Willy Seidel
Der Gott im Treibhaus
Willy Seidel

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Fünftes Kapitel.

Rupert trat in eines der typischen Lokale, die weinrot ausgepolsterte Sammetecken, grüne Marmortische und Spiegel enthalten. Irgendwo in die Wand eingelassen, gab es diskrete Radiomusik. Die Beleuchtung war indirekt; sie schlug einem durch Spiegelreflexe wie rote Lohe entgegen. Er bemerkte flüchtig, daß die hintere Ecke von Leuten besetzt war, die er zu kennen schien. Animiertes Gespräch brandete von dort herüber. ›Ich muß mich jedoch zuvor‹, dachte er bei sich, ›in eine gewisse Stimmung bringen, ehe ich da mitmachen kann.‹

Das Erlebnis saß wie ein süßer Schmerz in seiner Brust. 52 Er verkroch sich in eine Nische und bestellte sich das Unverfälschteste, was es hier gab; er zahlte dafür, daß er das Beste bekam. Es war ein herber russischer Schnaps, fünfzig Jahre abgelagert. Mit der Erkenntnis, daß ihm ein Wunder widerfahren sei, brauste ihm nach dem Genuß des ersten Schluckes Wolgawind mit Gesangsfetzen durchs Hirn. Er schloß die Augen. Irgendwo, fern, gab es Freiheit und einen maßlos prunkvollen Sonnenuntergang, eine Orgie von rotem Gold, die, ungestört durch die Menschheit, zu Rüste gehen durfte. Aus diesen Träumereien wurde er jedoch aufgestört. Eine schrille, etwas überschnappende Stimme jenes anderen Tisches rief seinen Namen. Er war entdeckt. Mit einem gezwungenen Lächeln kam er langsam hinüber und schloß sich der Gesellschaft an.

Vor Zeiten, das hatte er gelesen, hatte es einmal etwas gegeben wie ein »böhmisches« Berlin. Jedoch diese Bohémiens waren nicht mehr die von 1900, oder gar vom Schlag jener naiven Zeitverprasser, wie Murger sie schildert und wie sie ihm aus Lithographien, weiß behost und spitzbärtig, Lockenhaar im Nacken, zulächeln mochten. Eine gründliche Wandlung hatte diese Sorte Menschen erfahren, denn sie zehrten von den allerschalsten Resten, die eine sorglosere Zeit zurückgelassen. Sie hatten alle Stadien der Lebenskunst an den Fußsohlen abgelaufen und saßen nun da, halb zerbröckelte Kreaturen ohne Sinn, mit viel Ansprüchen und viel Geschrei. Die Herren trugen das übliche Kleid von Durchschnittsbürgern oder gefielen sich in russischer Studentenaufmachung. Die Frauen behängten sich mit seidenen Trikotkleidern, aus einem Stück geschnitten, in lautesten Batikfarben gehalten. Ein Kind war auch da, man kann sagen, die Karikatur eines Kindes –: eine blutlose Vierzehnjährige mit gestutztem 53 Haar und grauem, fleckigem Samtkleid. Oh, ein graues Samtkleid . . . erschüttert wandte er die Blicke weg.

Sie alle waren auf einer Runde durch Berlin begriffen. Zwischendurch waren sie hier gelandet auf ihrer pfadlos alkoholischen Irrfahrt.

Es war ein großer, feister Östlicher da, der einem kleinen kümmerlichen Östlichen Lebenskunst lehrte. Seine zerbissene Zigarre wanderte dabei von einem Mundwinkel in den anderen. Der Kleine meckerte dankbar, beide hatten sie ihre Lider geschlossen, denn es handelte sich um Dinge, die man wohl mit murmelndem Gusto, aber nicht in lautem ehrlichem Baß vorbringen durfte. Ein neunzehnjähriger Mensch mit einem puppenhaften Lockenkopf, mit kindlicher Stirn und sehr niedlich, wehrte sich in kreischender Fistel gegen die robusten Angriffe Katinkas, einer männlichen Frau. Ein dürrer Kunstphotograph gab Berufsgeheimnisse vor einem Trio halbnackter Mädchen preis, die mit kognakheißen Gesichtern ihrer Phantasie Zügel schießen ließen. Man zerknabberte Gesprächsbrocken und fragwürdige Einfälle wie ranzige Nüsse.

