Willy Seidel
Der Gott im Treibhaus
Willy Seidel

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Zwanzigstes Kapitel

Kaum eine Woche mochte vergangen sein, da liefen in vielen Hotels Groß-Berlins und besonders Potsdams drahtlose Zimmerbestellungen ein. Wie ein Schwarm fremder Zugvögel kamen die Besteller nach.

Es waren merkwürdige Menschen, die überall Aufsehen erregten. Aus allen Teilen der Welt kamen sie, doch zu keinem offenen Kongreß, und zu keinem merkbaren Zweck.

Den listigsten Reportern, die auf das Phänomen aufmerksam wurden, gelang es nicht, hinter ihr Vorhaben zu kommen. Da kein einziger bekannter Politiker sich unter ihnen befand, noch irgend jemand, der der hiesigen Polizei als Zwischenträger bekannt war, so gewann das Problem an 229 Undurchsichtigkeit. – Die Leute gingen nicht in Gruppen; sie begrüßten sich, ohne die Hüte zu lüften, mit Kopfnicken, wo sie sich trafen; höchstens, daß sich einmal zwei oder drei zusammenfanden und dann einen gemeinsamen Ausflug machten, der sie an unbelauschte Orte führen konnte.

Blond überwog bei ihnen, sonst waren noch einige Südamerikaner darunter, auch zwei oder drei Chinesen, die es den Spürhunden durch die Unbeweglichst ihrer glatten Masken doppelt schwer machten, hinter ihre Schliche zu kommen. Soviel jedoch hatte man bald herausgefunden, daß die Fäden im Hause des Professors Sebaldus Schuster zusammenlaufen mußten.

Er ließ öffentlich, um etwaige Erregungen niederzuschlagen, in den gelesensten Tageszeitungen verkünden, es handle sich um einen zwanglosen, rein wissenschaftlichen Kongreß, es sei den Leuten nur daran gelegen, Fühlung miteinander zu bekommen. Die Polizei hatte keine Handhabe und so lief sich das Mundwerk der schwach aufgerührten öffentlichen Meinung bald genug lahm. Durch die äußerste Unaufdringlichkeit, mit der diese Leute sich dem allgemeinen Bilde des Verkehrs angliederten, wurde noch zum Versickern des Interesses beigetragen.

Im Hause Örvandills ging es jedoch lebhaft zu. Man kam zu verschiedenen Tagesstunden, aber man blieb. Sämtliche Räume waren erfüllt von begeistert redenden, gestikulierenden Leuten. Eine Druckerei im Zentrum hatte einen unerhörten Auftrag für Broschüren entgegengenommen. Eine gewaltige Anzahlung von einer unbekannten Quelle lag bereits vor und speiste die Betriebsamkeit der Rotationsmaschinen.

Wie man wissen wollte, handelte es sich um Pamphlete außergewöhnlich verstiegener und absurder Natur. Man begriff 230 nur nicht, warum sie in solchen Massen angefertigt wurden. Zu öffentlicher Besprechung kam es noch nicht, da die Setzer strikten Auftrag hatten, nichts herauszugeben. So tauchten nur Bruchstücke auf, aus denen man weder Kopf noch Schwanz machen konnte. In den Cafés wurde darüber gemunkelt; doch dies war nur einer der vielen Schwatzstoffe, wie sie der hetzende Alltag herzuschwemmte.

Mit der Zeit hatte Örvandill alle Mitglieder des Bundes bei sich begrüßt und mit bestimmten Instruktionen versehen. Jeder hatte sein Material und seine bestimmte Vortragsroute vorgezeichnet, jeder nahm den Auftrag mit der innigsten Begeisterung entgegen.

Schon waren einige abgetröpfelt, um an Ort und Stelle die entscheidende Order abzuwarten und die maßgebende Presse der Welt zu bearbeiten, denn die Artikelserien sollten gleichzeitig überall auftauchen im gleichen Wortlaut und zum mindesten einem Viertel der gesamten Menschheit an einem bestimmten Tage vor die Augen kommen.

