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Sozialismus allein bewahrt Haltung

Sozialismus hat seinen Führer auf dem Kontinent verloren. Doch in der Hauptsache bleibt er fest und vorbildlich. Er haßt den Krieg und er erkennt, daß Krieg immer von Arbeitern geführt wird, die keinen Streit haben, sondern im Gegenteil ein höheres gemeinsames Interesse. Er widersetzt sich standhaft der gefährlichen Ausfuhr von Kapital, indem er die Notwendigkeit unkommerzieller Kapitalanlage im Lande betont. Es ist die einzige ausführbare Alternative. Der Sozialismus weiß, daß Krieg, romantisch gesehen, ein Sport für Könige ist, und er schließt daraus, daß wir besser die Könige los wären, es sei denn, sie können ihre Muße mit demokratischeren Vergnügungen ausfüllen. Er weiß das, obwohl die Zeitungen rühmen, daß diese Schlachten an hundert Meilen langen Fronten, in denen die Erschlagenen zahlreicher sind, als die gesamten Streitkräfte früherer Feldzüge, die größten Schlachten, die die Geschichte kennt, daß solche Maschinenschlächtereien uns so schrecklich quälen, daß wir uns der Undankbarkeit gegen unsere Soldaten schämen, indem wir nicht fähig sind, mit ihnen zu fühlen, wie bei den vergleichsweise lumpigen Affären von Waterloo oder sogar Inkerman und Balaclava. Solange höhere Bildung, Kultur, Auslandreisen und Weltkenntnis, kurz die Qualifikation für das Verständnis auswärtiger Angelegenheiten und vernünftige Stimmabgabe auf wenige beschränkt bleibt und die Menge in Armut, Enge und Unwissenheit gelassen wird und künstlich auf ihre eigenen Kosten vom heilsamen Druck der gemeinsamen Bürde, die allein Menschen unverdorben und vernünftig erhält, abgeschnitten ist, so lange wird diese Klasse der wenigen gezwungen sein, die Unterstützung der Menge für ihre Kriege sich zu sichern: durch schmeichelhafte Verkündung nationaler Zuwendung und entrüstete Anklagen feindlicher Schlechtigkeit, wenn nötig aufgefrischt durch bewußte Fälschung und die heftige Verfolgung jedes Versuchs, unliebsame Wahrheiten bekanntzumachen. Hier ist keine Rede davon, den Junker einen Unhold zu nennen. Man muß Unwissende entsprechend ihrer Unwissenheit leiten. Der Priester muß trügerische Wunder für sie ausdenken, der Mann der Wissenschaft muß ihnen magische Kuren und Heilmittel anbieten, der Rechtsanwalt muß ihren Wahrspruch durch Sophismen, falsches Pathos und Anruf ihrer Vorurteile gewinnen. Die Armee und Marine müssen sie mit Gepränge, Musikbanden, donnernden Salven und romantischen Geschichten blenden, und der König muß sich von der Menschheit absondern und zum Götzen werden. Solange es solche Klassen gibt, führt da kein Ausweg. Mohammed, der kühnste Prophet, der jemals die Botschaft von der Einheit und Hoheit Gottes einem wilden Kriegsstamm brachte, der Steine so andächtig verehrte, wie wir Herzöge und Millionäre, er konnte nicht mit der religiösen Wahrheit allein regieren und mußte zu entsetzlichen Höllenbeschreibungen greifen und dem Jüngsten Gericht, das er für seine Zwecke erfand. Was konnte er anderes tun, wenn er sein Volk nicht der eigenen Vernichtung überlassen wollte? Wenn es eine Grundregel der Diplomatie ist, daß man dem Volk die Wahrheit nicht sagen darf, so ist es nicht deshalb, weil zum Beispiel Sir Edward Grey einen persönlichen Geschmack am Lügen hat. Es ist eine Notwendigkeit, die sich aus der Tatsache ergibt, daß das Volk unfähig ist, die Wahrheit zu ertragen. Schließlich wird das Lügen bei den Diplomaten zur Reflexbewegung, und wir können nicht einmal ein Penny-Blaubuch herausgeben, ohne es mit der ganz deplacierten Behauptung einzuleiten, daß »kein Verbrechen jemals in Europa tieferen oder allgemeineren Abscheu erregt hat, als die Ermordung des Erzherzogs«. Die wirkliche Tragödie war, daß man sich über den gewaltsamen Tod eines Mitmenschen so wenig empörte.


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