Willy Seidel
Der Gott im Treibhaus
Willy Seidel

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Siebzehntes Kapitel

Die Nacht zum ersten Mai war es, die endlich die Erfüllung brachte. – Sie begann mit schweren Atemstößen voller Lindenblütenduft, die sie durchs ganze Haus atmete. – Etwas Drängendes und Pochendes war im Anzug, etwas, was den Schlaf raubte.

Es mochte gegen ein Uhr nachts sein, da legte Rupert das Buch weg, in dem er gelesen hatte. Er lag im Nachtanzug auf der zum Bett hergerichteten Ottomane, aber für heute gab es keine Ruhe. – Die Kerze flackerte unaufhörlich und schloß man das Fenster, so war es zu schwül. – Er hauchte sie aus. – Aber die Geräusche gingen weiter um und wuchsen. Mit einemmal unterschied er ein Tappen von Schritten, 193 wie das leise Klatschen nackter Sohlen auf den Fliesen draußen im Korridor. – Es ließ ihn nicht in Ruhe, wer anders konnte es sein als Verbena? Noch hatte sie sich ihm versagt und dies unruhige Wandern, dies von Zweifeln und Wünschen zögernd angetriebene, brachte auch die Unruhe in ihm zum unaufhaltsamen Durchbruch. – Er stand auf und machte leise die Tür auf. Der Korridor lag leer, nur von einem flackernden ungewissen Licht erhellt, das von dem Windlicht an der Mitte des Treppengeländers kam. – Lautlos ging er zum Treppenhaus. – Dort auf halber Höhe stand sie und spähte zu ihm hinauf. Sie trug grüne Pyjamas und hatte mit ihrem über dem Nacken abgeschnittenen Haar, wie sie so spähend dort stand, etwas knabenhaftes. – Die eine Hand hatte sie in die Hüfte gestemmt, die andere lag auf dem Treppengeländer, als halte sie sich daran fest. Ihr Kopf sank immer tiefer in den Nacken zurück, ihre Augen waren groß und leuchtend. – Und doch fehlte für ihn irgend ein Ausdruck darin, es war fast als ob sie schlafwandele. Er setzte sich auf die oberste Treppenstufe und sprach plaudernd hinunter: »Geht es Dir auch so wie mir? – Ich kann heute Nacht nicht schlafen.«

Sie fuhr sich mit der Hand langsam über die Stirn und nach einer Pause erwiderte sie: »Treppauf, treppab; mir ist zumute wie damals.«

»Als Du vierzehn warst, und die Efeuranken nach Dir griffen?«

»Genau so, Rupert, ganz genau so. Zuerst wollte ich ins Treibhaus laufen; aber heute ist das grüne Licht nicht da, und dann weiß ich nicht, ob ich Ihn stören soll. Ich will Ihn nicht überfallen, denn ich weiß selber nicht, was mit mir ist.«

194 Er ging ihr zwei Treppenstufen entgegen. – »Vielleicht wolltest Du zu mir,« sagte er leise, kaum hörbar.

»Zu Dir?« kam ein langsames, unendlich verblüfftes Flüstern zurück. »Was sollten wir uns wohl zu sagen haben mitten in der Nacht? Aber Du hast Recht, es ist zu zweit heute besser, wie allein.« Sie setzte sich resolut auf den unteren Treppenabsatz und lehnte den Rücken gegen das Geländer.

»Stören wir Ole nicht, wenn wir hier sprechen?« fuhr er fort, noch immer leise.

»Ole schläft nicht,« wiederholte sie, »ich habe nachgesehen. Er sitzt auf, was er sonst nie tut. Ich spür's in allen Gliedern, daß heute etwas geschieht, Rupert, es ist eine halbe Angst dabei, und auch eine leise Freude. Komm näher zu mir!«

Er setzte sich neben sie. Nur durch den dünnen Stoff ihrer Nachtkleider getrennt verspürten beide die Berührung und Ruperts fiebernde Haut schmiegte sich an die Kühle ihres Schenkels. »Wie seltsam,« dachte er wieder, »daß sie immer so kühl ist.«