Das Werk, das große Werk gedieh und reifte mit einer geradezu unheimlichen Präzision. Nunmehr hatte sich der Letzte aus dem Hause entfernt. Viele saßen in Berlin, etwa dreißig, und der Rest an den übrigen Zivilisationszentren Europas und Amerikas.


Es war im Juli. Die Sonne strahlte schon eine Woche aus wolkenlosem Himmel. – Die Luft war trocken, und Örvandill saß mit seinen ›Kindern‹, wie er sie nannte, im Garten. – Die Hitze setzte allen zu. Sie erhielten ein einsilbiges Gespräch aufrecht. – Verbena schien am allerwenigsten zu leiden, denn kein einziges Tröpfchen zeigte sich auf ihrer elfenbeinweißen Haut. Ihr Körper war trocken und kühl. Sie trug 231 einen kurzen, ärmellosen Chiton, hoch über den Knien gerafft, und das ruhevolle Spiel ihrer schlanken Glieder leuchtete in der Sonne, so oft sie sich rührte. – Örvandill blickte mit glückverlorenem Lächeln auf das Mädchen. Sie empfand ihn nicht als fünftes Rad am Wagen, das wußte er. Sie zog ihn mit hinein in ihr Glück, und sie zeigte ihm mit einer Unbefangenheit ihren Körper, wie sie es den anderen Gästen und Fremden gegenüber nie getan. Denn etwas wie Bewußtheit war in ihr erwacht, seit ihr Traumfreund sich in einen Menschen von Fleisch und Blut gewandelt, an den sie sich klammern durfte.

Mit der Zeit erblühten rosige Flecken auf dem Gesicht des alten Bären. Mit seinem rohseidenen Taschentuch verhängte er sich, wie er sagte, die Sonne, wiewohl der grüne Schatten der Lindenbäume ihn zur Genüge schützte.

»Willst Du schlafen, Ole?« fragte Verbena, die kreuzbeinig vor ihm hockte.

»Ja, laßt mich eine Weile allein, Kinder. Ich sammle Kräfte für das Werk.« – Sie sprang auf und huschte davon. Rupert folgte ihr, und so jagten sie sich eine Weile umher. Der Alte schnaufte tief auf, nahm das Tuch herab und blinzelte ein wenig nach den huschenden Gestalten; dann hob er die Augen in das durchsonnte Blätterdach und starrte geradewegs in die Höhe. Ein Fleck leeren, von weißer Glut durchzitterten Himmels hing gerade über seinem Gesicht, in einer Lücke zwischen den Ästen. Und dort sah er hinein; wie hypnotisiert starrte er in die flammende, weißblaue Glut, die von schwarzen Pünktchen durchwimmelt war. Es war ein Mückenschwarm, der dort zwischen den Blättern tanzte.

Tiefste brütende Nachmittagsstummheit sank über den Garten. Verbena und Rupert waren im Hause. Da hörten sie 232 auf einmal einen gurgelnden, röchelnden Schrei und fuhren zusammen. – Sie blickten aufgeschreckt hinaus. Örvandill hatte sich erhoben und stand dort auf der Wiese, den Kopf gebeugt und beide Hände wie abwehrend in die Luft gestreckt; dann lief er wie ein Betrunkener im Zickzack taumelnd auf das Haus zu. – In dieser plötzlichen, seltsamen Verwandlung seines Wesens lag etwas wie ein böses Omen, das einem den Puls stocken machte . . . – Sie eilten ihm entgegen mit hastigen Fragen, was ihm passiert sei. Er jedoch immer noch abwinkend, als ob er Furchtbares geschaut, machte sich von ihnen los und stürzte ins Studierzimmer. Sie wollten ihm nacheilen, er hatte jedoch die Tür hinter sich verschlossen. Drinnen hörten sie ein dumpfes Poltern, wie wenn er plötzlich in die Knie gesunken sei.

»Ole,« schrie Verbena, »was ist mit Dir? Was hast Du? Antworte uns doch, Ole!!«

Sie rüttelte mit Leibeskräften an der Klinke. Nur ein dumpfes Stöhnen antwortete ihr.

