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Zweites Kapitel.
Geschichtliche Voraussetzungen


Die Juden im Mittelalter

Im Mittelalter vollstreckt sich an den Juden abermals das Schicksal, das sie in der Antike ereilte: das seit der Zerstörung seines Staates durch Vespasian und Titus zerbrochene Volk zerbricht und zerbröckelt immer von neuem. Immer wieder versucht es von unten her sich zu Gemeinden zu formieren, zu der nächst höheren Gemeinschaftsform über der Familie. Diese Formationen gelingen an allen Ecken und Enden der Welt überraschend gut. Denn sie haben den denkbar festesten übergeschichtlichen Mittelpunkt: Gott, Glauben, Tradition. Die jüdischen Gemeinden sind so dicht und so klein, wie Kommunalgemeinschaften sind. Man kann sie geschichtlich erfassen. Das ergibt aber nicht mehr als Kommunalgeschichte oder aber, von innen her, Geschichte des Glaubens und der Lehre. Und diese müssen hier als Gegensätze zur Universalgeschichte gelten.

Aus einem ebenso einfachen wie zwingenden Grund: das Schicksal der Judengemeinden hing nicht von der gemeindlichen Gesinnung und Haltung ihrer Mitglieder ab, sondern von der Möglichkeit, sich dem Gang und dem Zugriff des großen politischen Geschehens zu entziehen. Wo ihnen dies auf die Dauer nicht gelang – und wo wäre es ihnen auf die Dauer gelungen? –, da fielen sie nach Jahren oder Jahrzehnten, gelegentlich auch erst nach Jahrhunderten, einem von außen kommenden Anlaß zum Opfer.

Ja, noch mehr: je stärker diese Gemeinden blühten, also ihre geschichtliche Kraft entfalteten, desto mehr waren sie den von außen drohenden Gefahren ausgesetzt. Je reicher an Glauben und Gütern sie wurden, worin sich ja der Sinn einer Gemeinde erfüllt, desto heftiger fühlte sich die Außenwelt, die geschichtliche Welt, von ihnen herausgefordert – zu Störung und Zerstörung.

Dies hat seinen Grund darin, daß ihr Glaube und mit dem fortschreitenden Mittelalter auch ihr materieller Erwerb andere waren als die der herrschenden Gemeinschaft. Es konnte sich kein gemeinsames Bewußtsein, keine geschichtliche Solidarität herstellen. Die jüdischen Gemeinden mußten in Europa Fremdkörper bleiben, also geradezu widergeschichtliche Organismen.

Es hat den Juden an vielen Orten und zu vielen Zeiten nicht an dem Willen gefehlt, sich der übergeordneten historischen Größe zu fügen, und ebensowenig fehlte es am Willen der Christen, den jüdischen Gemeinden eine untergeordnete Legitimität zu verleihen. Von diesem beiderseitigen Willen gibt es das ganze Mittelalter hindurch Spuren und Zeugnisse in der Gesetzgebung. Aber es lag sowohl im Wesen der christlichen Gemeinschaft wie in dem der jüdischen Gemeinden, daß daraus kein fortwirkender, also historischer Tatbestand wurde.

Es hat der Kirche, seit der notwendig judenfeindlichen Apologetik der Kirchenväter stabil geworden, keine Verlegenheit bereitet, die unbekehrten Juden dem kirchlichen Weltbild einzufügen. Die Juden waren die zur Strafe für ihre mangelnde Rechtsgläubigkeit und für ihre Untat am christlichen Heiland über die Welt verstreuten Zeugen der neuen nachjüdischen Heilswahrheiten, und sie waren von der späten Gnade, vor oder bei dem Jüngsten Gericht, nicht ausgeschlossen. Vorläufig allerdings waren sie noch des Teufels, aber auch der Teufel brauchte Anhänger, um am Ende der Tage mit ihnen den höheren Mächten der Dreieinigkeit zu erliegen. Rein theologisch also gab es einen Ort für die Juden des Mittelalters. Sie waren, theoretisch und dogmatisch, eingeordnet in den Triumphzug der Kirche.

