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Die russischen Russen und ihre preußischen Zare

Hier muß ich mich vor meinen persönlichen Freunden rechtfertigen, die entweder Russen sind oder Entdecker der Seele des russischen Volkes. Ich erkläre hiermit Sasha Krapotkin und Cunningham Graham, daß mein Herz ihrem Rußland gehört, dem Rußland der Tolstoi und Turgeniew und Dostojewski, der Gorki und Tschechow, des Moskauer Künstlertheaters und des Drury Lane Ballet, des Peter Krapotkin und all der großen Menschenfreunde, großen Künstler und entzückenden Menschen, die ihre eigenen norddeutschen Zare verbannen und einkerkern und peitschen und überhaupt alles was an ihnen liegt tun, sie zu unterdrücken und zu vertilgen. Dem russischen Rußland zuliebe bin ich willig, jeden Punkt zugunsten des preußischen Rußlands zu betonen. Ich stehe dafür ein, daß die Nihilisten, so sehr wir sie liebten, unbedeutende romantische Leute waren, die nicht vermocht hätten etwas auszurichten, wenn Alexander II. abgedankt hätte und ihnen die Aufgabe, Rußland zu regieren, angeboten hätte, statt sie zu verfolgen und schließlich von ihnen in die Luft gesprengt zu werden. Ich stehe dafür ein, daß das Vorgehen der Finnen gegen die Russen sowohl von den Schweden als von den Russen als unerträglich bezeichnet wird und daß wir niemals der russischen Darlegung Gehör schenken. Ich bin bereit, für Gilbert Murrays Behauptung einzustehen, daß das jüngste Tempo demokratischen Fortschritts in Rußland größer war als irgendwo in Europa, obgleich mich das ein wenig an die Vergangenheit gemahnt, wenn die Sozialisten bei einer allgemeinen Wahl zwanzig und bei der nächsten vierzig Stimmen verzeichneten und so in der Lage waren, darzutun, daß ihr Gewinn von hundert Prozent unendlich größer war, als die armseligen zwei oder drei Prozent, welche die Unionisten oder Liberalen bestenfalls aufzuweisen hatten. Ich bin bereit zu vergessen, vor wie kurzer Zeit Sir Henry Campbell-Bannerman sagte: »Die Duma ist tot, lang lebe die Duma!« und wir dem Zaren die Landung in England verweigerten, als sein Schiff, eine Planke weit von unserem Ufer, sich herumtrieb. Bei dieser Gelegenheit wies ich selbst die anglo-russische Vereinbarung über die Aufteilung von Persien der Verwünschung einer Menge in Trafalgar Square, während unsere großstädtische Polizei englische Zeitungen wegen Beleidigung des Zaren den Verkäufern aus der Hand riß und sie ganz nach Kosakenart zerfetzte. Ich habe große Freude an russischer Kunst. Ich fühle in Rußland einen Geist, der das natürliche Gegengift zu Potsdam ist, und ich liebe die meisten Russen, die ich kenne, ganz aufrichtig. Ich könnte es nach meinem Herzen finden, dem Kaiser Vorwürfe zu machen, weil er gegen das Rußland dieser entzückenden Menschen kämpft, gerade wie ich mir gerne vorstelle, daß gute Deutsche jetzt ihn fragen, wie er es über sich vermag, gegen das England eines Bernard Shaw und Cunningham Graham Granaten zu feuern. Mag sein, daß die Geschichte ihm das nicht verzeiht, doch handgreiflich ist, daß er es jetzt tut und zweifellos Englands Perfidie der Verbreitung unserer Werke zuschreibt. Und da wir den Kaiser nehmen müssen wie er ist, und nicht als den Hohenzollern, von der Legende verklärt, muß ich den Zaren nehmen wie er ist. Wenn wir mit dem Kaiser kämpfen, kämpfen wir nicht gegen Bach und Wagner und Strauß, denen wir uns soeben ohne Schwertstreich in der Schlacht von Queen's Hall freudig ergeben haben, sondern gegen alle Kräfte in Deutschland, die es Wagner und Strauß sehr schwer gemacht haben. Und wenn wir für den Zaren kämpfen, kämpfen wir nicht für Tolstoi und Gorki, sondern für die Mächte, gegen die Tolstoi sein ganzes Leben gewettert hat und die ihn vernichtet hätten, wäre er nicht ebensosehr wie ein revolutionärer Christ auch ein Junker mit einflußreichen Beziehungen gewesen. Und wenn ich anzweifle, daß sich der Zar als Mitglied einer demokratischen Friedensliga wohlfühlen würde, zweifle ich damit nicht die guten Absichten Krapotkins an. Ich sehe lediglich das Register von Krapotkins kaiserlichem Kerkermeister und fuße auf der stolzen