Das Treppenhaus ließ ihre Stimmen hohl erklingen. Einmal lachte sie auf, scheinbar ohne Grund, und dann wandte sie sich mit einer plötzlichen Bewegung zu ihm und sah ihn mit hochgezogenen Brauen an. Ein leichtes Kräuseln lief über ihre Stirn, wie Wellenringe vom Fall einer Flaumfeder auf stille Wasserfläche, kaum sichtbar. Hinter dieser Stirn entstanden lauter ungelöste Fragen. – Sie begriff sich selber nicht, sie begriff die Stunde nicht und daß es ihr so wohl tat, neben ihm zu sitzen. Sie wurde still und glücklich, aber sehr nachdenklich dabei, und diesmal wagte er es zum zweiten Male. – Es war wiederum dieser unwiderstehliche Zwang, der ihn mit großer Gewalt im Nacken faßte und zu ihr hin 195 schleuderte. – Das erstemal hatte sie ihn mit keusch geschlossenen Knien jäh zurückgestoßen in sein Nichts. Heute erbebte sie und der kühle Körper hing willenlos in seiner keuchenden Umarmung. – Ihre weitaufgerissenen Augen verloren die Fragen nicht. Sie starrte ihn unablässig an, ohne die langen Wimpern zu senken. Sie preßte ihm ihren Schoß entgegen mit einer plötzlichen wilden Bewegung; dann aber straffte sie sich, und als sie ihm aus den Armen schlüpfte, fühlte er ihre Muskeln hart werden vom Entschluß. – Sie lief nicht sofort weg. Ihre Lippen trugen sogar ein leichtverzerrtes Lächeln. Sie stand noch eine Weile vor ihm, ganz still, nur ihre Brust bebte leise vom verhaltenen Atem, dann beugte sie sich blitzschnell nieder, gab ihm einen kühlen Kuß, der an seiner Stirn herabglitt wie ein fallendes Lindenblatt, und war mit einem Sprung auf der Mitte des unteren Treppenabsatzes. – Sie sprang wie eine Katze, mit weichem Niederfallen auf die Sohlenballen. Die Treppe quietschte und knarzte nicht einmal. Dort unten sah sie sich noch einmal um, schüttelte ratlos den Kopf, blickte wild vor Beklemmung nach dem Zimmer Oles hinüber, dann in der Richtung nach dem Garten, dann wieder zu Rupert hinauf. – Sie konnte dies nicht allein ins Werk setzen, das fühlte man. Es war zuviel für sie, sie mußte sich Rat holen.

»Warum gehst Du?« fragte er leise. Er tat seiner Stimme Gewalt an, damit sie nicht zittere und sie erschrecke.

»Ich kann nicht bleiben,« sagte sie mit einemmal gequält und stockend. »Noch hat Er Teil an mir, und wird es immer haben. Ohne Ihn darf ich dies nicht tun. Ich muß Ihn fragen.« –Ihre Augen nahmen einen schwärmerischen Glanz an. – »Siehst Du, dort hinten im Treibhaus sitzt Er jetzt und ist einsam. Glaubst Du, auch Ihn dürstet nicht nach 196 Gesellschaft? Ich muß hinüberhuschen und Seine Miene sehen, und wenn Seine Miene gut ist, dann komme ich vielleicht wieder zurück. Rupert, geh auf Dein Zimmer zurück.«

Langsam und bedächtig, als trete sie einen schweren Gang an, schritt sie die letzten Stufen hinab. Er sah die schlanke Gestalt verschwinden unter leisem Knirschen der Seide, die sich an ihren Hüften spannte. – So ging sie nacktfüßig, die Arme von sich gestreckt, als schreite sie einer rituellen Tanz-Prozession voran . . . – Sie nahm nicht den Weg durch die Haustür. Sie öffnete die Innentür nach dem Speisezimmer, dessen Fenster breit offen standen, und schwang sich hinaus. – Gegen das fahle Licht, das diese unruhige, von einem Halbmond schwach erhellte Nacht erzeugte, sah er ihre Silhouette geschmeidig über das Fenstersims gleiten. Den Sprung nach draußen hörte er nicht mehr. Sie war wie weggeblasen und von der samtenen Schwärze verschluckt.

