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Von den Pflichten gegen Andere überhaupt

In der Schöpfung Gottes ist überall Ordnung und Schönheit, überall deutliche Absicht, daß er nur das Glück aller seiner Geschöpfe will. Wer diese Ordnung störet, diese Schönheit entstellt, der ist der Verderber seines eigenen Wohls, der Beleidiger der Majestät Gottes. Wir fühlen Alle und beständig in uns das Bedürfniß und den Wunsch, daß es uns immer wohlgehe; wir wenden dazu jedes Mittel an, das uns unser Verstand zeigt. Wir verlangen, daß uns Niemand in der Erreichung unserer Absichten stören soll, und wir verlangen das mit Recht. Gott hat uns zu vernünftigen und glücklichen Geschöpfen geschaffen, und das wollen wir sein. Aber Gott hat auch alle übrigen Menschen, die uns in Allem ähnlich sind, zu vernünftigen und glücklichen Geschöpfen geschaffen, und sie wollen das auch sein. So wie sie uns also in der Erreichung unserer erlaubten Absichten nicht stören dürfen, so dürfen wir sie auch in der Erreichung der ihrigen nicht stören. Sie haben die nämlichen Bedürfnisse, die nämlichen Fähigkeiten, die nämlichen Gedanken; sie sind uns ganz gleich; sie sind Geschöpfe des nämlichen Gottes: sie haben das nämliche Recht. Jedermann fühlt die Verbindlichkeit der Pflichten, die ihn gegen Andere binden; aber Jedermann kann sie auch leicht sehen und begreifen, wenn er nur mit etwas Aufmerksamkeit nachdenken will. »Was Du nicht willst, daß Dir die Leute thun sollen, das sollst Du ihnen auch nicht thun!« das ist ein alter, goldener, ewig wahrer Ausspruch, den die Weisen und Sittenlehrer aller Zeiten und aller Völker auf mancherlei Weise, aber immer mit dem nämlichen Sinn ausgedrückt haben. Er enthält den ganzen Grund unserer Pflichten gegen Andere, wie wir sie uns nur denken können. Gott will, es soll Alles Ordnung und Wohlstand sein; Beides kann nicht bestehen, wenn Jeder den Andern in seiner Ordnung und in seinem Wohlstande beeinträchtigen wollte. Gott ist die unendliche Vollkommenheit und allerhöchste, reine Ordnung; wir sollen ihm so viel, als in unsern Kräften stehet, nacheifern; denn wir sind nach seinem Bilde geschaffen, er hat uns Vernunft und Liebe und Mitempfindung gegen alle unsere Mitgeschöpfe gegeben. Kein Stern hemmt den andern in seiner Laufbahn; Millionen große Weltkörper gehen neben und zwischen einander mit der schönsten Eintracht und bilden Jahrtausende und Jahrtausende das große, herrliche, glänzende, uns unbegreifliche Weltgebäude. So soll es auch auf der Erde gehen, wie im Großen, so im Kleinen, und so kann es gehen. Das Ganze ist gleichsam ein schönes, wohlgeordnetes Gebäude, wo jeder Theil in seiner Art gut und schön ist, aber es nicht blos für sich allein ist, sondern auch die übrigen zweckmäßig mit unterstützet und sie wenigstens auf keine Weise hindert. Alles ist mit Weisheit und Kunst in einander gefügt; Alles ist zu einer allgemeinen Absicht abgemessen; Alles thut seinen Dienst, nichts ist überflüssig oder unnütz. So soll es unter den Menschen sein, und so könnte es sein, wenn Jeder in seiner Lage alle seine Pflichten treu erfüllen wollte. Wer die Verbindlichkeit seiner Pflichten leugnen wollte, der gäbe durch diesen ruchlosen Unsinn auch allen Uebrigen die Freiheit, sich gleichfalls von den ihrigen loszumachen. Und was entstände daraus? Alle Ordnung verschwände, alle Bande zerrissen, alle Sicherheit wäre verloren; Gewalttätigkeit, Verwüstung und Gräuel würden herrschen, wie wir zuweilen in Ländern sehen, wo die Gesetze auf eins Zeit gar keine Kraft haben. Unsere Pflichten entspringen aus der ewigen Einrichtung der Natur und unseres Wesens; sie sind die einzigen Stützen unserer Sicherheit und unserer irdischen Wohlfahrt. Wer sich von seinen Pflichten lossagen wollte, sagte sich von seiner Vernunft los, fagte sich los von allen Ansprüchen auf die Rechte, welche er als Mensch hat. Die Pflichten sind für Alle, binden Alle; aber sie sichern auch Alle, schützen Alle. Die Pflichten, die uns gegen Andere obliegen, liegen auch Andern ob gegen uns. Sie sind Menschen wie wir. Wir können in der Hauptsache auf die nämliche Weise und durch die nämlichen Mittel glücklich werden, durch gegenseitige Tugenden. Pflichten sind keine Lasten; denn ohne sie wären wir elend. Es giebt vielleicht Fälle, wo sie Beschwerden zu sein scheinen; aber meistens liegt die Beschwerde nur in unserer Kurzsichtigkeit. Eine kleine Mühe, mit welcher wir uns vor unendlichen, unabsehbaren Uebeln in Sicherheit setzen, ist eine sehr wohlthätige Mühe. Unsere Vernunft gebietet alle Pflichten, und die Religion heiliget sie. Wir wollen also als vernünftige Geschöpfe alle unsere Pflichten und Alles, was denselben zuwider ist, kennen lernen, um nie etwas nur in Gedanken zu unternehmen, was das Glück unserer Mitbrüder stören könnte und dadurch nothwendig unser eigenes in Gefahr setzen müßte.


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