Aber so, in der Theorie und mit dem Dogma, war die Judenfrage, die Frage nach dem diesseitigen Verbleib der Juden nicht zu lösen. Ihnen haftete ja neben der rein theologischen noch eine, wie man sie wohl nennen muß, teleologische Besonderheit an. Sie hatten ein Land und eine Hauptstadt, eine Zukunft und eine Bestimmung, an denen sie um so zäher festhielten, je weiter sie sich davon entfernt sahen. Sie hatten »Erez Jisroel« und »Jeruschalajim«, die Hoffnung auf den Messias und die Aufgabe, durch ihn und mit ihm die Völker der Welt zu erlösen.

Sie hatten in der Fiktion alles, was ein Volk zum Volk macht: ein geschichtliches und ein metaphysisches Ziel. Es war das, was den einzelnen Völkern und der Gesamtheit des europäischen Mittelalters als Idol vorgeschwebt hat: ein (jenseitiger) Herr, ein (diesseitiges) Volk, ein (verbindender) Glaube. Diese gewiß mittelalterliche Ideologie war, ohne jede verfälschende Zutat, in der fiktiven Welt der Juden enthalten und hat sie ermächtigt, bei aller äußerlichen Ohnmacht sich als Volk zu fühlen. Dieses Gefühl enthielt alles – nur keine Gegenwart!

Darin zeichnet sich die jüdische Tragödie, nicht nur des Mittelalters, in ihrem ganzen Ausmaß ab, die erschütterndste Tragödie, deren Opfer je ein Volk geworden ist. Die Juden haben den Anspruch, ein Volk und sogar das auserwählte Volk Gottes zu sein, in keinem Moment aufgegeben – im Dienst ihrer Lehre, die ein Volk, eben dieses eine jüdische, zur Voraussetzung hat. So wurde aus einem religiös gerichteten nationalen Epos eine politische und menschliche Tragödie. Das Judentum hat das Zerbrechen einem Arrivieren und Aufgenommenwerden vorgezogen, worin jeder Gerechte hinwiederum eine volkhafte Tat sondergleichen sehen muß, vielleicht allerdings auch, was dem Tragischen ja entspricht, eine Tat voll weltlich-politischem Widersinn.

Die vollkommene Inkongruenz zwischen dem mittelalterlichen Europa und dem in seiner gottesstaatlichen Antike verharrenden Judentum ist der Grund, warum die Juden außerhalb der Geschichte des Mittelalters bleiben mußten. Die Verschiedenartigkeit der Rasse hat dabei so gut wie keine Rolle gespielt. Von ihr wußte man im Mittelalter nichts, im Gegenteil: der Universalitätsanspruch der Kirche und des Reichs hat eine rassische Unterscheidung der Menschen ausdrücklich ausgeschlossen.

Man könnte sich denken, daß in den Mittelmeerländern jener Zeit, die durch Krieg, Krankheit und Armut oft ausgeblutet und entvölkert waren, eine europäische Gemeinschaft, ja sogar ein Staat der Juden hätte entstehen können. Daß die Juden über die kommunale Gemeinschaft nicht hinausgefunden haben, ist nur auf ihre religiös-eschatologisch begründete Abstinenz zurückzuführen und diese ruht in ihren höheren und wahrhaft hohen Ansprüchen auf ihre Existenz als Volk Gottes.

Sie haben statt ihres Anteils an der Geschichte des Mittelalters ihren bereits vollbrachten Anteil an der Weltgeschichte nochmals gelebt. Sie blieben im Bezirk der biblischen Geschichte, die in der Überlieferung des Alten Testaments und des Talmuds groß genug war und stark genug fortwirkte, um einen Boden der geschichtlichen Allegorik darzustellen. So kam es, daß die Juden als Geschichtsvolk ohne Geschichte lebten, so wie sie ja auch als Volk ohne große Gemeinschaft zu leben verstanden haben.