›Geh in Dein Zimmer‹, hatte sie gesagt. Nein, er konnte es nicht. Ihm grauste vor dem kahlen Zimmer und der Qual der Erwartung darin. Keinen Moment konnte er in dieser Nacht allein sein. – So ging er, so geräuschvoll es ihm glücken wollte, hinab, als suche er Gesellschaft, schloß die Tür zum Speisezimmer mit einem rücksichtslosen Krach, und, als ob es ihn gelüste, noch in der Nacht zu arbeiten, trat er unbefangen in das Studierzimmer des alten Örvandill ein. – Er setzte die kleine Komödie noch fort, indem er erschreckt zurücktrat, als er den Alten am Schreibtisch vorfand. Örvandill hatte eine grüne Lampe auf dem Tisch und trug einen schwarzen Augenschirm, der ihm das Aussehen eines geschäftigen Antiquars oder Käfersammlers verlieh. Dieser oval zulaufende Augenschutz warf einen Schlagschatten über das halbe Gesicht. – Als Rupert eintrat, band Örvandill 197 die Schleife am Hinterkopf los und nahm den Schirm herab. Er entblößte dadurch ein Gesicht, das seltsam verändert schien. Es war eine merkwürdige Milde darin, die von seinem sonst grimmigen Ausdruck eigentümlich abstach.

Wie es seine Gewohnheit war, räusperte er sich anhaltend und sprach dann: – »Können auch nicht schlafen, was? Mir liegt's heute in den Gliedern, als passiere noch etwas. So voll von Ideen ist die Nacht.«

Das Fenster stand weit offen. Er blickte in die Schwärze hinein und ein warmer Atemstoß aus den blühenden Linden wurde herübergetragen. Jetzt vernahm Rupert auch ein leises unablässiges Surren, das von schwirrenden, hochzeitlich erregten Insekten herzustammen schien. Zuweilen krachte es an der Lampe, und ein Käfer war zu ihnen hereingedrungen, ausgespien von der Nacht wie ein kleines Geschoß.

»Ja, ja,« sagte Örvandill bedächtig und streichelte sich die Hautfalte unter dem Kinn. »Der erste Mai ist auch noch heute derselbe. Mir wird heute etwas weggenommen; diesmal komme ich nicht ungerupft davon.«

»Wie meinen Sie das?«

»Warten Sie es ab,« sprach Örvandill und sah ihn trübe an. Über seine blauen vergrabenen Augen lag es wie ein Schleier. »Es kommt für mich auch einmal der Augenblick, wo ich meine Jahrzehnte spüre. Ich kann ja nicht ewig hier sitzen und allein von dem prassen, was ich mir gezüchtet. Es gibt noch andere . . . Käfer, die zufahren wollen.« – Nach diesen rätselhaften Worten räusperte er sich wieder und blickte, leise mit dem Kopf nickend, durch das Fenster. – »Übrigens,« sagte er plötzlich mit einem scharfen Blick, »mir ist so, als sei das Weibchen unterwegs. Haben Sie sie gesehen?«

198 Rupert deutete mit der Hand hinaus. »Sie ist draußen.«

»Es geschieht ihr etwas,« murmelte Örvandill, »es ist nicht alles in Ordnung, ich spür's, ich spür's. – Hörten Sie nichts?« – Ein leiser klagender Laut war in der Nacht entstanden und wieder versunken.

»Ein Vogelschrei,« meinte Rupert.

»Ja,« sagte Örvandill mit dumpfer Stimme, »wie ein Vogelschrei.« – Plötzlich stand er auf und ging erregt im Zimmer umher. – »Das ertrage ich nicht,« sprach er. – »Die Geister, die ich rief, werde ich nicht los, so heißt es doch, wie? – Das Phantom da hinten beginnt mir selbst auf die Nerven zu fallen. Es wird mir zu deutlich.«

Eine Stille verging und dann auf einmal hörte man ein Geräusch am Fenster. Verbenas Hände erschienen auf dem Sims, dann tauchte ihr goldbrauner Kopf ins Lampenlicht und mit einem Satz war sie im Zimmer. – Der Alte stürzte auf sie zu.

