Willy Seidel
Der Gott im Treibhaus
Willy Seidel

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtes Kapitel

Auf welche Weise Rupert die nächsten Tage ausfüllte, war ihm selber unklar. Er hatte natürlich sofort im Adreß- und Telephonbuch nach diesem Herrn Örvandill gesucht, aber Verbena hatte es besser gewußt. Er stand nirgends.

Eines Morgens rührte sich sein Bett-Telephon. Er fuhr aus leichtem Schlaf empor. Da drinnen im Mahagonikästchen mußte der Geheimnisvolle stecken. Den Hörer am Ohr, grasten seine Augen begierig die Milchglasplatte ab. Aber seltsam, wo von Rechts wegen der Kopf des Gelehrten sich zeigen mußte, war nur eine goldigleuchtende, konturenlose 88 Wolke, die sich träge bewegte. Ein großes, rollendes Organ traf sein Ohr, wie das Geräusch eines fernen Erdrutsches.

»Rupert Dux dort?«

»Derselbe.«

»Junger Mann, kommen Sie um zwei Uhr zum Essen.«

»Gut. – Doch wohin und zu wem?«

»Haben recht,« lachte es blechern im Apparat, »Sie kennen mein Aushängeschild nicht: ›Sebaldus Schuster, em. Professor der Pflanzenbiologie‹ . . . Wo meine Nichte wohnt, das wissen Sie ja. Sie gehen durch den Toreingang in das Gartenhaus.«

»Mit Dankbarkeit werde ich mir erlauben . . .«

Die Stimme lachte blecherner. – »Bezweifle ich keinen Moment. Auf Wiedersehen.«

Als der letzte rollende Ton drinnen verhallte, schien es, als singe ein zartes Echo irgendwo »Auf Wiedersehen«. – Rupert hängte ein. Sich umzuziehen empfand er als unnötig. Er hatte zuerst daran gedacht, das Ungetüm mit dem Schwarz eines Besuchsanzuges umgänglich zu stimmen; aber er beschloß von vornherein so etwas wie ahnungslose Formlosigkeit obwalten zu lassen. Dadurch paßte er sich wohl am ehesten dem Charakter des Mannes an, soweit dieser ihm noch nach der Schilderung seines Vaters im Gedächtnis lebendig war.

Pünktlich war er zur Stelle und durchschritt den dunklen Toreingang des Vorderhauses. Er riß die Tür zum Hinterhof auf: da lag vor ihm, von Sonne vergoldet, die Vision des sterbenden, alten Dux. – Hier war der von Fliesen belegte Weg. Dort blitzte das Weiß der Gartenmauer durch das Grün perennierender Büsche. Es machte das alles einen ganz sommerlichen Eindruck, weil keine Verfärbung des 89 Laubes erfolgen konnte. Es gab nur Efeu, Buchsbaum, Stechäpfel und Oleander. Da hing die Klingelschnur mit der Quaste unter dem von abgebröckelten Holzsäulchen flankierten Portikus. Er zog daran. Sie erhob ein wüstes Scheppern in allen Tonarten, das langsam in den fernsten Zimmern abzusterben schien.

Man hörte den alten Örvandill nicht gehen. Man spürte aber, daß er sich nahte, an einer erdbebenhaften Erschütterung des Bodens. Gegenstände klirrten rhythmisch in der Eingangshalle. Endlich wurde die Tür aufgerissen und wie ein schwarzer Koloß von lichtem Flachsgold gekrönt, stand der Besitzer des Hauses vor ihm. Das einzig Einladende, was er an sich hatte, war eine einschaufelnde Bewegung seiner mit lichten Härchen besetzten Pranke, die eine Aufforderung zum Näherkommen bedeuten mußte. Im übrigen blickte er unwirsch, dieser herkulische Einsiedler.