 

Die jüdische »Geschichte« des Mittelalters also vollzieht sich in Geschichten. Die einzige historische Tatsache von Einheit und Größe, die sich aus diesen Geschichten herausschält, ist die der Zerstreuung. Sie vollzieht sich am Idealkörper eines Volkes und vollstreckt sich gegen das Individuum. Sie ist nicht der Ausdruck einer geschichtlichen Ordnung, sondern einer untergeschichtlichen oder geschichtslosen Willkür. Was den Juden im Ganzen geschieht, wird als Wirkung nur im Leben des einzelnen sichtbar. Daraus wird, in einer Zeit der Universalität, »der« Jude geboren.

Der Jude in Spanien wird Ritter und Minister, Staatsmann und Kulturträger in der gleichen Zeit, in der sein Glaubensgenosse in Frankreich oder in Deutschland mit Sack und Pack, mit Frau und Kindern, mit den Gebetsriemen und dem Talmud auf heimlichen Wegen durch die Nächte irrt. Diese Ungleichheit des Schicksals beruht nicht im mindesten auf einer Ungleichheit der Begabung oder Gesinnung. Vielleicht liebt und versteht dieser Irrende das Land, das ihm seine Füße wund und den Buckel krumm macht, tiefer als jener Arrivierte, der in Samt und Seide und im Glanz von Würden und Reichtümern stolziert.

Dies ist die Geburt des jüdischen Individualismus, der ein Produkt der europäischen Diaspora ist. Das Mittelalter hat das Bild vom Judentum zersplittert und dadurch wieder eine unübersehbare und unkontrollierbare Vielfalt der Beziehungen unter den Juden selbst hergestellt. Woraus sich der Schluß ergeben hat: was ein, nämlich »der« Jude tut, das tut überhaupt das Judentum. Mit anderen Worten: in der christlich-mittelalterlichen Anschauung hat sich ein Bild vom jüdischen Volk summiert, das keinem Gesamtbild in der Wirklichkeit entsprochen hat.

Minorität sein, ist ein schweres Schicksal. Die Juden haben es in ihrem geschichtlichen und in ihrem nachgeschichtlichen Dasein ausgekostet. Sie waren als Kleinstaat durch ein Jahrtausend zwischen den werdenden und vergehenden asiatischen Großmächten eingekeilt. Sie standen als Kleinmacht auch gegen die Weltmacht Rom. Und so wurden sie als Flugsand unter die europäischen Völker geweht, nach Macht und Zahl geradezu ein Inbegriff der Minorität.

Jetzt aber, im Mittelalter, waren sie eine Minderheit unter den allergeheimnisvollsten Umständen: sie waren überall! Seßhaft oder wandernd, sie waren da! Kreuz und quer durch den Kontinent und über die Insel hin. Vertrieben, eingekerkert oder abgeschlachtet – aus der Welt schaffen konnte man sie nicht. Mit oder ohne Gerechtsame, mit oder ohne Toleranz – sie beteten, studierten und trieben Handel. Und nicht nur dies – saß einer von ihnen zu Regensburg, ein kleiner oder großer Mann, so konnte es sich herausstellen, ja so war es wahrscheinlich, daß er Verbindung mit einem Glaubensgenossen in Avignon, Toledo oder Damaskus hatte. So daß im Grunde der zu Regensburg auch in Avignon, Toledo oder Damaskus saß, und umgekehrt! Ein Volk? Eine gespenstische Minorität!

Bemüht man sich, der Denkweise, dem Gefühls- und Glaubensleben eines mittelalterlichen Menschen gerecht zu werden, so ist nichts so schlüssig wie dessen Annahme, daß die Juden einen anderen Gott haben müßten als die Christen. Der »Andere« aber war natürlich der Teufel. Der Kampf gegen die Juden – das war der Kampf gegen den Teufel. In seinem Bild bereinigte sich alles, was man gegen die andere Gläubigkeit, gegen die andere Wirtschaftlichkeit, gegen die andere Existenzform der Juden auf dem Herzen trug.