»Was hast Du, mein Kind, was ist Dir?«

Sie lag zusammengekrümmt zu seinen Füßen und ein wildes Schluchzen schüttelte sie auf und nieder. – »Ole,« würgte sie hervor, »um Gottes willen, was soll ich machen, was soll ich machen?«

Der Professor richtete sie auf und nahm sie auf den Schoß wie ein kleines Kind. – Sie bohrte ihren Kopf unter seine Achsel und warf dann einen Blick nach Rupert. Örvandill streichelte sie mit seiner großen Handfläche und ihr Schluchzen zuckte weiter, doch lautloser. Des Alten Miene verfinsterte sich; er blickte drohend auf und sprach zu Rupert, in jedem Wort ein Klirren wie von fallendem Metall:

»Was haben Sie gemacht?«

»Ich?«

199 »Ja, Sie haben da etwas angerichtet! – Haben Sie ihr etwas erzählt? – Haben Sie sie beraubt?«

»Ich schwöre Ihnen, ich habe ihr nichts erzählt, gar nichts.«

Der Professor sah ihn an, jede Falte in seinem Gesicht zuckte, dann kehrte Ruhe wieder. – »Gehen Sie jetzt,« sprach er gemessen. – Rupert ging zögernd hinaus. Er konnte sich nicht versagen, draußen vor der Tür zu harren, denn das Gespräch, was jetzt einsetzte, ließ ihm den Puls fast stocken. Es war ein mystischer Schreck, der ihn faßte.

»Was ist Dir, Verbena?« fragte der Alte mit sanftem Orgelton.

»Er ist nicht mehr da,« schrie sie plötzlich gellend auf. – »Er ist nicht mehr da.« – Eine Pause entstand, dann sprach der Alte:

»Du irrst, mein Kind, Er ist immer da, ich werde Ihn Dir wieder zeigen.«

»Wirst Du das, Ole?« fragte sie, flüsternd, ungläubig: »kannst Du das?«

Was Örvandill erwiderte, hörte Rupert nicht mehr, denn er fühlte, er habe sich nicht einzudrängen in dieses rätselhafte Geschehen. Er hatte aber auch die Gewißheit, daß dies alles erst der Beginn eines solchen sein müsse. Ihm blieb nichts übrig, als zu warten, und er tat es mit Zähneknirschen. – Er saß in seinem Zimmer, es war dunkel. Der leichte Wind rauschte und von unten drang der Akkord der dunklen und hellen Stimme zu ihm hinauf. Was sie sprachen, verstand er nicht. Nur hörte er das dumpfe Grollen unablässiger Beruhigung, mit der Ole das fiebernde Mädchen umspülte. Dann auf einmal hörte das Gespräch auf. Es war still.

Drunten wurde die Tür geöffnet. Ein schwerer, stapfender Schritt kam die Treppe hinauf. Nun hieß es sich wappnen 200 gegen ein Gespräch, daß er führen müsse. Sein Puls jagte, wie sollte er's ihm erklären, glaubte ihm der Alte? – Mußte er nun Rede stehen, daß er das Kind um eine Illusion ärmer gemacht habe? Daß er es ausgeplündert habe in der Berechnung, sie müsse ihm zufallen wie eine reife Frucht? – Der tappende Schritt näherte sich seiner Tür. Auf einmal riß der Alte sie auf. Seine Gestalt war gebeugt. Er kam nicht als grollender Zeus, er kam wie ein Bittsteller. Er blickte ihn von unten herauf durch die Fransen seiner zottigen Brauen an, wie ein Bär im Wundbett.

»Kommen Sie,« sprach er endlich mit zerborstener Stimme. »Ihre Stunde ist gekommen.« – Rupert trat hinaus. Sie gingen wieder ins Studierzimmer zurück.

Da saß Verbena. Er hatte sie noch nie so bleich gesehen. Perlblaß ihr Gesicht, saphirblau die Augen. – Der Professor winkte mit dem Kopf, sie stand auf. Der Alte ging voran, nachdem er sich zuvor mit einer Zündholzschachtel versehen. Der Fliesenweg im Garten leuchtete weiß. Sie schritten, ohne sich zu berühren, hinter ihm drein. An der Tür zum Treibhaus angelangt, rasselte er erklecklich mit dem Schlüsselbund und öffnete sie mit tiefem Aufseufzen.