»Was soll ich tun, Rupert? Er hat etwas erlebt! Er hat etwas Furchtbares erlebt!! Ich muß ihm beispringen! Du mußt ihm auch helfen!!« Und ihren vereinten Kräften gelang es zum Schluß, die schwere Eichentür zu sprengen. Sie stürzten hinein und blieben erstarrt stehen.

Als Örvandill im Garten gesessen hatte, war sein Haar blond gewesen wie immer. Nun saß dort auf der Matte, die Finger voller Baststreifen, die er herausgekratzt in ohnmächtiger Verzweiflung, ein alter, bebender Mensch, den Kopf voll weißer Zotteln, der sie mit glanzlosen Augen anstierte und dessen Unterkiefer sich in einer mahlenden Bewegung bewegte, wie der eines alten Weibes.

Sie hoben ihn auf den Stuhl. Sie dachten zunächst an einen 233 Schlaganfall, denn er bot ganz das Bild. Er stürzte ein Glas Wasser hinunter, röchelte noch eine Weile und reckte sich dann langsam in dem Sitz auf. Waren seine Augen früher scharf geschliffene, glitzernd blaue Diamanten gewesen, so glichen sie jetzt toten Glasscherben. Kein Funke lebte in ihnen. Er blickte sie an und sagte auf einmal:

»Laßt mich sitzen, geht weg.«

»Wir gehen nicht weg,« sagte Rupert scharf und bestimmt, »wir müssen Dir helfen. Was wankst Du, Ole! – Du kannst doch nicht versagen, jetzt wo Du der Brennpunkt der großen Bewegung bist, wo alle auf Dich schauen, wo die Erfüllung Deines Lebenswerkes bevorsteht.«

Örvandill sah ihn stumpf an, dann flüsterte er: »Ja, ja.« Und als ob er nicht verstanden habe, wiederholte er mechanisch: »Das große Werk, wie?«

»Ja,« riefen beide, »unser gemeinsames Lebenswerk!« – Örvandill blickte sich mit nickendem Kopf um, wie ein Bär im Käfig, der von einer Pranke auf die andere fällt.

»Ich weiß es gut,« sagte er auf einmal mit zusammenhängenden vernehmbaren Worten, »ich weiß gut, wovon Ihr sprecht, aber das große Werk, damit hat es noch Zeit . . .

Ja, Kinder, damit hat es noch Zeit. Es wird vielleicht keine Woche mehr dauern, dann wird etwas geschehen, das mich, das Euch, das uns alle für dieses unser Dasein vielleicht kaltstellen wird und überflüssig machen . . .

Soeben, als ich im Garten saß und Ihr von mir gegangen ward, habe ich das Furchtbare gesehen. Buchstäblich gesehn, nein, erlebt – ich spürte es am eigenen Leibe. – Es war, als ob ein schleichender Erstickungstod mich anspringe von hinten, ein katzenartig leiser, unnennbar grausiger, rettungsloser, qualvoller Tod. – Ich habe diesen Tod eine Sekunde 234 lang erlebt und davon bin ich jetzt geworden, wie Ihr mich vor Euch seht. Ich, für den es keinen Tod gibt, für den der Tod nur lichtvoller Übergang war, schmerzloses Hinüberwechseln in eine andere Daseinsform! – Ich wurde abgewürgt da draußen, und meine Seele versuchte sich kreischend loszureißen von dem Körper, der ihr so wüst die Türe ins Gesicht schlug.«

Die jungen Leute umfaßten sich und wichen vor ihm zurück mit weitgeöffneten Augen.

»Axel,« brüllte er auf mit plötzlicher Vehemenz, »wo steckt Axel?«

Sie gingen beide ihn suchen. Er saß in einer Ecke des Gartens, auf eine Rasenbank gestreckt und schlief. – »Axel,« sagte Verbena zitternd, »Ole spricht irre.« – Axel setzte sich heftig auf.

»Axel, komm ins Haus. – Wir haben bis jetzt immer gewußt, was er meint; aber heute redet er in Rätseln. Erschrick nicht, wenn Du ihn siehst.«

Aufs höchste betroffen kam Thorstein mit. Der Alte saß wie vorhin im Stuhl und blickte ihnen mit leichenhaft starrer Miene entgegen. Axel zuckte zusammen, als er das schneeweiße Haar sah. Nichts wollte von seinen Lippen kommen, so erschüttert war er.