Mitten unter diesen saß das Kind im Samtkleid und blickte drein wie eine verzeichnete Madonna. Dies Milieu war der Nährboden, in dem Revueschlager, Libretti, kurz, der »Sketch«, (in der Gegenwart waren sowohl Opern wie Dramen auf das Niveau des »Sketch« zusammengeschrumpft) – wie muntere Bazillen gediehen. Es war der schillernde Brodem, der in den Schächten von Turmhäusern, unter schmutzigem Glas, gedeihen konnte. Und Rupert traute seinen Ohren nicht, als er ein Wort auffing, das wie ein Spielball hin und her geworfen wurde; das Wort »Natur«. Ja, in der Tat: diese Menschen, die seit ihrer frühesten Jugend noch nie in die Lage gekommen waren, Natur zu empfinden, für die 54 der Anblick eines Baumes ein Schreck sein mußte, die nur das von der Natur zu kosten bekamen, was ihnen sehr zum Überdruß und unausmerzbar am eigenen Leibe dann und wann widerfuhr; – diese Menschen nahmen den Mund voll und erhoben die »Natur« zum Gesprächsthema, soweit man von Gespräch überhaupt reden konnte. »Natürliches Empfinden« stand jetzt auf der Liste, und dabei kam ganz von selbst, wie es ja nicht anders ging, das geschlechtliche Erlebnis aufs Tapet. War es doch das einzige, was jeder durchzuhecheln ein Recht verspürte.

»Wir wollen einmal,« rief Katinka mit ihrer belegten Männerstimme, »nach der Reihe erzählen, wann jeder von uns seine Unschuld verloren hat.«

»Wann man zum erstenmal solche Regungen verspürte . . .?« sagte der kleine kümmerliche Östliche. »Darüber wußten vielleicht noch unsere Voreltern Bescheid; bei uns gab es keinen Übergang. Wir wurden wissend geboren.« Seine Deckelaugen vibrierten. Sein Zeigefinger fuhr langsam an der Nase herab, die er schnuppernd seinem Glas näherte.

»Ganz richtig,« meinte Katinka, »wir haben als Säuglinge schon Gefühle definieren können.«

»Im Ernst gesprochen,« mischte sich jetzt der große, feiste Östliche ins Gespräch; er war ein Grnndstücksspekulant und hatte für »Künstler« ein Herz, »Ihr seid alle degeneriert. Ich bin auf ganz normale Weise drallen Dienstmädchen zum Opfer gefallen, als ich ein zaghafter Knabe von neuneinhalb war. – Dja.«

»Natürlich,« schrie jetzt alles durcheinander, »Sie sind normal, lieber Friedenthal; dies sieht man Ihnen an. Alles ist normal an Ihnen.«

»Dralle Dienstboten . . . Was meint er mit ›drall‹?« sang 55 der Lockenkopf mit einer Mädchenstimme. »Was ist drall? Sicher etwas Scheußliches.«

»Halte den Schnabel,« fuhr Katinka ihn an. »Du hast keine Ahnung, wie man sich handfest benimmt. Geh bei Friedenthal in die Lehre, als Versuchskaninchen. Dann wirst Du normal, trotz allen Gestrampels.«

»Aber ich will doch nur auf ganz zarte Weise lieb gehabt werden,« verteidigte sich der Lockenkopf erschrocken und flüchtete sich in eine Ecke. »Ihr seid alle so roh und grob, pfui.« Er sog an einem Halm.

