Willy Seidel
Der Gott im Treibhaus
Willy Seidel

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Achtzehntes Kapitel

Ole verfiel sichtlich.

Es zeigte sich schon nach wenigen Tagen. Er wurde immer schweigsamer und brütete vor sich hin. – Mit einemmal war er, dessen Jugendlichkeit einen Vierzigjährigen beschämt hätte, siebzig Jahre alt geworden und zeigte es in erschreckender Weise. – Seinem robusten Körper konnte man bei diesem plötzlichen Nachlassen keine Schuld geben. So mußte es etwas Psychisches sein, was ihn so deprimierte und an ihm fraß. Allen Fragen, die kummervoll an ihn gerichtet wurden, setzte er ein abwehrendes Händeschwenken entgegen.

»Reißt einmal die Tür zum Treibhaus mitten im 206 Winter auf, und schlagt das Dach ein. – So ähnlich ist mir zumute . . . Ein zertrümmertes Treibhaus.«

Mittlerweile hatte er noch lustige Einfälle, in denen er der Alte sein konnte. Aber wenn die beiden in tiefem Glück des Ineinanderaufgehens ihre Zärtlichkeit nicht vor ihm versteckten, so schenkte er ihnen ganz unvermutet einen schiefen Blick und sein Mund entstellte sich durch ein hämisches Senken der Winkel. – »Treibt es nur vor meiner Nase,« polterte er los. – Verbena sah ihn ganz groß und erschrocken an, dann plötzlich traten ihr Tränen in die Augen.

»Aber Ole,« sang sie gedehnt, »habe ich mich Dir denn entzogen? Gehöre ich nicht Dir ganz wie früher? Hast Du denn je etwas vermißt, was ich Dir nicht zu schenken bereit gewesen wäre??«

Dem Alten erstarb das Wort: »Nein, aber jetzt,« – auf der Zunge. Er verschluckte es, er brachte nur ein Murmeln hervor. –Was half es, dies alles zu erklären, man hatte ihm sein liebstes Spielzeug weggenommen, und er mußte sich damit begnügen, zuzusehen, wie ein anderer, ein Junger, sich damit vor ihm brüstete . . . Das Geheimnis und die Bewandtnis, die es um ihn hatte, war nämlich die, daß er genau so jung wie Rupert war, wenigstens empfand er das so, und seine ganze Empfindung gab ihm Recht.

Demnach war ihm etwas geraubt worden, und je mehr sie sich um ihn kümmerte, je liebevoller sie war, desto schwerer empfand er den Verlust. Pflege, kam ihm vor, war alles, was sie ihm bieten wollte.

Einmal vollbrachte sie eine rührende Tat. – In der Absicht, ihn aufzuheitern, wollte sie vor ihm tanzen. Sie trat plötzlich ins Zimmer mit entbreiteten Armen, nackt wie das Innere einer Perlenmuschel, und bewegte sich rhythmisch durch 207 das lampenerhellte Gemach. – Ole blieb stumm sitzen, es war nicht ersichtlich, ob er diesem Tanz Beachtung schenkte. Sie gab ihr Bestes und dann trat sie auf ihn zu und beugte sich ins Knie, wobei sie ihm in die Augen spähte. – Doch seine Augen waren geschlossen, er sah oder wollte sie nicht sehen. Sie erhob sich und schmiegte sich zwischen seine Knie mit derselben Gebärde wie sie es getan, seit sie denken konnte, doch er blieb unbeweglich. – Sein Atmen war hörbar. Mit einem kleinen Aufseufzen strich sie ihm mit der Hand über den Kopf, doch plötzlich reckte er sich steif auf, umfaßte ihre Hüften mit seinen breiten Handflächen und schob sie von sich. Seine Augen schienen stechend und schlau: die alten Bärenaugen.

»Du bist ein verschwenderisches Ding,« sagte er.

»Ole?«

»Ich habe Dich zwar gelehrt, Dich zu verschenken an alles Lebende, aber ich habe Dich nicht gelehrt, Dich zu vergeuden.«

»Ich verstehe Dich nicht.«

»Lassen wir das,« murmelte er. »Siehst Du nicht, daß ich alt bin?«

»Du und alt!«

»Merkst Du nicht, daß ich müde bin?«

»Aber Ole, das große Werk! Du hast doch neulich erst davon gesprochen, daß Du Dich auf der Höhe des Lebens fühlst.« – Sie fuhr sich mit der Hand an die Stirn, als ob da drinnen alles schmerze. – Dies war zu schwer zu begreifen. Sie war ratlos, von etwas Altvertrautem fortgestoßen und ernüchtert; lieber Gewohnheiten entblättert; irgendetwas in ihrem Dasein wankte und stürzte klirrend in ihr zusammen. – Sie kauerte sich nieder und schluchzte fassungslos in 208 ihren Schoß hinein. Die Tränen fielen glitzernd auf ihre schöngewölbten Knie herab und sickerten an den Innenseiten nieder. – Er war wieder in Brüten verfallen und betrachtete sie dumpf, als gehöre sie nicht zu ihm. Dies war neu und unerhört brutal. Sie empfand es als einen Schlag, unter dem sie sich duckte.