»So,« meinte jetzt Örvandill, »jetzt habe ich Euch Drei; und Ihr bleibt bei mir, wie?«

»Wir wollen Dich nie verlassen, wir Vier gehören zusammen,« sagte Thorstein mit klarer, ruhiger Stimme.

»Dann ist es gut. – Also hört:

»Wann das Geschehnis eintreten wird, kann ich nicht auf den Tag berechnen, aber die ganzen Umstände sprechen dafür, daß es vielleicht schon in ein bis zwei Wochen seinen 235 Ablauf nehmen kann, und ich kann Dir nur raten, Axel, ruf sie alle aus Berlin weg, schlag' jeden Auftrag nieder, den ich Dir gab; ich bin ein alter, verstiegener Mensch, ich habe nicht mit diesem Schauderhaften gerechnet, das uns allen einen Strich durch die Rechnung macht.«

Axel beugte sich vor und sah ihm tief in die Augen, wie ein Arzt, der einen Irren nachdenklich anblickt, um den Schlüssel zu seinen Reden zu finden.

»Ja, Axel, schau mir nur auf den Grund, Du siehst nichts darin, als Trümmer. Ich weiß es besser, glaube mir.« Axel lehnte sich zurück und nickte langsam mit dem Kopf. – »Ich muß Dir glauben, Örvandill, Du siehst weiter als ich.«

»Ich sitze im Garten,« wiederholte der Alte, »ich sehe in den Himmel und zunächst denke ich, daß es Mücken seien, diese schwarzen Pünktchen, wißt Ihr, die schwarzen kleinen Pünktchen . . . und dann auf einmal bemerke ich, daß sie nur so klein sind, weil sie ungeheuer weit hoch droben tanzen . . . Die Entfernung macht sie so klein!! – Was ich zunächst für einen Mückenschwarm hielt, war mehr als das. – Das war der grausame Untergang alles Lebenden in einem Areal, größer als ganz Berlin und seine Umgebung zusammengenommen . . . Ich sah mit geschärften Augen, als ob meine Augen zu Fernglaslinsen geworden seien . . . Es war der letzte Typ der fliegenden Mordwaffe! Und diese gepanzerten Vögel kreisten hoch im Blau mit einer entnervenden spiraligen Gleichförmigkeit, wie Geier über einem Kadaver; und der Kadaver war Berlin. – Ich sah, daß jede dieser kreisenden Maschinen Bomben niedertröpfeln ließ, mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks. So weit ich sehen konnte, war der Himmel voll von diesem Geziefer. Und dann sah ich, als ob 236 meine Augen durch alles hindurchblicken könnten, die glasüberdachten Straßenzüge, wie von einem Turm aus vor mir liegen. Ich hörte ein gleichmäßiges Knallen, genau das Geräusch, das neulich der Blitz machte, als er das Treibhaus zerschmetterte, aber wiederholt und in die Ferne fortgepflanzt wie tausendfaches Echo, immer denselben einschlagenden, scherbenspritzenden Knall; und dann war es aus. – Was mir noch im Gedächtnis nachbebt, was mir in jeder Fiber des Leibes zittert, das ist der Schrei . . . – Der Schrei . . .« wiederholte er und sank in sich zusammen. Plötzlich fuhren seine Hände ausmalend in die Luft, als wollte er etwas Unnennbares begreifbar machen. – »Wißt Ihr, das war kein einzelner Todesschrei, den ich da hörte, es war ein zusammenfließendes Murmeln von Millionen nach Luft ringender Menschen. Es spülte zu mir hinauf, dieses Murmeln. Es war ein Ächzen allüberall . . . – Das Gas dehnte sich wie ein Schleier am Boden fort und sickerte in die Straßen und in die Häuser hinein. Jeder Winkel, jede Ritze, alles wurde von ihm durchtränkt und immer weiter und unaufhaltsam tickend wie der Sekundenzeiger knallten die Bomben. Das Gas war durchsichtig. Kinder, es war unnennbar grausig.