»Nun das erste Erlebnis, das erste Erlebnis,« schrien sie und klatschten in die Hände. »Herr Friedenthal hat uns seines angedeutet, nun kommt die Kritik.«

»Ich leide an meiner Tante,« flüsterte der kleine Reporter. Alles war eine Weile stumm.

»Nein, auch Sie leiden an einem Verdrängungskomplex, auch Ihnen haben die Drallen gefehlt,« wurde er berichtigt. – »Wie ist es denn bei Ihnen, Katinka?«

Diese klemmte ihr Einglas ins Auge und lächelte ihr langgezogenes mulmiges Lächeln. »Na,« sagte sie, »erstes Erlebnis . . . Jedenfalls kein Mann.« Sie nahm ihr Einglas wieder heraus und sagte dann langgezogen: »Allenfalls noch . . .«

Wieder herrschte Schweigen am Tisch.

»Ich bin noch unschuldig,« sagte auf einmal die Vierzehnjährige irgendwie beunruhigt. »Ich bleibe es. Ihr könnt nichts machen. Das alles ist meine Note.« Sie legte sich mit ihren mageren Armen über den Tisch und schlief ein.

»Das gute Kind,« sagte Katinka. Alle blickten gerührt drein.

»Laßt sie in Ruhe, sie hat recht. Hoch die Note!« Und nun, nachdem dieses Thema nicht recht anklingen wollte, fügte 56 der Lockenkopf noch zu guter Letzt hinzu: »Ich habe einmal ein Fliegenpärchen belauscht. – Das vergesse ich nie.«

Große Heiterkeit entstand am Tisch.

Man trank weiter. Das Gespräch drehte sich um andere Dinge und Rupert saß da und tat so, als ob er sich beteilige. Innerlich war er gar nicht hier. Ein müder Zug war an seinen empfindlichen Mund getreten. Jener alte eingemeißelte Zug hoffnungslosen Angewidertseins. War es der Mühe wert, diesen Menschen gegenüber mit irgend etwas, und sei es auch etwas Starkem, aufzutrumpfen? Sie hatten immerhin ein Wort in seinen Gedankenfluß geworfen und nun kam es darin stets wieder zum Vorschein; im alkoholisch befeuerten Strom seiner Vorstellung ward es sichtbar wie etwas Blitzendes, das sich nicht wegdenken ließ und zu kostbar war, um wegzuschwimmen. Es war das Wort »Natur«. Mit einemmal räusperte er sich und sagte. »Kinder, Ihr redet schon längst über etwas anderes; aber Ihr habt mich gar nicht nach meinem ersten Erlebnis gefragt. Es waren weder Dienstboten noch Fliegen, noch auch . . .« – er machte eine Pause – »bis jetzt Frauen, sondern es war eine ganz andere Geschichte. Ihr redet da von Natur und gebraucht dies Wort, als ob Ihr Bescheid wüßtet. Ihr seid ja von einer grenzenlosen Ahnungslosigkeit, eigentlich kindlich.« Er blickte sich fröhlich um. »Furchtbar kindlich seid Ihr und dabei ein bißchen unappetitlich; nehmt es mir nicht übel. Aber ich bin in einer mitteilsamen Stimmung und das muß man mir zugute halten. Ich bin heute abend umgekrempelt worden wie ein alter Handschuh und trage nun das Futter nach außen. Ihr kennt mich ja alle nicht. Ihr habt Euch eingebildet, ich gehöre zu Euch, weil es mir jahrelang hindurch ein gewisses Behagen machte, Eure kümmerlichen 57 Zickzacksprünge zu beobachten. Ihr seid alle Heuschrecken, denen man ein Sprungbein ausgerupft hat. Nun hüpft Ihr ewig im Kreise herum.« Er lehnte sich zurück. Seine Augen wurden träumerisch. Er dachte an den blonden Hünen, der neben ihm seine Sahne geschlürft. Er sah wie in einer Gloriole von Grün seinen Vater sitzen und zurückdeutend lächeln. »Ich möchte Euch ja gern helfen und ich werde es vielleicht.« Er redete wie von Schlaf befangen.

