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Von der Lieblosigkeit

Es ist nichts gewöhnlicher in der Welt als Klagen. Jeder klagt über irgend etwas und glaubt in seinem Herzen sehr vielen Grund dazu zu haben. Und diese Klagen treffen meistens entweder die Menschen überhaupt oder irgend einen Menschen insbesondere. Jeder beklagt sich über den Andern mit Recht oder mit Unrecht und oft in den bittersten Ausdrücken. Diese Gewohnheit und Geneigtheit zu klagen entsteht freilich oft aus erlittenem oder gesehenem Unrecht und hat ihren Grund; aber oft entsteht sie doch auch aus gänzlichem Mangel an christlicher Liebe und Geduld und Nachsicht mit menschlichen Schwachheiten. Jeder ist Mensch und hat gewiß seine Fehler und Schwachheiten und darf hoffen, daß man diese für nicht mehr als für Fehler und Schwachheiten halten wird. Die Besten sind immer am Geneigtesten, zu verzeihen und Gutes zu denken. Diejenigen, die wegen ihrer eigenen Fehler die Verzeihung am Nöthigsten haben, sind oft die Härtesten in Beurtheilung Anderer. Wir nennen dieses Lieblosigkeit, weil es Mangel an Menschenliebe zeigt, von seinem Nächsten immer das Schlimmste zu denken, die schlimmste Auslegung von seinen Reden zu machen und überall die schlimmste Seite von seinen Handlungen aufzusuchen. Wie klein und geringschätzig muß Der von dem Menschen denken, welcher ihm gar keine aufrichtigen, redlichen Gesinnungen, gar keine edlen, uneigennützigen Handlungen zutraut? Er ist selbst ein Mensch; wer soll also von ihm etwas Gutes glauben, wenn er von Andern nichts Gutes glaubt? Hat er dieses Mißtrauen aus seinem eigenen Herzen, aus seiner eigenen Seele genommen, so müssen beide von keinem großen Werthe sein. Ist er durch Erfahrung zu einem so allgemeinen Argwohn verleitet worden, so ist er zwar zu bedauern, aber er ist doch immer ungerecht und hart und lieblos. Wenn ihn Einige beleidiget haben, mit welchem Recht kann er daraus schließen, daß Alle seine Feinde sind? Wenn Einige böse waren, mit welchem Recht kann er darum glauben, daß Alle nichts taugen? Und wenn ein Mann lange gelebt und viel erfahren hat, so ist seine Bekanntschaft immer noch sehr klein gegen die Menge Menschen, die er nicht kennt, und selbst in seiner Bekanntschaft kennt er vielleicht die Wenigsten ganz. Der Grund der Lieblosigkeit ist also immer entweder Mißmuth, Schwachheit und Blödsinn oder Schadenfreude und eigene Bosheit. »Ihr sollt Alles zum Besten kehren!« lautet das Gebot der Schrift, und die Schrift gebietet immer nur das Gute, Löbliche und Nützliche. Wer Alles zum Schlimmsten kehret, ist schon sehr schlimm oder in Gefahr, es zu werden. Wenn die Menschen auch gleich ziemlich eigennützig sind, wenn sie auch gleich immer vorzüglich auf ihren Vortheil denken, wenn sie auch gleich in ihrer Lage manchmal nicht ganz löbliche und gemeinnützige Neigungen haben und sie nähren, so sind sie doch darum auch nicht sogleich böse. Der Himmel erlaubt es, er will es, daß Jeder für sich sorgen soll; dadurch wird viel gearbeitet, und der Zusammenhang ist in der Welt unter allen Menschen so, daß Einer nie für sich allein arbeiten kann, sondern auch durch seinen Fleiß das Wohl der Andern selbst wider seinen Willen mit befördern muß. Es ist freilich nicht edel, merklich eigennützig zu sein; aber wenn die Menschen dabei nur nicht ungerecht sind, so dürfen wir ihnen dieses schon nachsehen. Wir können nie den Grund und die Ursache von den Handlungen der Menschen ganz genau einsehen, und da wir dieses nicht können, wie ist es möglich, ganz richtig und unwidersprechlich zu urtheilen, ob die Handlungen wirklich so schlecht sind, als sie zu sein scheinen? So lange wir nicht ganz gewiß sind, daß ein Mensch durchaus schlecht gehandelt habe, sollen wir immer glauben, es sei möglich, daß er noch gut, wenigstens nur leichtsinnig, wenigstens nicht aus Bosheit gehandelt habe. Durch schlimme Auslegung machen wir nichts besser und richten nur Hader und Groll an. Durch Sanftmuth, Geduld und liebevolle Zurechtweisung wird der Irrende und Leichtsinnige wieder zur Tugend gewonnen, aber durch Bitterkeit und unbarmherzige Mißdeutung wird der Unbesonnene oft vollends zum Bösewicht gemacht. Wer das große Gebot der christlichen Liebe einsieht, fühlt und übt, wird nie in solche Lieblosigkeit verfallen können.

Dadurch wird nicht befohlen, daß wir gegen das offenbare Laster nachgiebig oder gar ohne Einschränkung gütig sein sollen. Gegen dieses ist vernünftige Strenge nöthig, um den Menschen das Lästerliche des Lasters ganz fühlen zu lassen. Wer zu einem überwiesenen Diebe »guter Freund« und zum Trunkenbolde »lieber Bruder« sagen wollte, würde ihnen schwerlich das Häßliche ihrer Vergehungen so begreiflich machen, als wenn er sich gegen Beide mit dem Ernst beträgt, den sie verdienen. Wir sollen nur nicht gleich Bosheit suchen, wo vielleicht nur Leichtsinn ist, nicht Laster und Verbrechen argwohnen, wo vielleicht nur eine Unbesonnenheit war; wir sollen Alles zum Besten kehren. Wir sollen die Fehler des Nächsten nicht ausschreien, sondern sie vielmehr zudecken, damit er ihre nachtheiligen Folgen nicht zu empfindlich spüre, und ihn selbst sollen wir durch Vernunft und Güte von diesen Fehlern zurückzuziehen suchen. Die Geduld und Nachsicht, die wir mit Andern haben, werden alle Andere wieder mit uns haben; denn Niemand ist fehlerlos. Alsdann werden wir Alle wie Brüder, wie gute Kinder einer einzigen großen Familie leben, das Gute doppelt genießen und das Schlimme leicht ertragen.


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