Habt Ihr einmal über ein Kornfeld geblickt um die Mittagszeit, wenn die erwärmte Luft darüber zittert und den Horizont in Wellen versetzt? So war es mit diesem Gase beschaffen. – Man sah es nicht. Man sah nur die Häuserfronten wellig wanken, man sah alle Konturen wie im Wasser schwanken, und die Menschheit darunter wie ersäufte Ratten, zuckend hingebreitet, klumpenweise über den Asphalt gestreut, zu verzweifelten Knäueln geballt, sich gegenseitig die Kleider herunterreißend! . . . Und dieser Blick, dieser 237 gemeinsame Blick!! – Es ist unausdenkbar, was ich erlebte. Alles stand still wie abgehackt. Die ganze Welt war voller Menschen, die groteske Gebärden machten, Gliedmaßen in die Höhe warfen, in den unglaublichsten Verrenkungen erstarrten. Fabriksirenen pfiffen, da niemand sie stoppte . . . Wildgegewordene Lokomotiven durchrasten das Chaos, entgleisende Trambahnwagen zerschmetterten sich an Häuserfronten. Da und dort kräuselte sich Rauch empor, von Kurzschlüssen hervorgerufen . . .

Und ich stand und blickte noch hinunter in diesen Höllenpfuhl und merkte plötzlich, wie die welligzitternde Substanz zu mir heraufschwoll. Ich hielt mir Mund und Nase zu, aber es kam keine Rettung. Ein paar vereinzelte Aeroplane noch schossen steil von den Dächern empor in die lebenspendende Luft. Einige, deren Führer schon halbbetäubt waren, überschlugen sich und rasselten nieder wie todwunde Vögel. – Ich wollte hinweg, ich wollte hinaus in die Höhe. Aber wohin mich wenden? Jeder Schritt nach unten hätte mich demselben Tode ausgeliefert. Ich tat noch einen letzten Schrei, einen Ruf an das Leben, an all meine zerstörte und gescheiterte Hoffnung, und dann fühlte ich, wie ich hinabsank, ruckweise in den erdrosselnden Sumpf aus Gift hinein . . .

Wir wollten es anders machen!! – Wir wollten diese Menschheit nicht zerstören, nicht hinwegraffen wie Ratten!! – Wir meinten es gut mit ihr! – Der Zehnte noch war es wert, gebessert zu werden und erhoben zum Menschentum! – Aber sie haben sich das Äußerste geschaffen, und müssen nun auch am Äußersten zugrunde gehen. – Meine Kinder, ein Krieg steht bevor und dieser Krieg dauert nicht länger als einen Tag. Diese ganzen Millionen um uns herum sind unrettbar verloren. – Ich weiß es, ich weiß es.«

238 Verbena stand auf und ging zu ihm hinüber. In ihrer Stimme war kein Klang. – »Ja, aber dann müssen wir doch retten, warnen, alles in Bewegung setzen . . .«

Axel sprach klar: – »Was nützt das, glaubst Du, daß Dir auch ein Einziger folgen würde? ›Woher weißt Du das?‹ würden sie fragen, mich, Dich, Rupert oder Örvandill. ›Woher wißt Ihr das?‹ Und was haben wir dagegen zu setzen? Unsere Gewißheit.«

»›Ein Sonnenstich‹ würden sie höhnen,« sprach Örvandill. »So nennt man es doch, wenn ein alter Mann plötzlich in der Hitze irre redet?«

Die Wahrheit dieses Ausspruches ließ die Drei verstummen.

»Ja,« sprach Örvandill, »uns ist die Gabe gegeben, und die anderen haben sie nicht, und ihrer ist das Los.«

»Was bleibt uns denn jetzt noch übrig?« fragte Rupert.

»Was uns übrig bleibt? – Ihr seid jung, – Ihr findet einen anderen Acker vor.«

 

Die Prophezeiung Örvandills wurde noch am selben Tage in der Geheimsprache des Bundes den Mitgliedern, die sich in Berlin und außerhalb befanden, übermittelt. Weit entfernt, sie für Phantasterei zu halten, brachen alle ihre Zelte ab und reisten dorthin, woher sie gekommen waren.