In diesem Punkt setzt die mythenbildende Kraft des Mittelalters ein. Kirchliche und weltliche, christliche und heidnische Einflüsse haben zusammengewirkt, um aus dem mittelalterlichen Dasein des Juden etwas Legendäres, etwas Gespenstisches zu machen. Die Mythologie untersteht nicht dem Gesetz von Ursache und Wirkung. Sie springt aus Untergründen, ja aus Ungründen in ihre volle schöpferische Wirkung hinein. Wunsch und Traum, Angst und Sucht sind die Eltern des mythischen Bildes. Es entsteht als Spiegelung der Luft. Der Mythos ist zugleich Unter- und Übergeschichte.

Das Mittelalter hat in seinem Kampf mit der Kirche und in seinem Kampf für die Kirche eine Anzahl der herrlichsten Mythen geschaffen. Es hat die christliche Dreieinigkeit verschwenderisch geschmückt und sie mit einem Hofstaat von Heiligen umgeben. Darin beruht die feiertägliche Leistung des Mittelalters für die Schönheit der Welt. Mit ihr überwand es die Qual und die Angst seines Werktags.

Der Werktag des mittelalterlichen, in der Strenge des Christenglaubens lebenden Menschen war trüb, hart, rauh, roh. Dieser Mensch mußte den Weg gehen, den auch einmal der jüdische Mensch gegangen war: von den Göttern zu Gott. An diesem Weg warten Verirrungen und Verwirrungen, Rückfälle und Ausfälle. Zum hohen Spiel um das Gute gehört das niedrige Widerspiel des Bösen. Der Schwarzmagier und die Hexe, der Heide, der Sarazene und der Jude haben dieses Widerspiel bestreiten müssen.

Der Jude war fremd und fremdgläubig, landflüchtig, ohne die biderbe Ehre, die vom Landbau oder Handwerk kommt, ohne die Zuverlässigkeit, die der feste Wohnsitz verleiht, ohne die Gnade, die das Privileg der Kirche war. Deshalb begann der Tanz des Glaubens, des Ober- und Aberglaubens, und begrub ihn unter einem Wust von Vorstellungen, die nicht von der nüchternen und gerecht betrachteten Erscheinung des Juden stammten, sondern diese Erscheinung so verzerrten, wie es der mittelalterliche Mensch wahrhaben wollte, zu einem Wunschbild, zu einem Bild der Verwünschung.

Es ist müßig zu fragen, ob nicht einzelne Juden des Mittelalters Anlaß zur Mythologisierung ins Satanische gegeben haben. Wer von vornherein verdammt ist, von dem darf man nicht verlangen, daß er engelsgleich sei. Der mittelalterliche Jude war, von heute aus gesehen, so gut und so schlecht wie das Mittelalter selbst. Aber darauf kommt es nicht an. Vielmehr kommt es auf diesen Gegensatz an: der Jude hat, mit seinem Alten Testament, das ihm wirklich ein zutiefst verpflichtendes Testament, der »Letzte Wille« seines Volkes war, mit seinem Talmud und rabbinischem Schrifttum, das Mittelalter spirituell gar nicht mitgelebt, und dafür ist er ein Opfer, ein Geschöpf, ein Zerrbild der mittelalterlichen Mythologie geworden.

Der Jude hatte gegenüber dem Mittelalter das schlechte Gewissen des seelisch Unbeteiligten und Nichtverantwortlichen. Das Mittelalter aber hatte dem Juden gegenüber das schlechte Gewissen des Nichtverstehens und Mißverstehens. Aus dieser Spannung hat sich die Entfremdung zwischen christlicher Gesellschaft und christlichem Staat einerseits und jüdischer Gemeinschaft andererseits vollzogen.

 

Bis ins elfte Jahrhundert konnte von europäischen Judenverfolgungen noch wenig die Rede sein. Es war jedoch bereits klar geworden, daß die Juden die Kirche und ihre Segnungen und somit die geistige und geistliche Gemeinschaft mit dem Mittelalter ablehnten. Dagegen waren sie nützliche Mitglieder der menschlichen Gesellschaft, Träger eines internationalen Güteraustausches, besonders zwischen Orient und Okzident. Ihre Querverbindungen über die ganze damals bekannte Welt waren kaum zu ersetzen und zu entbehren.