Wenn jemals in einem Blick Mißtrauen, Kälte und Überlegenheit gelegen, so war es in dem seinen. Die in Höhlen glimmenden blauen Augen hatten etwas durchaus tierhaftes, wie die eines im Lager gestellten Bären. Der mächtige Unterkiefer stand etwas vorgeschoben. Er war von einem ausladenden Maß, dessen sich der fossile Heidelberger nicht hätte zu schämen brauchen. – Das Gesicht war von allen Abstufungen der Röte überzogen. Zerplatzte Äderchen schimmerten karminrot an den Wangenknochen und am Kinn. Darunter herrschte gleichmäßiges Rosa, doch war die Haut zerrissen wie alte Lindenborke. Erstaunlicherweise aber machte der Mann keineswegs einen greisenhaften Eindruck, sondern die Schilderung des alten Dux traf in allen Punkten auf ihn zu. Er schien seit all der Zeit derselbe geblieben zu sein. Rupert hatte einen winterlich weißen Scheitel erwartet, 90 jedoch dieses schimmernde Flachsblond hätte auch einem jungen Springinsfeld zum Schmuck gereicht. Außer einem tief aus dem Orkus seines mächtigen Brustkorbes herausgeholten Räuspern ließ der Professor nichts vernehmen. Ohne sich darum zu kümmern, wo Rupert sich seines Mantels und Hutes entledigte, ging er ihm voran. Zaghaft folgte der Jüngling. Die mächtigen Schultern bürsteten drei Vorhänge bei Seite, und endlich schien man im Sanktum zu sein, denn hier fand sich so etwas wie eine Gelehrtenstube, die auch bequeme Sitzgelegenheit bot.

Der Alte wedelte wieder mit der mächtigen Flosse, was diesmal bedeuten sollte: »Nehmen Sie Platz,« – und hockte sich auf einen weitgeschweiften Strohstnhl, der vor einem Möbel stand, das einem Schreibtisch ähnlich sah. Angeschnittene Gänsekiele lagen zerschlissen und tintenbefleckt auf der Platte. Ein vorsintflutliches Tintenfaß aus schwärzlichem Silber stand neben einer ebensolchen Streusandbüchse. Unendliche Stapel, Berge und Türme von Manuskriptblättern waren wie eine Außenwand auf diesem Schreibtisch aufgebaut. – In einer anderen Ecke des Zimmers hatte der Professor offenbar ein Nest der Besinnlichkeit für sich geschaffen, denn dort stand ein sehr bequemer Klubsessel in einem Verließ aus vollgepackten Bücherbrettern. Hier konnte er völlig verschwinden. Kleine Auslugstellen erlaubten ihm immer noch einen Überblick über das Zimmer, ohne daß er selbst gesehen zu werden brauchte.

Soweit Rupert jetzt schon bemerkt hatte, war das Haus unendlich altmodisch und anheimelnd. Er kam überhaupt aus dem Erstaunen nicht heraus, darüber, daß sich so etwas wie dieses Haus aus Napoleons Zeiten unbeschädigt bis jetzt, ins Jahr neunzehnhundertfünfundneunzig hinübergerettet 91 hatte. Alles zeigte, bis auf wenige englische Möbel, Empirecharakter. Die Fenster waren hoch und schmal. Die Tapete war einmal hellblau gewesen und jetzt zu farblosem Grau verblaßt. Eine lange Reihe photographischer Landschaften aus dem hohen Norden zog sich auf einem Sims an der Decke entlang. Petroleumlampen mit Behältern aus altem Meißen, die vielleicht schon vor hundertfünfzig Jahren ihr mildes Licht über Bakkarat-Tische verbreitet, standen auf dem Kaminsims.

Es war das erstemal, daß Rupert eine Petroleumlampe sah. Verbena demonstrierte ihm später den Gebrauch des Gegenstandes. Er amüsierte sich wie ein Kind. An den Wänden, zwischen den Bücherborden, staken geschwungene Messingleuchter mit dicken, fast zur Formlosigkeit geschmolzenen Kerzenstümpfen. Eine Bastmatte bedeckte den Fußboden.

All' dies hatte Rupert Zeit mit einem langen Rundblick in sich aufzunehmen, denn der Alte beschäftigte sich noch eine gute Weile damit, zu räuspern und ihn dumpf brütend anzustarren. Endlich hob sich die mächtige Hand und fiel, zur Faust geballt, auf die Tischplatte nieder, so daß die Manuskripttürme bedenklich ins Wackeln kamen und man einen Bergsturz von Büchern befürchtete.