»Hei!« schrie er plötzlich auf und trommelte sich mit den Fäusten vor die Brust. – Dann stand er auf und ging, als sei nichts passiert, die Hände in den Taschen, im Zimmer umher. Es war sogar, als ob ihm ein Liedchen pfeifend zwischen den gespitzten Lippen entstehe. – »Natürlich sind das alles Dummheiten, mein gutes Kind, Du hast ja ganz Recht, das große Werk und wir gehören zusammen wie früher. Es hat sich nichts, gar nichts geändert.« – Er blieb stehen und blickte auf ihren Rücken hinab, auf die zarten Schatten der weichen Wirbel und der leise bebenden Schulterblätter. Da hockte sie nun hier, das Weibchen, und begriff nichts. – »Laß es gut sein, steh auf. Ich bin ganz der Alte, verstehst Du.«

Sie war mit einem Sprung auf den Füßen und hing an seinem Hals. »Wirklich, ganz der alte Ole?« stammelte sie.

So breitspurig er sich auch hingestellt, hier kam ihn wieder eine Schwäche an und er setzte sich nieder. Sie blieb befriedigt an seinem Hals hängen und schmiegte sich an seine Brust.

»Du mußt nicht denken, daß ich auf Dich böse bin, oder daß ich mich verändert habe. Ich verändere mich nie. Das wäre genau so, als ob die Linden da draußen anfangen wollten Luftwurzeln zu treiben oder sonst eine Tollheit zu machen. – Gerade des großen Werkes wegen habe ich Sorgen. Ich 209 habe den Aberglauben, daß es nicht vonstatten geht, bevor der Hundertste sich gefunden hat, und dieser Hundertste läßt auf sich warten.«

»Ist das alles?« Verbena bog sich zurück und sah ihn durchdringend und klar an, »wirklich alles?«

»Jawohl,« sprach er mit steinernem Gesicht.

»Aber Ole, das kann doch jeden Tag sich ereignen, jeden beliebigen Tag. Suchst Du denn?«

»Ich kann doch nicht auf den Markt gehen, ich kann doch nicht in dieser Schmutzpresse Inserate abfassen. Es ist das Gesetz für alle Mitglieder unseres geheimen Bundes, daß sie sich von selbst zueinander finden müssen, anders ist es nicht echt. Auch Rupert hat sich von selbst zu uns gefunden.«

»Aber Du könntest doch dem Zufall unter die Arme greifen.«

»Nein, das geht nicht, ich müßte sonst befürchten, daß einer dieser unwürdigen Rasselosen sich herzudrängt, sich in unsere Sprache und unsere Gebärden kleidet, und den grünen Mantel zum Spott macht.«

»Wenn das aber der Fall ist, Ole, dann wundert es mich, daß Du erst seit einer Woche so traurig bist, dann hättest Du doch längst geknickt und enttäuscht sein müssen. Das wäre mir nicht verborgen geblieben. Also muß etwas anderes dahinter stecken. Du traust uns nicht, mir und Rupert.« – Er sah sie dunkel grübelnd an.

»Ihm ja, denn er nahm sich, was ihm gebührt, und nahm es sich oft vor meiner Nase.«

»Also mir glaubst Du nicht,« schrie sie klagend auf und schüttelte ihn so fest, wie sie konnte, an den Schultern. »Das habe ich nicht verdient.« – Ihre kurzen Haare flogen 210 umher, ihre Augen blitzten, ihre scharfen, porzellanweißen Zähne gruben sich in die volle dunkelrote Unterlippe, wie ins Fleisch einer Frucht.