Tatsache, daß England, nicht einmal Frankreich ausgenommen, das einzige Land in Europa ist, in dem Krapotkin als freier Mann leben durfte, in dem sein Geburtstag von öffentlichen Versammlungen im ganzen Lande gefeiert wurde und seine Artikel von der führenden Zeitschrift willkommen geheißen wurden. Tatsächlich, es ist hauptsächlich Krapotkins wegen, daß ich den Zaren für einen Herrn von einigermaßen von denen Präsident Wilsons abweichenden Ansichten halte und die niederträchtige Tyrannei, deren Hauptfigur er ist, wie den Teufel hasse. Und ich weiß, daß wirklich alle uninteressierten und denkenden Befürworter unserer Kriegspolitik über das russische Bündnis tief beunruhigt sind. Ich würde jedenfalls mit den Tatsachen der Lage in unerlaubter Weise scherzen, wollte ich vorgeben, daß die absoluteste Autokratie Europas mit einer unerschöpflichen Armee in einem unbesiegbaren Land, dessen Herrschaft vom Baltischen Meer bis zum Stillen Ozean sich erstreckt, sollte sie gegen die gefürchtetste militärische Macht Europas militärisch erfolgreich sein, sich nicht zu Forderungen versteigen könnte, die weit gefährlicher für die westliche Freiheit und menschliche Wohlfahrt sind, als die, deren Nichtigkeit Deutschland jetzt einsieht, nachdem es für vierzig Jahre sich und jedermann damit beunruhigt hat. Wenn man alles für Rußland geltend macht, was gesagt werden kann, bleibt die Tatsache übrig, daß eine mit Gewalt russifizierte deutsche Provinz eine ebensolche andere offene Wunde in Europa wäre, wie Elsaß-Lothringen, Polen, Mazedonien oder Irland. Es ist nutzlos, von Garantien zu träumen. Wenn Rußland es versuchen würde, demokratisch zu regieren, es wäre nicht imstande, sein Versprechen einzulösen. Es täte besser, den ursprünglichen Kommunismus einzuführen. Seine Stadtbevölkerung ist ebenso reif zur Demokratie wie unsere eigene (was leider nicht viel sagen will), aber die überwältigende Menge der Bauern, für die der Zar ein persönlicher Gott ist, werden für lange Zeit seine Bureaukratie unwiderstehlich machen. Im Vergleich zur russischen Zivilisation ist die deutsche und österreichische Zivilisation wie unsere eigene; darüber kommen wir nicht hinaus. Ein verfassungsmäßiges Königreich Polen und eine Art Kalifat für Slawen in einem umgestalteten südöstlichen Europa mit dem Zugang zum eisfreien Meer, worauf Rußland das einfache menschliche Anrecht hat, geltend gegen jeden Kräfteausgleich, Schlüssel zu Indien usw., muß die Belohnung für den Anteil Rußlands am Kriege sein, selbst wenn wir Konstantinopel international machen müssen, um es Rußland zu sichern. Doch es kann nicht offen genug von vornherein gesagt werden, daß jeder Versuch, Europa auf der gegenwärtigen Grundlage so zu ordnen, daß das vereinigte Deutschland und Deutsch-Österreich von einer feindlichen Kombination Rußlands und der äußersten Weststaaten eingeschlossen wird, an innerem Widersinn zerfallen würde, wie er bereits zuvor an eigener Haltlosigkeit mit zerstörender Wirkung explodierte. Bis Rußland eine Föderation von verschiedenen einzelnen demokratischen Staaten sein wird und der Zar entweder zum Ehrenamt eines erblichen Präsidenten befördert oder gänzlich abgeschafft ist, muß die östliche Grenze der Friedenslinie an der östlichen Grenze schwedischer, deutscher und italienischer Zivilisation liegen. Polen muß zwischen ihr und der gänzlich andersartigen, zurzeit nicht assimilierbaren russischen Zivilisation stehen, deren Freundschaft wir wirklich zu anderen Bedingungen nicht halten können, da eine nähere Verbindung Rußland ebenso sehr behindern würde wie uns selbst. Indessen müssen wir dem Vormarsch der Demokratie vertrauen, Berlin nichtrussisch und Petrograd unpreußisch zu machen und die Nagaikas der Kosaken und die Reitpeitschen, mit welchen Junkeroffiziere deutsche Privatleute prügeln und die vierzig tolerierten homosexuellen Bordelle Berlins und all die anderen psychopathischen Symptome von Übersättigung und anerzogener Unverschämtheit und falscher Männlichkeit an ihren richtigen Platz zu tun, den ich mir im Mülleimer denke.


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