Das änderte sich mit dem Erwachen der Kreuzzugsidee. Bis dahin weiß die europäische Chronik der Juden nichts von Ritualmord, nichts von Hostienschändung und nur sehr wenig vom Wucher der Juden. Das Mißtrauen gegen sie war mehr in den kirchlichen Akten als in der Welt vorhanden. In der Welt sah man ihre großen Verbindungen, ihren blühenden Handel und, beides zusammengefaßt, eine Art von wirtschaftlicher Exterritorialität, die zugleich einen scharfen Gegensatz und eine Ergänzung der scharf und eng begrenzten Wirtschaftlichkeit der europäischen Völker darstellte.

Nun aber, da man das heilige Grab aus den Händen der Feinde Christi befreien wollte, sah man, daß die »Mörder« des christlichen Heilands, rührig und reich (die Unzahl der stillen Gelehrten und der Armen rechnete man nicht), mitten unter der Christenheit lebten. Man fiel über sie und über ihre Güter her. Es wurde, vor allem am Rhein, ein abscheuliches Gemetzel. Damit hatte ein Krieg gegen die Juden und ein Martyrium begonnen, die Jahrhunderte währen sollten. Friedlosigkeit und Lebensangst wurden das Gesetz, unter dem sie zu leben hatten. Immer waren ihr Leben und Gut, ihr Glaube und ihre Ehre bedroht. Feudalwirtschaft und Zünfte machten ihnen die Ansiedlung unmöglich und verschlossen ihnen das Handwerk.

Die Kreuzzüge schufen überdies direkte Verbindungen mit dem Morgenland und schalteten das bis dahin so wichtige Mittlertum der Juden aus. Die Juden wurden Trödler, Geldverleiher und Pfandhalter. Sie wurden kleine Hausierer und große Gläubiger – verachtet und gehaßt.

Nun wurde die Jagd auf sie eine mittelalterliche Gewohnheit und Einrichtung. Noch schlimmer aber gedieh ihnen der Schutz, den ihnen die Landesherren als Geldgebern und Steuereinziehern zuteil werden ließen. Denn sie drängten sie in die Rolle der ausgebeuteten Ausbeuter. Sie wurden Kapitalisten in der vorkapitalistischen Zeit. Nicht nur weil die geldbedürftigen Ritter, Standesherren, Fürsten und Kaiser sie dazu gezwungen haben, sondern auch weil ihre eigene unsichere Lage sie auf den Besitz der am leichtesten zu transportierenden oder zu versteckenden Werte verwies. Ein erzwungenes oder mindestens protegiertes jüdisches Kapitalistentum wurde auf eine schon brüchig gewordene Naturalwirtschaft gepfropft. Verachtung und Haß waren die Folgen.

Zwischen dem ersten und dritten Kreuzzug, also zwischen dem elften und dreizehnten Jahrhundert, entstanden die Mythen, die den Juden als Feind Gottes, der Christenheit, der Menschheit gebrandmarkt haben: die Legende vom ewigen Juden, vom Ritualmord, von der Hostienschändung und anderen mehr. Kein Fürst, keine Stadt, kein Bezirk und kein Land war nun um einen Grund für die feindliche und gewalttätige Auseinandersetzung mit den Juden verlegen. Der Jude selbst wurde zur mythischen Figur einer Ober- und Unterwelt. Der Gläubige konnte mit ihm verfahren, wie er wollte.

Es gab, etwa um 1250, in allen europäischen Ländern von Sizilien bis England, von Spanien bis Nordosteuropa Judensiedlungen, Judengemeinden, Judengassen. Es gab das Ghetto, wenn dieses auch erst volle zwei Jahrhunderte später in Venedig seinen Namen bekommen hat. Das Ghetto wurde die Unterwelt der mittelalterlichen Stadt. Was mochte sich hinter den Mauern der Häuser, die windschief über der engen Gasse hingen, begeben? Die draußen wußten es nicht und sie glaubten daher jede phantastische Nachricht und Erfindung.