»Deiner Seele glaube ich,« sagte er schlicht. »Doch das Gesetz ist stärker als Du; Dein Körper . . .«

»Hier hast Du mich,« schrie sie atemlos auf, »nimm Dir alles, es gehört ja alles Dir.«

Das Steinerne in seinem Gesicht wich, als werde es langsam hinweggewischt. Er küßte sie auf die Stirn und sprach: – »Ich danke Dir für das große Geschenk, aber ich nehme es nicht an. Ich danke Dir,« wiederholte er noch einmal, »nun weiß ich, daß ich Dir glauben kann. Geh jetzt zu ihm . . . Du hast nichts zu verbergen. – Zuerst dachte ich,« hier suchte er nach Worten, »ich wäre gewaltsam ausgeschieden worden; nun aber,« er stand wieder auf und reckte die Arme, daß die Nähte des alten Gehrockes heftig krachten,– »scheide ich mich freiwillig aus.«

Sie blickte ihn noch eine Weile nachdenklich an, dann trat ein spitzbübischer Ausdruck an ihren Mund, und sie lief mit klingendem Auflachen hinaus.

Seit dieser Aussprache zeigte sich Ole ziemlich als der alte. Bald aber mußten es beide wieder erleben, daß sein Wesen etwas immer Zerstreuteres bekam und er, je mehr sich der Mai dem Juni zuneigte, Stimmungen unterworfen schien, die an Mißmut grenzten. Sie schienen unausrottbar und er verfiel der Marotte, sich für Stunden einzuschließen ohne ersichtlichen Grund. Drinnen hielt er lange Gespräche mit sich selber und als sie einmal durch das Schlüsselloch spähten, bemerkten sie, daß er den grünen Mantel trug. – In dem langen Fluß dieser halb geflüsterten Monologe tauchten ab und zu Worte auf, herausgeschleuderte, schier gebellte Worte, die 211 man verstehen konnte, – »Nicht lange mehr, nicht lange mehr,« rief er einmal und stampfte auf, daß alles im Zimmer ins Schwanken kam.– »Ich fühl's, Du kommst.«. – Auch schloß er sich lange Nachmittage, zuweilen nächtens auch, im Treibhaus ein. Was er dort drinnen machte, blieb unklar. Jedenfalls bekam er Anfälle von grimmiger Entschlossenheit, wie ein Nekromant nach geglückter Beschwörung, und eines Morgens im Juni lag ein Brief auf dem Frühstückstisch. – Es war ein einfaches großes Konvert aus Überseepapier und trug eine schwedische Marke. Sie waren früher unten wie er, deshalb erschraken sie fast, als er in der Tür stehen blieb ohne Morgengruß. – Sie blickten ihn erstaunt an. Seine Augen waren sprungbereit auf diesen Briefumschlag gerichtet. Mit einer unheimlichen Behendigkeit, in drei Schritten, war er am Tisch, setzte sich und nahm ihn zur Hand. – Er öffnete ihn nicht. Er blickte starr darauf. Einmal fuhr sein großer Finger nachdenklich an den Buchstaben der Adresse entlang, dann legte er den Brief an die Stirn und blieb unbeweglich sitzen. Sie rührten sich nicht.

»Skaal!!« brüllte er plötzlich auf, »Skaal!! – Er ist von ihm, Kinder. Der Hundertste ist da, der Hundertste!!«

»Bist Du sicher? –«

Rupert war erstarrt. Der Schreck über diese Begeisterung war ihm in die Glieder gefahren, dann aber fühlte er, wie bedeutungsvoll die Stunde war. – Oles innerer Blick hatte den Brief durchspäht, bevor er ihn geöffnet. Ein unendlich gläubiges, schier ekstatisches Lächeln verklärte Örvandills große Züge, als er das Konvert zu Rupert hinüberschleuderte.

»Lest ihn selber, Kinder.« – Sie rissen das Kouvert auf. 212 Der Brief war in einer großzügigen und energischen Handschrift geschrieben. Rupert verstand nicht schwedisch, so war es Verbena, die ihn entzifferte. – Der Brief war kurz, er lautete: »Ich habe die Gabe erlangt. – Von heute ab trete ich dem Bunde bei. – Gib mir zu tun. – Ich komme übermorgen. – Wir kennen einander, Du und ich. – Die Zeit ist reif.

