zweier Mythen bedient: des in die Zukunft weisenden Porzia-Mythos und des aus der Vergangenheit hereindämmernden Shylock-Mythos.


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