Der eine oder andere hatte diese oder jene Schwelle in der Judenstadt oder Judengasse betreten. Er hatte hinter der schütteren und unscheinbaren Fassade Wände mit Teppichen und Zierat behängt, große vielarmige Leuchter, schwere Truhen, riesige Folianten mit geheimnisvollen Zeichen gesehen. So sind die Meinungen und Sagen von ungeheuren Reichtümern, von Zauberei und Nekromantik, von dunklen Gebräuchen und Plänen der Juden entstanden.

Das Ghetto, ursprünglich als Schutz gedacht und als Heimat empfunden, wurde ein sichtbarer Ausdruck der wirtschaftlichen und seelischen Spannung zwischen Christen und Juden. Es verewigte die Fremdheit der letzteren und legte zwischen sie und die Christen nicht bloß Gassen und Mauern, sondern eine Welt, die Zwischenwelt des Geheimnisses, der Fabel, der Mythen. Zugleich kam auch die Kennzeichnung durch den spitzen Judenhut und den gelben Judenring auf, wodurch die Träger nicht nur kenntlich gemacht, sondern auch gebrandmarkt waren.

Daß das europäische Judentum den Exorzismus dieser hochmittelalterlichen Jahrhunderte überlebt hat, ist ein Mysterium. Man kann es kaum erklären. So unerklärlich wie erschütternd ist es, daß die Juden damals nicht den europäischen Staub von ihren wandergewohnten Füßen geschüttelt haben. Aber es hatte sich ihrer eine europäische Lähmung bemächtigt und ein echt mittelalterlicher Mut, zu leiden und sich hinzuopfern. Sie hatten ja auch die Möglichkeit zu bleiben und selig zu werden: sie konnten sich taufen lassen. Doch wenige ergriffen gegen viele Arten von Verlockung und Zwang die Möglichkeit. Warum, warum? Das konnte der mittelalterliche Christenmensch nicht begreifen. Er legte es als teuflische Besessenheit aus.

Nun schien das Gefäß des mittelalterlichen Wahns bis zum Rande voll. Aber es sollte noch schlimmer kommen. Im fünften Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts, schon am Rande der Neuzeit, überfiel der Schwarze Tod, überfiel die Pest Europa und raffte Millionen Menschen hin, entvölkerte Städte und Landschaften – eine Geißel der Christenheit.

Die Pest – das wurde das neue Stichwort gegen die Juden. Sie brach im Süden aus, in Südfrankreich und in Italien und wanderte nach Norden. Aus glaubwürdigen Quellen erfährt man – was auch kein geringerer als Papst Clemens VI. verkündete –, daß die Juden von der Pest genau so hingerafft wurden wie die Christen. Sie lebten aber nur in lockerer Gemeinschaft mit ihren Wirtsvölkern und waren auch durch ihre mäßige Lebensweise und ihre Ärzte besser behütet. Dementsprechend fielen sie ihr wohl in bestimmten Gegenden in geringerer Zahl zum Opfer. Dies bedeutete für die Heimgesuchten: sie fielen ihr nicht zum Opfer. Und wer nicht Opfer ist, muß Mörder sein. Der Mythos, einmal vorhanden, wirkte so rasch wie die Pest: die Juden sollten die Brunnen, die Quellen, ja sogar die Luft vergiftet haben, um die Christen auszurotten und sich selbst zu Herren Europas zu machen. Zu Herren Europas, zu Herren der Welt – der Mythos kennt keine Grenzen.