Axel Thorstein.«      

Der Fremde hatte die Stunde seiner Ankunft nicht gemeldet. – So geschah es, daß Rupert nicht zu Hause war, als er eintraf. Er kam von einem Gang in die Stadt zurück, wie er ihn selten, höchstens einmal wöchentlich, und meistens zur Beschaffung von Büchern, unternahm. – Schon als er in den Hausflur trat, hörte er die Stimme Thorsteins im Arbeitszimmer und ihm war, als habe er diese Stimme schon einmal gehört. – Er öffnete die Tür und sah mit einem plötzlich erkalteten Herzen, daß jener Fremde und Verbena sich umschlungen hielten. – Er sah nur den Rücken des Fremden, und die Eifersucht krallte sich wie eine blutgierige Fledermaus um seine Kehle, daß er kaum zu atmen vermochte. – Und die Schwingen dieses fremden Tieres ›Eifersucht‹, das hier keine Stätte hatte, hauchten ihm kalten Wind ins Genick, wie die Zugluft aus einem modrigen Verließ. – Mit verschleierten Augen sah er Ole an, der in behaglicher Ruhe wie immer am Schreibtisch saß und zu den beiden hinüberblickte. Er haßte ihn in diesem Moment. – Gerade wollte er sich mit einem Sprung auf den Rücken des anderen stürzen, um ihn zu Boden zu reißen, da drehte der Mann seinen Kopf langsam zurück. Mit einem Male wußte er's, dieser war niemand anderes als der Nordländer, den er in der Sterbenacht seines Vaters im Café getroffen, und dessen 213 Worte damals zum erstenmal die Pforten seiner Seele aufgerissen hatten. – Dies war der blonde Henker, dessen scharfer Säbelhieb die heutige Menschheit in Gedanken köpfte, wie ein Knabe mit der Gerte Unkraut zerpeitscht; der in den Plebs hinabgestiegen war, spreizbeinig dastand, unverrückbar, frei und gesund. Und dieser selbe Mann durfte ergreifen, was ihm beliebte, hatte sich Verbenas bemächtigt, sowie er sich damals seiner, Ruperts, bemächtigte. – Dies alles war ihm klar im Geist; doch das durfte nicht sein, dies durfte er sich nicht bieten lassen.

»Ah,« sprach jetzt Axel Thorstein, drehte sich gänzlich herum und ließ Verbena stehen. »Hier ist ja mein Freund. Fühlte ich's doch schon damals bei unserem Gespräch, als der Platz an Ihrem Tisch, der einzige Platz unter Tausenden, für mich freigeblieben war, wir würden uns wiedersehen und noch manches miteinander auszudreschen haben. Ich habe mich nicht getäuscht.«

»Nein,« sagte Rupert kalt, »Sie haben sich nicht getäuscht. Wir haben etwas miteinander auszudreschen, wie Sie so witzig sagen. Sie sind ein wenig plötzlich mit Ihrer Herzlichkeit. Ihr stürmischer Geist läßt sich nicht zügeln.«

Axel Thorstein zog die Brauen hoch und fragte gedämpft: »Nun, was bedeutet das?« – Und in die Stille hinein, die von Ruperts fliegendem Atem erfüllt war, in der ihre Blicke sich kreuzten wie Klingen, schlug auf einmal der alte Ole am Schreibtisch ein dröhnendes Lachen auf, das in einem keuchenden Geräusper unterging; er meinte es so herzlich, daß er einen mohnblumroten Kopf bekam und nach Luft ringen mußte. Rupert blickte ihn ratlos an, denn auch Verbena lachte, kaum daß der Alte begann sich zu verschnaufen. Endlich ließ sich Ole zu der Erklärung herbei:

214 »Wir sind eine Familiengruppe, was, Rupert? – wie sie sich schöner nicht malen läßt.« – Es schien Rupert auf einmal, als sei der Alte gerührt, denn er zog ein enormes Taschentuch hervor, von der Ausdehnung eines mäßigen Handtuches, und schneuzte sich mit grellen Trompetenstößen. »Rupert,« sprach Verbena klar, »Axel Thorstein ist der zehnjährige Knabe, der mich damals zwischen seinen Knien gehalten und mich dann fallen ließ, der Arme. Er war etwas erschreckt damals, nicht wahr? – Er sprang in die Wälder und verscholl. Jetzt haben wir ihn wieder. Er ist mein Bruder.«

Der alte Örvandill stand wuchtig auf, als schicke er sich zu einer Predigt an, denn er hob beide Arme mit einer Geste, als wolle er die Worte Verbenas ausklingen lassen, wie die letzten Akkorde des Sanktus in einer Messe, um dann selber das Pastorale beizusteuern. – Es schien, als ob er die Gruppe segnen wolle. »Ja,« sprach er endlich mit einem Würgen und Schlucken in der Kehle, »es stimmt. Und außerdem stimmt es auch mit unserem großen Projekt. Dies kann nun ruhig in die Wege geleitet werden. Die Betriebsamkeit hat unser Thorstein dazu, denn er ist zu allem auch der Hundertste.«

Ein Schweigen, das von Erschütterung durchbebt und von unendlichen Plänen schwanger war, senkte sich bedeutsam über die vier Menschen. 215


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