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Der Sinn der Fabel

Die Fabel vom Pfund Fleisch veranschaulicht den Übergang von der Rechtshärte, dem »rigor juris«, anders gesagt: vom strengen und starren Recht, dem »jus strictissimum«, zur Billigkeit und Menschlichkeit in der Rechtsauslegung, zur »aequitas«.

Das mittelalterliche Recht entstammt der römischen Antike, die im sechsten Jahrhundert die großartige, weltgeschichtliche Justinianische Kodifizierung geschaffen hat. Im zwölften Jahrhundert wurden ihre Teile zum »Corpus juris« zusammengeschlossen. Im fünften vorchristlichen Jahrhundert steht, am Eingangstor zu diesem Jahrtausend der europäischen Rechtsbildung und Rechtsformulierung, das römische Zwölftafelgesetz.

Nach den zwölf Tafeln war der säumige Schuldner dem Gläubiger mit Leib und Leben verfallen. Der Grundsatz war: »Qui non habet in aere, luat in cute« – was man kurz mit »Fleisch für Geld« übersetzen kann. Den Gläubigern war das Recht gegeben, den säumigen Schuldner in Stücke zu zerschneiden, »in partes secare«, und es wurde nicht als Rechtsverletzung angesehen, wenn sie etwas zu viel oder zu wenig schnitten (»si plus minusve secuerunt, sine fraude esto!«). Es hat sich sogar ein System von Taxen herausgebildet, welcher Schuldsumme jedes Glied und jeder Körperteil entspricht, was ein Auge, Ohr oder Bein wert ist, wenn der Gläubiger sie an Stelle einer verfallenen Forderung verlangt.

Aber auch dies ist schon wieder das Ergebnis eines fortgeschrittenen Rechtszustandes. Denn ursprünglich darf der Gläubiger mit dem zahlungsunfähigen Schuldner nach Belieben verfahren. Er kann sich seine Arbeitskraft zunutze machen oder ihn in die Sklaverei verkaufen oder, beim Zusammentreffen mehrerer Gläubiger, in Stücke hauen. Das Zwölftafelgesetz sieht für die radikale Form der Rechtsrache am säumigen Schuldner eine genaue Prozedur mit Fristen und Erklärungen vor. Dies ist bereits eine Art von Vollstreckungsschutz.

Auch das Recht der germanischen Völker war nicht menschlicher. Noch in der lex Salica, dem fränkischen Recht, verfiel der Schuldner der Ächtung und Friedlosigkeit, die nach Vereinbarung in Schuldknechtschaft umgewandelt werden konnte. Im skandinavischen Recht milderte sich die Friedlosigkeit in Schuldknechtschaft, die aber bei Arbeitsverweigerung den Anspruch des Gläubigers auf Verstümmelung und Tötung wieder aufleben ließ. Desgleichen kannten auch die Angelsachsen die Verknechtung aus Armut, also aus Zahlungsunfähigkeit. »Manus et caput«, die Arbeitskraft und das Leben des Schuldners, waren »in manu domini«, in der Hand des Schuldherrn.

Die Rechtsentwicklung an der Grenze zwischen Antike und Mittelalter hat noch eine ganze Reihe von Vollstreckungsformen gekannt, so den einfachen Bann, die Wüstung (devastatio), die Gewerbesperrung, die Entziehung der Bestattung, Quälen und Peinigen, Beschimpfung und Kleiderberaubung. Dies sind nur einige Stichproben aus dem Schuldrecht der alten Zeit, das aber bis über das Mittelalter hinausreicht. Sie genügen, um das Rechtsmilieu zu erhellen, aus dem die Fabel von dem Pfund Fleisch entstanden ist. Hinter den schuldrechtlichen Bestimmungen steht das Talionsprinzip, der Grundsatz von der genauen und strengen Wiedervergeltung, der im Schuldrecht übertragen angewandt wurde.

Die harten Bestimmungen haben sich in der Praxis bald gemildert. Sie haben als zwingendes Recht die Antike nicht überlebt. Bei den Römern sind sie schon vor dem Beginn unserer Zeitrechnung außer Kraft gekommen, aber als Gewohnheitsrecht und als Inhalt der populären Rechtsanschauung ist ihr Geist bis an die Schwelle der Neuzeit und sogar bis in die neueste Zeit erhalten geblieben – in der Form der Schuldhaft und bis heute in der Form des persönlichen Arrests.