»Den Teufel,« sagte der hohle Donner, »Sie sind also der Sohn jenes Dux. Sie könnten der Sohn von irgendwem sein, das wäre ganz gleich. Sie wären kaum aus diesem Hause gekommen, wie Sie hereingekommen wären, wenn Sie nicht zufällig eine Einführung vorzuweisen gehabt hätten. Und Sie haben das Glück, daß diese Einlaßkarte bei mir steckt. Das ist noch wenigen passiert. Sonst wäre keiner, der das Weibchen angesprochen hätte, unbeschädigt entkommen. Ja, . . . so ist das nun.« – Enormes Geräusper folgte. Es 92 war, als rede der Alte innerlich weiter, es klang wie das Rollen eines abziehenden Gewitters, das sich in den Tiefen seiner Lungen verlor. – »Das Weibchen,« fuhr er auf einmal fort, nachdem er das Kinn zwischen die vatermörderhaften Aufschläge seines formlosen Gehrockes gepreßt, »ist von mir sonst so ziemlich gefeit worden gegen Überfälle wie den Ihren. – Sie hat bis jetzt alle Hände voll damit zu tun gehabt, Leute wie Sie in die Flucht zu schlagen; doch ist es immer glatt gegangen. Ich habe ihr eine Schutzhaut übergezogen, verstehen Sie.« Er lachte satanisch und ungehobelt auf. – »Daran verbrennt man sich gewöhnlich die Finger. Ich habe sie präpariert, denn sie gehört mir.«

Hier wagte Rupert zum erstenmal eine Bemerkung. – »Entschuldigen Sie,« sagte er bescheiden, »ich habe mich Ihrer Fräulein Nichte in aller Form und höflich genähert. Ein kleiner Hinweis hätte mir vollauf genügt. Im Gegenteil war aber von vornherein schon eine gewisse Freundschaftlichkeit da.«

»Was Freundschaftlichkeit,« fuhr der Grobian ihn an. »Ein Trick war das von Ihnen. Ziehen ein vermaledeites Notizbuch aus der Tasche und ein Pflanzenblatt, das mir Ihr Vater auf ganz vertrackte Art abgeluchst . . . Natürlich was tut das gute Kind . . . Sie muß klein beigeben.«

»Auch diesmal«, sagte Rupert in demselben Tonfall, »irren Sie; das hat sie erst zu sehen bekommen, als ich ganz zufällig ihrem Gespräch entnahm, daß sie mir zu Ihrer Bekanntschaft verhelfen könne. Denn ich muß Ihnen etwas sagen« – und er ging mit dem erhobenen Zeigefinger auf den Professor zu, – »ich war auf der Suche nach Ihnen, genau wie mein Vater dreißig Jahre lang auf der Suche nach Ihnen war, und mir wäre jede Gelegenheit recht gewesen, 93 um Sie aufzustöbern. Diesmal,« rief er begeistert, »bin ich am Ziel. So schnell habe ich mir's nicht träumen lassen.« Die Erregung nahm ihm fast den Atem.

Der Professor grollte: »Mäßigen Sie sich. Schöpfen Sie Luft. Sammeln Sie sich.«

Rupert wankte zurück in seinen Stuhl und seufzte: – »Mir ist alles noch so verworren und dunkel, aber ich habe das Gefühl, alles Heil der Welt hängt davon ab, daß wir uns vertragen.«

Eine seltsame Wandlung ging in dem Professor vor. – »So,« meinte er trocken und sachlich; »meinen Sie. Erstens ist es gar nicht ausgemacht, daß irgend etwas davon abhängt, und zweitens meine ich es ja nicht grob mit Ihnen, sondern habe ein gewisses Interesse für Sie.« – Im Bestreben, mildere Töne anzuschlagen, war ihm sein Organ wieder hinderlich. Es war seltsam, daß es ihm überhaupt nicht gelingen wollte, sanft zu reden. – »Ich will Ihnen,« fuhr er fort, »nicht verhehlen, daß das Weibchen sich für Sie verwendet hat. – Diese Tatsache legt es mir zur Pflicht auf, Sie näher in Augenschein zu nehmen. Alles übrige ist verschollener Hokuspokus.«

»Ja, aber, Herr Professor, Sie waren doch damals bei meinem Vater und ersuchten ihn um Unterstützung für Ihre Bewegung, für Ihr herrliches Projekt!«

»Mein herrliches Vorhaben, junger Freund, besteht nach wie vor weiter. Ihr Vater war der Sache nicht gewachsen. Vielleicht war ich unbekümmert genug, das Kind mit dem Bade auszuschütten; aber wir ausgepichten Idealisten sind leicht verletzt. So rannte ich denn davon und verduftete.«

