Willy Seidel
Der Gott im Treibhaus
Willy Seidel

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Vierzehntes Kapitel

So geriet denn Rupert mit demselben Handkoffer, mit dem er die Welt hatte erobern wollen, in seine eigene Wohnung zurück.

Nach dem Aufstieg von unerhörter Schnelligkeit, der ihn schon mitten in die leuchtende Erfüllung geführt, kam nun dieser Sturz, der in schauerlicher Folgerichtigkeit ihn in einer entsprechenden Tiefe landen ließ. Ihn erhielt der Gedanke aufrecht, alles sei nur Bestandteil eines Traumes gewesen, dessen spielerische Laune ihm Entzücken und Entsetzen zugleich vermittelt, als sei es wieder gutzumachen irgendwie, als blase der klare Tag diese sündhaft schöne Verirrung seiner Phantasie mit gelassener Nüchternheit hinweg.– Die 155 ganze Szene, wie sie ihm jetzt vorschwebte, hatte durchaus Traumcharakter, – etwas Unwirkliches, dabei Tröstliches. Um so verwirrender kam die Erkenntnis, daß sie durchaus reale Folgen gezeitigt. Ihm war zu Mute wie einem, der im Traum einen Mord verübt und nun nach dem Erwachen von kettenrasselnden Gesetzeshütern verhaftet werden soll. Er kann auch nur immer das eine sagen: »Aber meine Herren, waren Sie denn wirklich zugegen?« – und sie stehen da und berufen sich auf ein Nichts.

Dies war hinlänglich trostlos. Wie forsch er damals ausgesegelt war! Kapstadt hatte es sein sollen oder Neuseeland; und nun war er in der Peripherie Groß-Berlins bei einem ganz ungewöhnlich tollen, anachronistischen Abenteuer hängen geblieben. – Nach ein paar Tagen ward ihm so, als habe er allen Grund, über sich selber zu lachen. Dies ging ja doch alles nicht mit rechten Dingen zu! – Solche Menschen gab es ja nicht! Man denke sich: ein schwarzer Gehrock und ein Mädchen, das nackt in Treibhäusern rhythmische Gymnastik treibt . . . Und jenes »Projekt«? – Etwas ungeheuer Großes dämmerte vor ihm auf, wie eine von Regen halb gelöschte Gebirgslandschaft. Er konnte es nicht mehr greifen, es konnte nah sein und doch unendlich fern. Die größten Gedankensprünge waren nötig, um in jene schroff emporstarrende, pfadlose Wunderlandschaft zu kommen.

In seiner Brust tief drinnen sang eine Stimme wie ein Kind im Schachte eines Ziehbrunnens. Diese Stimme klagte und wenn er sie hörte, tat ihm das Herz weh. Man mußte sie übertäuben, es ging nicht anders. – Mit Leuten über sein Erlebnis zu sprechen, und standen sie ihm auch noch so nahe, war ihm unmöglich. Er konnte es nicht einmal formulieren, 156 und wenn sie ihn auch verständen, so würde eine große Welle von sarkastischem Gelächter ihn davonschwemmen. – Nein, dies Erlebnis forderte Ausdrücke, nach denen sein Alltagsbewußtsein stets vergeblich suchen würde. Nur flüstern konnte man es in Stunden gänzlichsten Alleinseins, absolutester Versenkung. – Er suchte das kleine Mausoleum auf, wo die Urne mit der Asche seines Vaters stand, und schloß sich darin ein. Er starrte auf den Knopf des Urnendeckels, dessen Politur im matten Licht der Achatfenster schimmerte, in der Absicht, eine Wirkung wie die des Kristallsehens zu erzielen. Aber die Wirkung blieb aus. – Sein Vater regte hier keine Schwingen. Die Luft stockte hier; sterile Leere webte zwischen den Marmorquadern. Wenn er eine Botschaft wollte, überhaupt für möglich hielt, so konnte sie sich hier nicht erweisen. Vollkommen erschöpft von vergeblicher Konzentration verließ er das Grabmal.