Der Inhalt der Fabel mit dem Vertrag, durch den sich der Schuldner freiwillig dem Zugriff des Gläubigers auf seinen Körper unterwirft, deutet darauf hin, daß sie in einer Zeit entstanden ist, in der die Bestimmungen des Zwölftafelgesetzes und die ihnen ähnlichen Gesetze anderer Völker bereits außer Kraft waren. Aber das Motiv von der Verpfändung eines Pfundes Fleisch wird noch von der Anschauung der groben Rechtsrache getragen, wie ja überhaupt der Geist, der ein Gesetz schafft, nicht nur vor diesem zu finden gewesen sein muß, sondern es auch oft noch zu überleben pflegt. Er spukt dann noch in Verträgen, die aus konservativer Popularauffassung vom Recht entstehen.

In der Tat scheinen »Fleischpakte« in verschiedenen europäischen Ländern bis zum fünfzehnten Jahrhundert vorgekommen zu sein – Verträge, die zur Sicherung bestimmter Leistungen oder Unterlassungen die körperliche Unversehrtheit des Verpflichteten einsetzen. Dieser Einsatz hatte die rechtliche Funktion einer Konventionalstrafe. Es ist aber kein Fall bekannt, in dem die Vertragserfüllung in diesem (eben längst veralteten und verpönten) Punkt ernstlich verlangt oder gar verwirklicht worden ist. Vielmehr hat es den Anschein, als hätten solche Klauseln eines Vertrags (Abschneiden der Ohren, der Nase usw.) nur dazu gedient, den Ernst und die Strenge einer Abmachung zu unterstreichen.

Freilich darf eines nicht übersehen werden: die Unversehrtheit des menschlichen Körpers hat im Mittelalter und auch später durchaus nicht zu den anerkannten Elementarrechten gehört. Das Strafrecht hat Verstümmelungen gekannt und gerade im elisabethanischen England waren sie an der Tagesordnung. So mancher, der etwas Verbotenes geschrieben hatte, verlor seine rechte Hand und mancher, dem etwas Staats- und Thronfeindliches über die Lippen gekommen war, seine Zunge oder seine Ohren.

Vermutlich waren es diese Strafen, die das Interesse für den Sinn der Fabel genährt haben. Die Zeitanschauung hatte noch Verständnis dafür, daß Unrecht gesühnt wird durch Unrecht, auch daß den, der sich rächt, wieder die Rache trifft. Man hat dafür aus kirchlicher Gesinnung den alttestamentarischen Satz »Auge um Auge, Zahn um Zahn« als Rechtsquelle herangezogen (ob mit Recht, wird sich später erweisen). Dadurch erhielt die Figur des Juden in der Fabel vollends ihren Sinn und ihre scheinbar dogmatische Beglaubigung.

Jedenfalls zeigen sich in der Fabel einerseits antiker und mittelalterlicher Geist und andererseits die neuzeitliche Anschauung und Stimmung. Das Gestern und Heute blicken sich an und spiegeln einander. Das »Recht« eines Vertrags ist Unrecht, das Unrecht der Vernichtung des Vertrages wird »Recht«. Denn daß der Gläubiger sein Pfund Fleisch sollte schneiden dürfen, aber ohne das Recht, mehr oder weniger als ein Pfund zu schneiden und auch nur einen Tropfen Blut zu vergießen, das war ein sehr witziges Spiel mit Recht und Unrecht, das war die Abtötung veralteter Rechtsbegriffe mit Hilfe ihrer eigenen Elemente und Methoden. Die Beliebtheit der Fabel im sechzehnten Jahrhundert ist auch in der Abkehr von der scholastischen Enge und Strenge der Wort- und Begriffsauslegung begründet und natürlich auch in der Abkehr von der formalistischen Ausübung des Rechts.

Insgesamt: die Fabel ist Mittelalter im Stofflichen und bedeutet seine Überwindung in ihrem ersichtlich fortschrittlichen, menschlichen Geist. Das Problem der Sittlichkeit eines Vertrags erhebt sich in ihr, der Geist der Menschlichkeit pocht in ihr und begehrt auf. Sie wird zu einem evolutionistischen Instrument, weniger durch die in ihr zum Ausdruck kommende Rechtsposition als durch die Negation des Rechts, das zum Unrecht geworden ist.

Als Träger und Nutznießer des Unrechts erscheint der Jude – der mittelalterliche Mensch im mittelalterlichen Geist, die Verkörperung eines mittelalterlichen Mythos in der Erzählung einer mittelalterlichen Fabel.

Wahrhaft: lupus in fabula!

Wahrhaft: Shylock!


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