Der Prophet selber aber und seine drei Freunde verließen schon am nächsten Morgen das seltsame Haus und nahmen nur mit, was ihnen teuer war. Ihr Bestimmungsort waren die Finnischen Wälder. – Axel weilte nicht immer bei ihnen, sondern blieb im hohen Norden, wo er Anhänger sammelnd, umherzog. – Die Schriften des Meisters hatten sie in 239 eine feuersichere Kassette gepackt und sie am Ort, den sie erwählten, wohl verschlossen aufbewahrt. – Dieser Ort wurde später eine Wallfahrtsstätte. – Es war eine geräumige Blockhütte an einem der tausend Seen, auf einen felsigen Vorsprung gebaut inmitten uralten Waldbestandes, und auch dies ist in Schriften niedergelegt, wie dort ihr Leben verlief.

Das Gesicht des alten Örvandill traf ein, in noch kürzerer Zeit als sie vermuteten. Eine formelle Kriegserklärung war nicht vorausgegangen; es war ein tückischer Überfall der Nationen aufeinander, ein Aufbäumen der Bestie im größten Stil, wie es die Welt noch nicht erlebt. – Die eingeklemmten, übervölkerten, übersättigten Landstriche der Alten Welt waren von einer Atmosphäre geladen durch einen fünfundsiebzigjährigen Frieden, die sich zu plötzlicher Explosion langsam aber unrettbar verdichtet hatte. Mit den raffiniertesten Vernichtungsmitteln fielen sich die Völker an.

Die wenigen Zeitungsnachrichten, die ihnen durch Zufall in die Hände fielen, bestätigten Wort für Wort die schauerliche Wahrheit. – Berlin war noch unbetretbar. – In den unterirdischen Gelassen der Turmhäuser, ja selbst auf den Straßen noch, lauerte der Gastod. Ein süßlicher Geruch verpestete ganz Norddeutschland: das waren die herübergewehten Miasmen aus diesem Massengrabe. Man hatte fernphotographisch vieles aufgenommen; die Wahrheit spottete jeder Beschreibung. –


Örvandill erlebte es nicht mehr, daß seine Ideen Fuß faßten. Doch war man ihm bereits auf der Spur, als er seinen Abschied nahm, und dieser Abschied war ein seltsamer.

240 Es war eine Wiese in der Nähe des Blockhauses, auf der Verbenas weizenblonde, starke Kinder ihre Spiele zu treiben pflegten. – Der Großvater, so nannten sie ihn, war zu ihnen hinübergekommen, habe wie immer gescherzt, und dann erzählten sie mit weitaufgerissenen, sprühendblauen Augen, sie hätten genau gesehen, er habe sich in einen Baum verwandelt.

Rupert und Verbena verwiesen sie, aber, von den Kindern fast gewaltsam gezogen, schritten sie hinaus bis in die Nähe der bezeichneten Stelle. – Der Alte hatte in der letzten Zeit ein moosgrünes Gewand getragen, sein weißes Haar hatte sich gelichtet und einen stumpfen Schimmer bekommen. – Sie sahen ihn deutlich am Felsen sitzen vor einem Busch; und es war ihnen, als ob er leise mit dem Kopf nicke. – Langsam traten sie näher und sahen sich erstaunt an, wie diese Augentäuschung möglich gewesen sei: dies war in der Tat nicht Örvandill, sondern ein kurzer, gekrümmter, von Moos bedeckter Baumstrunk, der dort zwischen den Felsen wuchs. – Von seinem oberen Ende spielten bleiche Baumflechten im sommerlichen Wind, und die Bewegung, die er ihnen vorgetäuscht, war die leise Neigung neuer grüner Sprossen, die aus den rissigen Ästen gebrochen waren und in siegreicher Smaragdfarbe schwankten.

Doch seltsam; seit diesem Nachmittag war Örvandill verschollen und nirgends zu finden. – Tagelang suchten sie ihn umsonst, er war bewußt oder aus Zufall in einen See gestürzt, wie es deren viele im Umkreis gab. – So war die Erzählung der Kinder das Letzte, was ihnen von ihm im Gedächtnis haftete, und war schon lebendiger Mythus, noch bevor sie seinen Heimgang betrauerten.

 
Ende.


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