»Was hat er, was will er, was meint er?«

»Ihr seid es vielleicht noch irgendwie wert, umgekrempelt zu werden, aber der Schlüssel . . . das sind Dinge, nach denen ich jetzt ganz privatim auf der Suche bin. Einstweilen bestellt Euch noch eine Runde Schnaps, aber von dem guten alten Wotka, und laßt meinen Vater leben. Ihr habt ihn nicht gekannt. Aber Ihr könnt ihn gefahrlos leben lassen.«

Die Gläser wurden gebracht. Erwartungsvolle Stille herrschte. Das Kind im Samtkleid zuckte zusammen und setzte sich aufrecht, als ob es in der Schule sei. Die Hände parallel auf die Kniee gelegt und die Augen weit aufgerissen, als zeige man ihm ein Bilderbuch.

»Hört einmal, ich bin der Natur ziemlich nahe gewesen; das war auch, bevor ich mein erstes geschlechtliches Erlebnis hatte. Aber dieses selbst hat nichts mit der Natur zu tun. Erinnert Ihr Euch, wie ein Baum aussieht?«

»Ja, richtig; wie sieht eigentlich ein Baum aus?«

»Nun, ich will es Euch erklären. Ein Baum ist etwas Prachtvolles; das ist der Selbstzweck, und wenn es Herbst wird, wie jetzt, sieht man schon die Knospen, wenn die alten Blätter gefallen sind. Ihr habt weder frische noch welke Blätter gesehen, Ihr Asphaltgeschöpfe. – Damit, daß Ihr so ungefähr wißt, was ein Baum ist, habt Ihr die Natur in der 58 Tasche und könnt Literatur darüber machen. Ich habe einmal lebende Bäume gesehen und bin darunter gesessen und das war nicht in meinem früheren Leben, das war, so gewiß ich hier sitze, vor meinem vierzehnten Jahr, und ich habe Landschaften in der Seele. Ich habe auch in Teichen gebadet. Nicht wie Ihr in angewärmtem Leitungswasser. – Ich nehme an, Ihr badet regelmäßig.«

»Der kleine Schmeichler,« bemerkte Katinka mit Grabesstimme. »Wie fein er beobachtet. Gebt acht, wir bekommen noch eine ganze Breitseite. Um des Wotkas willen sei Dir verziehen. Dein alter Herr ist sicher ein seltener Mensch gewesen.« – Man fühlte eine Bewegung von Amüsiertheit. Der feiste Grundstückspekulant empfand sogar einen schattenhaften Humor bei der Ansprache Ruperts und beschloß, ihm seine Freundschaft anzutragen. Rupert fuhr fort:

»Ich war ein aufgeweckter kleiner Kerl. Über einem Käfer konnte ich mich stundenlang verlieren. Damals erzählte ich allen Leuten, wie schön Käfer seien. Weil die Leute lachten, behielt ich das für mich. Die Leute sagten, Maschinen seien das einzig Wahre. Als ich die erste elektrische Lokomotive sah, dachte ich auch, die Leute hätten Recht. Sie kam mir wie ein Tier vor und mit der Natur verwandt. Sie bewegte sich so tierisch, sie pustete so natürlich. Wenn sie bremste oder davonlief, so meinte ich immer, sie müsse auf meinen Pfiff anhalten und zu mir zurückkommen. Mit der Zeit, da mir die Tiere fehlten, bevölkerte sich meine Phantasie mit beweglichen Maschinen, die alle eine Physiognomie bekamen. Allmählich schlüpfte mir die Natur aus der Hand und ließ ihren Abklatsch zurück. Nun war auf einmal das Eisen für mich lebendig geworden.