»Was hat sich mein Vater,« beschwor ihn Rupert, »Mühe gegeben, Sie zu finden.«

94 »Hat er das? So. Hat er das?« sprach der Professor sinnend und drückte sein Kinn so tief in den Westenausschnitt, daß es fast doppelt wurde. Er saß gebeugt da. Sein Löwenhaupt senkte sich. Minuten vergingen. Plötzlich richtete er sich wieder auf und sagte singend wie zu sich selber – es wurde ein dumpfes Gröhlen daraus: – »Hoho, es ist nicht leicht, mich festzunageln. Wem ich mich einmal versage, der spürt es, dem reiße ich die Seele fetzenweise heraus, denn ich habe viel Angelhaken auszuwerfen und ich halte jeden an der Leine, auf den ich es abgesehen habe. Auch Ihr Vater, Verehrter, spürte den Angelhaken des Menschenfischers. Er hat sich losgerissen, aber mit blutenden Kiemen. So ein Fisch macht es ja noch eine Weile, aber es gehen dabei Schuppen und Substanz verloren. Ich habe ihm schon den richtigen Köder gezeigt, und wäre er mir damals richtig gefolgt, so wären wir beide am Werk gewesen, Angeln auszuwerfen und wir hätten uns jung gehalten. Statt dessen hat er das öde Spiel des Geldverdienens weitergetrieben. Damals, vor dreißig Jahren, brauchte ich etwas von jenem Geld. Jetzt bin ich weiter, Verehrter. Ich habe die Dinge durchschaut. Geld ist nicht vonnöten, ich brauche kein Geld. Ich hatte es auch damals bald genug eingesehen.«

Rupert sah ihn starr an. Er fühlte sich von der großen Woge dieser unheimlichen Persönlichkeit mitgerissen und fortgespült. »Herr Professor,« rief er dann fast empört und öffnete beide Hände: »aber das ist es ja gerade, was ich Ihnen anzubieten habe! Ich komme ja zu Ihnen um Ihnen das Zehn-, das Zwanzigfache zu geben, als mein Vater damals geopfert hätte. Ich bin ja sonst durchaus arm.«

Örvandill schnalzte mit der Zunge; sein Ausdruck gewann 95 etwas Listiges. – »Ich denke, ich habe mich klar genug ausgedrückt,« wiederholte er. – »Ihr Geld, weg damit, ich brauche es nicht. Sie haben Unrecht, wenn Sie sich als arm bezeichnen. Ich will etwas äußerst Wichtiges, das ist Ihre Seele, denn ich habe bereits herausgefunden, daß Ihr Vater Ihnen Seele vermacht hat. Bei ihm war sie aufgebraucht und brüchig. Ein ganz verstaubter und papierner Artikel. Bei Ihnen ist sie jung und schwänzelt noch wie eine Kaulquappe. Geben Sie sie mir zur Züchtung und zur Entwicklung, denn den nötigen Enthusiasmus scheinen Sie zu haben. Ich bilde mir ein,« – und er stand plötzlich auf, so daß das ganze Haus zu erzittern schien und ging wie eine drohende Wolke auf Rupert zu, – »ich bilde mir nämlich ein, Sie haben bereits einen Begriff davon, was ich will.« – Er legte seine beiden Pranken auf Ruperts Schultern und bohrte seine hellen Bärenaugen in den klaren, dunklen Blick des Jünglings. – »Nun, lassen Sie die Furcht vor mir doch endlich einmal fahren.« Rupert wankte einen Augenblick unter der Wucht dieser heftigen Suggestion. »Die Furcht fahren lassen, sage ich.« – Rupert sank zurück; sein Blick ward gläsern. – »Sehen Sie, jetzt haben Sie keine Furcht mehr, oder doch?«

»Furcht? – Das hatte ich nie.«

»Sehen Sie, ich bin ein guter Mensch.« – Dröhnend: »Bin ich das?«

»Ja,« stammelte Rupert.

»So ist's recht,« sprach der Professor wieder mit abgedämpfter Stimme und wanderte wuchtig im Zimmer umher. »Ich kann nun einmal nichts für mein Organ. Es ist zu stark für diese Zeit. Sehen Sie,« sagte er mit großartiger Verschmitztheit und deutete mit dem Daumen nach seinen 96 Manuskripten, »genau so wie ich spreche, schreibe ich. Keulenschläge sind das auf Papier! – Aber die Zeit, die Zeit . . .« summte er . . . »Na gut, wir lassen die Zeit. Irgend etwas ist am Werk, das spüre ich. Das Weibchen hat Sie getroffen. In diesem Hause geht etwas um. – Nun, es kann alles schön werden.« 97


 << zurück weiter >>