»Geht voran, Kinder,« sagte er, »in den Vorraum.« – Beide traten ein. Er drehte einen Gashahn auf, der die Röhren in das Innere speiste, und verschwand dann im Treibhaus.

»Was tut er, Verbena?« flüsterte Rupert. – Eine süße Bedrängnis saß ihm ums Herz, als sei er ein Knabe und harre der Bescherung.

»Er will Ihn beschwören,« sagte sie mit singender Stimme, »und Du sollst Zeuge sein.«

»Kann ich Ihn denn sehen?«

201 »Heute kannst Du Ihn sehen, Rupert.« – Nach einer Weile beklommenen Schweigens hörten sie drinnen den Alten rufen. Er hatte so etwas wie eine kleine Illumination am Teiche gemacht. Ein paar Gasflämmchen brannten aus den Löchern einer Röhre. – Das Licht, das dadurch entstand, warf einen bläulichen Schimmer über das Wasser und erhellte diesen Teil so weit, daß man auf gut zehn Schritte zu sehen vermochte. Der Widerschein verstärkte die Beleuchtung. – Beide traten hintereinander zögernd durch die Bresche, die von den zurückgezogenen Ranken gebildet war, herzu. Der Alte sah unheimlich aus. Die Schlagschatten hüpften über sein großes Gesicht und um seine ungeheure Hakennase. Seine Schultern schienen schwarz in der Dunkelheit zu zerfließen, nur seine mächtigen Hände waren vorgestreckt. Er stand nahe jener Nische, vor der Verbena damals ihr Gebet verrichtet, und befahl dann mit knurrender Stimme: »Entkleide Dich!«

Nichts glich der Selbstverständlichkeit, mit der Verbena dem Befehl folgte. Ihre Augen hingen unablässig an denen Oles. – »Komm heran, Verbena,« sagte die tiefe Stimme. – Sie streckte die Hände von sich und rührte langsam die schlanken Beine, Schritt nach Schritt, bis sie dicht vor ihm stand. Er legte ihr die Hände auf die Schultern und schob sein gewaltiges Profil an ihr leidenschaftliches Gesicht.

»Du hast gesagt, Er ist nicht mehr da.« – Jede Silbe betonend: »Ich aber sage Dir, Er ist da, und immer hier gewesen.«

Ihre Lippen bebten. Sie formte ein ersticktes »aber . . .«

Er fuhr fort: »Du irrst, Er wartet auf Dich. Hörst Du mich?«

»Ja,« sprach sie singend, »ich höre Dich, Ole.«

202 »Du wirst Ihn sehen, in einer Minute wirst Du Ihn sehen, verstehst Du?«

»Ja, Ole.«

»In der Nische wird Er sein; und Du wirst zu Ihm sprechen: ›Ich bin rein, Du bist rein, und dies ist unsere grüne Zweisamkeit.‹ – Wiederhole es.«

Sie wiederholte die Worte wie einen eingelernten Singsang. Ihre Lider waren herabgesunken. Sie war völlig in seinem Bann. Der Alte nahm die Hände herab. Sie blieb reglos stehen. Dann sagte er, als ob niemand im Raum wäre: – »Gehen Sie in die Nische.«

Rupert tat es. Als der Alte wie ein befriedigter Regisseur die Szene geordnet und sich überzeugt hatte, daß nun nichts mehr fehlgehen könne, legte er wieder die Hände auf die Schultern des Mädchens und fragte: »Hörst Du mich?«

»Ja.«

»So öffne die Augen.« – Sie tat es. – »Wo bist Du?«

»Ich? – Im Treibhaus.«

»Du bist vorhin hier gewesen?«

»Ja.«

»Bist Du seitdem fortgewesen?«

»Nein.«

»Wo ist Dein Freund?«

Sie drehte sich langsam um und blickte starr in die Nische.