59 Das war der Moment, wo diese Zeit mich auffraß. – Ich stand einmal, ich mochte zwölf Jahre zählen, in der großen Zentralhalle der Untergrundbahn. – Es hatte sich damals eine Explosion ereignet, die den Betrieb für eine halbe Stunde stillegte; ich wußte nichts davon. Ich war auf der Plattform zurückgelassen und verloren worden. Ich kam hinter ein Signalhäuschen zu stehen, und als die Halle sich geleert hatte, befand ich mich plötzlich ohne mein Zutun ganz allein. Einen Ausweg gab es nicht, da auch die Liftschächte, in denen ich an die Oberfläche hätte steigen können, automatisch abgestellt waren. – Ich lief herum und fand keinen Menschen. Ich war allein in der ungeheuren weißgekachelten Halle: – vor mir die zwei Schienenstränge, die sich in ihrem Bett blitzend dahinwanden und um mich herum das Surren und Ticken unsichtbarer Apparate. – Jahrelange Erfahrung hatte mich gelehrt, daß ein Zug dem anderen mit höchstens fünf Minuten Pause auf den Fersen war. Nun aber war weit längere Zeit verronnen, und kein Zug kam. Die Schienen waren noch heiß von der Kette der Züge, die unmittelbar vorher darüber gebraust. Nun lagen sie seltsam erstarrt und ich merkte, wie nach dem Aufhören des großen Pulses alles in tote Kälte versank. Es war ein ungewöhnlicher Moment, ein fragwürdiger Stillstand im Weltgeschehen wie übler Zauber, und je länger dieser Bann anhielt, desto größer wurde meine Aufregung. Konnte man das denn, daß man in dieses ungeheure Geschehen eine Pause hineinwarf? – War der Untergang nahe? – Die gleißenden Geleiseschlangen verloren sich in den Schluchten der beiden Tunnels. Rote und grüne Signallichter brannten dort wie ominöse Sterne. Sie glichen farbigen Pupillen in erblindeten Augenhöhlen. – Ich fühlte meinen Puls verlangsamt. Es war, als ob diese ganze 60 Masse von weißen Kacheln, blinkendem Messing und stumpfem Eisen heranwüchse und mich langsam zerdrücke. So winzig war ich ja in dieser ungeheuren Halle. Ob das eine Falle war, die man mir gelegt? Ob man diesen ganzen Aufwand machte, um mich zu Tode zu ängstigen und damit gemächlich umzubringen? War ich das, der dem elektrischen Antriebwagen Kosenamen gegeben, wie einem folgsamen Hund? – Nein, das war blind, blechern, stählern davongebraust, ohne mich zu fragen. Ich stand einer grenzenlos zerquetschenden Macht gegenüber, die ich nicht aufhalten konnte und die mein armes Herz herumjagte, wie einen Blutfinken im stählernen Käfig. – Und ich fürchtete mich immer mehr, denn ich wußte nun, daß nach dieser Angst keine größere vorstellbar sei. Meine Schreie verhallten, es gab nicht einmal ein Echo in diesem riesigen Keller. Kleines Gepiepse war's, und als Antwort kam nur immer das Ticken von Automaten.

O, wie ersehnte ich einen einzigen Menschen, und sei es auch nur ein kleiner Streckenarbeiter! Niemand war zu sehen. Sollte ich hier wirklich zugrunde gehen?

Noch weitere zehn Minuten größter Qual rannen ins Nichts hinab. Ich saß zusammengekauert auf einer Steingutbank und wagte nicht aufzublicken. Der Weltuntergang sollte mich gerüstet finden. – Ich steckte meinen Kopf zwischen die Ärmel, wie ein Strauß den seinen in den Sand. Da begann ein laues Lüftchen zu wehen. Nun ist es aus, dachte ich. – Die roten und grünen Pupillen in den Tunnels wanderten hin und her, als rollten dort bösartige Augenbälle. Porzellanfeines Sieden entstand in den Drähten im Geleisebett. Von fern schwoll ein Geräusch heran wie zusammenstürzendes Poltern. Ganze Straßenzüge lagen oben sicher 61 schon in Trümmern. Ich ächzte abgrundtief und riß die Augen auf. Das Poltern dauerte an.