Nichts lag näher als die phantastische Annahme, daß der gigantische Plan, die Christen Europas zu vernichten, von den iberischen Juden ausgegangen war. Setzte die Pest nicht im Süden ein? Waren denn die iberischen Juden nicht die mächtigsten und schlauesten der Welt? Die Pest-Mythologie blühte zu einer grausigen Dichtung auf. Heinrich Graetz (1817-1891), der jüdische Geschichtsschreiber, schildert sie wie folgt:

»Im Besitz großer Machtmittel und unbedingten Einflusses auf die jüdischen Gemeinden von ganz Europa hätten die spanischen Juden den teuflischen Plan zur Vertilgung der Christen ausersonnen, überallhin Sendboten mit Giftdosen ausgesandt und bei Androhung des Bannes sämtliche Juden bewogen, ihre Befehle zu vollstrecken. Von Toledo, gewissermaßen der jüdischen Hauptstadt sei die Weisung ausgegangen. Das wahnbetörte Volk machte sogar einen toledaner Juden namhaft, der die Befehle und das Gift überbracht hätte. Er habe sich in Chambéry niedergelassen und von da eine ganze Schar jüdischer Giftmischer nach allen Ländern und Städten ausgesandt. Das Gift, von den jüdischen Schwarzkünstlern in Spanien bereitet, sei bald aus Basilisken-Fleisch, bald aus Spinnen, Fröschen und Eidechsen, bald wieder aus Christen-Herzen und Hostienteig hergestellt worden. Es sei in kleinen Lederbeutelchen oder Läppchen verteilt worden und von roter, grüner oder schwarzer Farbe gewesen …«

Durch diese apokalyptische Fabel, die auf der wahrhaft gigantischen Hintertreppe des mittelalterlichen Europa entstand, sind die Juden von neuem als die Erzfeinde der (christlichen) Menschheit gekennzeichnet. In ihr sammelt sich alles, was die dunkle, verstandes- und gefühlsverwirrte Epoche eines Erdteils gegen eine recht- und schutzlose Minorität hat hervorbringen können. Diese gewaltige Lüge fängt alle kleineren Lügen in sich auf und verwandelt sie zu einem Urteil, das von der höchsten Instanz, nämlich der mythologischen, gefällt und ins Bewußtsein des Volkes und der Völker eingegraben ist.

Die makabre Stimmung der Pestzeit, aufgepeitscht noch durch die Scharen der Geißelbrüder, schafft endgültig die Methode, Unerklärtes und Unerklärliches an Heimsuchung der Völker auf das Schuldkonto der Juden zu setzen. Den Juden wird damit eine Bedeutung zugemessen, die in einem krassen Mißverhältnis zu ihrer Zahl und zu ihrem Gewicht steht. Es geht, was die Juden anlangt, überhaupt nicht mehr um Gewicht und Zahl. Je weniger Juden es gibt, desto mehr Schlechtes traut man ihnen zu. Als ob all die Gnadenlosigkeit der mittelalterlichen Schlächter und Hingeschlachteten in die Seele der Überlebenden gefahren wäre.

Das Mittelalter hat ganze Arbeit getan. Es hat großartige und herrliche Mythen geschaffen. Aber keiner ist so groß wie der häßliche, mörderische, jedes Element der Wirklichkeit zersetzende Mythos vom Juden.

Mythisch waren die Juden in Europa angetreten – als Hüter einer Lehre, die nur ihnen gehörte und für die sie im Kampf gegen das heidnische Rom ihr staatliches Dasein, ihre Heimat und unendlich viel Blut geopfert hatten. In ihrer Zerstreuung über die Erde und mit ihrer äußeren Heimatlosigkeit, der eine innere Heimat in ihrer Lehre kontrastvoll entsprach, dichteten die Juden den Mythos, der von ihnen selber handelte. Wären sie im Mittelalter untergegangen, hätten sie sich von der christlichen Kirche aufsaugen lassen, so wäre ihnen als Volk ein heroischer Nachruhm beschieden gewesen. Da sie aber als widerkirchliche Märtyrer sich durch die Zeiten gerettet haben, ist an die Stelle dieses Nachruhms das Vorurteil getreten – festgehämmert als europäischer Mythos.

Dieser Mythos ist realer geblieben als alle historische Wirklichkeit, die das Judentum seitdem schuf und die dem Juden seitdem neue Züge gab. Die Empirie kann ihre suggestive Macht über die Menschen nicht mit der Kraft der Mythologie messen. Was einmal Bild geworden ist, spottet jeder Neubildung und – Bildung. Weisheit hat nichts mit Wissen zu tun.


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