»Dort. – Wie immer.«

»Sieht Er anders aus als gewöhnlich?«

Sie trat langsam heran, kniete dann nieder und spähte hinein. Ihr Atem streichelte Ruperts Gesicht wie der Anhauch von Lindenblüten. Ihre Augen schwammen klar und groß in den seinen. – »Nein, Ole,« sagte sie. »Er ist wie immer.«

203 »Du darfst heute ganz bei Ihm bleiben,« sprach Örvandill. »Ihr gehört jetzt einander ganz und gar.« – Sie blickte sich zögernd nach ihm um, als begriffe sie nicht, doch dann kam ein ungeheuer seliger Ausdruck in ihre Züge. – Der Alte blickte noch eine Weile stumm herüber, dann hörte man, wie er sich langsam auf den Rückweg machte. Die Ranken klatschten um die Schultern, es war, als ob er sich mühsam Bahn breche. Dann war er verschwunden und es herrschte Stille, die tropfende Stille der Schöpfung.


Als der Tag graute, verließ Rupert das Treibhaus. – Sie lag in blumenhaftem Schlummer zwischen den Farnwedeln, die sie beschirmten. – Er ging in sein Zimmer zurück und kleidete sich langsam an. Ein Puls, so mächtig, voll und gesund, als habe er vom Elixir des Lebens getrunken, durchströmte seine Glieder. Er sah sein Gesicht im Spiegel; er erkannte sich kaum mehr. – Beim Frühstück erwartete ihn der Alte. Etwas wie ein Lächeln umzuckte seinen Mund.

»Von nun an, Freund Rupert, bist Du einer der unseren,« begann er nach dem üblichen enormen Geräusper.

»Aber fürchten Sie nicht . . .« – Der Alte verbesserte ihn fast grimmig: »Aber fürchtest Du nicht . . .«

»Daß sie zu Tode erschrocken sein wird, wenn sie aus dem Traumleben zur Wirklichkeit zurückkehrt?«

»Nein, ich kenne das große Gesetz. Sie wird staunen, aber dies Staunen wird Glück sein. Ihr Verstand ist derartig mit dem neuen Geschenk verschmolzen, daß sie den Verlust nicht schmerzlich empfinden wird.«

»Aber wird sie nicht fragen und deuteln?«

»Nichts dergleichen. Der Geist ist in Dich hineingeschlüpft, Rupert, Du bist von jetzt ab ›Unser Freund‹, und dazu 204 kann man Dir gratulieren.« – Er blickte eine Weile versonnen vor sich hin. – »Ich habe Dir das größte Geschenk gemacht, das ich zu vergeben habe,« sagte er mit einemmal mit heiserer und entstellter Stimme. »Ich habe mein Alter bis jetzt hinausgezogen. Ich hatte das Leben um mich, nun muß ich abtreten an Dich, was mich jung erhielt. Ich tue es ungern, aber das Gesetz ist größer.«

Eine ungeheure Rührung quoll in Ruperts Seele empor. – »Alter Ole,« sagte er, »wir werden Dich nie allein lassen.«

Die Tür ging auf und Verbena trat in ihrem einfachen Tageskleid herein. Sie ging langsam auf den Tisch zu und sah erst den Alten und dann Rupert an. In ihrem Gesicht lag ein ungeheures Erstaunen. Immer wieder, wenn sie den Kopf senkte, wurden ihre Augen wie magnetisch zu Rupert hingelenkt. Plötzlich erschienen zwei große Tropfen unter ihren Wimpern und fielen auf das Tischtuch.

»Eine unruhige Nacht heute,« sprach der Alte plötzlich und blinzelte listig. »Ich glaube von uns Dreien hat heute keiner so recht schlafen können, wie? Hast Du geschlafen, Verbena?«

Sie krauste die Stirn, als ob ihr die Antwort Nachdenken koste. – »Ich habe wohl geschlafen,« sagte sie zögernd, »aber ich habe lebhaft geträumt, Ole.«

»Hoffentlich einen schönen Traum?« meinte er behaglich.

»Mehr als schön,« sagte sie plötzlich mit einem tiefen Atemzug und erstrahlte. »Mehr als nur schön.« – Sie blickte langsam zu Rupert hinüber, und ihr Gesicht schien plötzlich in die tiefste Purpurfarbe getaucht. 205


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