Bei Gott! – Es war ja alles nicht wahr, es war ja nur ein gräßlicher Albdruck. Das Lüftchen verstärkte sich zu kühlem Strom, und die Pupillen dort hinten, die bösartigen, erloschen. Und endlich wußte ich es, mit der Sieghaftigkeit dreimal zurückgeschenkten Daseins, die Menschen kamen wieder, der Zug, der Zug war nahe. Während er hereinbrach, eine unwiderstehliche Macht, an deren Wogen ich mich sättigte wie an etwas ganz Neuem, Herrlichem, brach die maßlos angeschwollene Spannung in meinem Innern. Mein Geschlecht meldete sich wie ein Schmerz. Erlösende Tränen und wilde Freude durchschüttelten mich. – Einem Dammbruch gleich brauste der Zug heran, doppelt so lang wie die früheren, und vollgepfropft von erregt gestikulierenden Menschen. – – Von diesem Erlebnis ab hatte mich diese Zeit in Bann. Ich konnte ihr nicht mehr entgehen. Die Begeisterung über die endliche Erlösung war zu stark. Der Moment ist in meinem Hirn eingegraben, wie das Zufallen einer stählernen Tür. Ich war ganz eingefangen und Stück dieser Zeit. Alles, was nicht mit ihr zusammenhing, versank für mich ins Wesenlose. Ich hatte meine Maschine wieder, und ich wußte mit der Gläubigkeit eines Kindes, daß ich gepfiffen hatte, und sie war zu mir gekommen. Sie ließ mich nicht im Stich. – Ich dachte noch lange Zeit, daß ich die Ursache dieser Erlösung gewesen sei. In meinen verstiegenen Träumen kam es mir vor, als habe ich dadurch, daß ich mich allein in der ungeheuren Halle mit verzweifeltem Willen dem Weltuntergang entgegensetzte, alles ins Normale zurückgelenkt. – Später wurde ich eines besseren belehrt, doch all' das blieb mir unvergeßlich, und reifte mich von heut auf 62 morgen. Ich soll damals ein Nervenfieber bekommen haben und eine Gedächtnisstörung; aber es war einfach nur ein Raub der Zeit, der an mir geschah. Ich war auch seitdem nicht kindlich mehr, sondern besinnlich und verfiel keiner Frau, seit ich denken konnte. Ich hatte eine große Kühle in mir, als ob ich noch an den Resten jenes großen Erschreckens litte, und es nicht über mich bringen könnte, zarten Empfindungen Raum zu geben.«

Er schwieg und blickte versonnen vor sich hin. Am Tisch rührte sich für eine zeitlang nichts, da man das Gefühl hatte, er sei noch nicht ganz zu Ende.

»Heute,« fügte er endlich bei, »heute erst ist das Eis gebrochen.« – Er hatte wie im Traum geredet, aus dem er jetzt zu erwachen schien. Er blickte sich um. Wo war er? Er las höflich-amüsiertes Erstaunen in den Gesichtern. Haben mich diese Menschen denn überhaupt verstanden? Habe ich ihnen nicht etwas vorgeworfen, das zu gut ist für sie?

Er stand plötzlich auf und verabschiedete sich etwas zeremoniell. Noch bevor er an der Drehtür war, hörte er die mühsam zurückgehaltene Heiterkeit jener Runde sich prustend Bahn brechen nach einem Aufschrei Katinkas, dem ein Gemecker jeder Tonfärbung folgte. – Nur das bleiche Kind saß noch da wie eine steife Puppe, die Hände auf den Knien, und blickte ihm mit großen, verblüfften, blaßblauen Augen unbeweglich nach. 63


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