Die Nächte waren das Schlimmste. Man konnte sie betäuben; wohl, doch alle Ausschweifungen führten zu ihm selbst zurück, als ob er einen kreisförmigen Schneckengang durchirre, an dessen Ende ein halbblinder Spiegel ihm seine eigene Gestalt entgegenführe, und stets um einen Grad verwüsteter und ärmer. So gab er es auf, die Stimme im Brunnen betäuben zu wollen und blieb zu Hause. – Hier wurde er von der Erinnerung durch die Zimmer gejagt. Das Ungelöste des ganzen Problems schmerzte wie eine Wunde, die sich nicht schließen will. Hier half nur eine tiefe Gläubigkeit und die Überzeugung, daß die Wurzeln des Produktiven den Zustand überdauern, den man Tod nennt. – Und stieß nicht seine Lebenswurzel an die seines Vaters und aller vorhergehenden Geschlechter? Es mußte noch ein Kontakt zu finden sein, dachte er inbrünstig. – Aber es kam keine Botschaft. 157 Es war, als sei eine Tür endgültig zugefallen, als sei der grüne Blitz im Spalt für immer für ihn erloschen. In seiner Ratlosigkeit durchwühlte er die Hinterlassenschaft des alten Dux nach Medikamenten und stieß auf ein Fläschchen, das den Saft von indischem Hanf, in Weingeist gelöst, enthielt. Die Dosierung war genau vermerkt. Er stellte die Beleuchtung der Zimmer wiederum so her, wie sie damals in der Sterbestunde gewesen, und vergaß auch nicht die Kandelaber am Bett zu entzünden. Er rief mit Gewalt jenen Zustand zurück, als könne er dadurch der Zeit etwas ablisten.

Er braute sich Tee und nahm im Lauf zweier Stunden zwanzig Tropfen zu sich. Das Sehfeld wurde innerlich geschärft. Er saß vollkommen ruhig, jedoch schien ihm, als rücke alles um ihn näher herzu, so daß er das kleinste Fleckchen auf der Damastbespannung der Wände und im Nebenzimmer jedes Muster auf der grünen Decke des Bettes haarfein zu erkennen glaubte. – Das tröpfelnde Wachs in den Kandelabern, so weit von ihm entfernt, fiel für sein überempfindliches Trommelfell mit deutlichem Ticken in die Lichtmanschetten. – Nun war er vorbereitet, falls eine Botschaft kommen sollte. – Er betete mit aller Kraft, deren er fähig war. Wenn es dem Alten wirklich gelungen war, damals sein Abbild in jenen Garten zu schicken und durch geschlossene Glaswände hindurchzubrechen, so war die Veränderung, die er Tod nannte, kein allzugroßes Hindernis für das Hinüberreichen einer Botschaft aus jener Sphäre. Ruperts Herz klopfte bedrängt. Das Pflanzengift rumorte in seinem Blute.

Plötzlich fuhr er empor, als habe ihn jemand an der Schulter berührt. Er sah zunächst nichts, nur schienen die Zimmer 158 sehr in die Länge und Breite gewachsen, so daß sie Sälen glichen. – Ganz in der Ferne hörte er Schritte; oder war es noch immer dieses Fallen der Wachstropfen? Tuck, tuck, tuck, tönte es von dort. – Jemand machte sich an dem Bett zu schaffen, wo die Lichter brannten. Eine gebeugte Gestalt. Sie drehte sich um und blickte über die Schulter hinweg mit verschmitztem Ausdruck zu ihm hinüber. Es gab da keinen Zweifel, das war der Vater. – Mit weitaufgerissenen Augen durchquerte Rupert das Zimmer. Es war ihm, als trete er in Wolle oder als schwebe er. So sehr war das Empfinden seines Körpers abgestorben. Nun aber winkte der alte Dux ab, mit einer Gebärde, als wolle er sagen: »Bemühe Dich nicht!« – »Vater!« schrie Rupert auf. »Ich habe ihn gefunden, ihn, Örvandill!«

Der Alte schien einen Moment zu zögern. Er strich soeben die Decke glatt; nun drehte er sich völlig um und sagte mit einer Stimme wie über Meilen hinweg: »So steht es ja auch im Programm; wie?«

»Aber, Vater,« rief Rupert mit äußerstem Stimmaufwand. »Er hat mich von sich gewiesen! Er hat mich abgeschnitten! Hilf mir!«

Der Alte lächelte etwas schief, fast listig. »Du hast ihn gefunden, so wirst Du ihn wiederfinden. – Kennt man ihn, so kennt man ihn, und dabei bleibt's.«

»Und Verbena?«

»Das sind Lappalien!« äußerte der alte Dux. »Wer hängt sich an so etwas?«

»Lappalien . . .« stammelte Rupert. »Sie ist ein Stück von mir!«

»Ein Stück von ihm . . .« sprach die Stimme höhnisch, als unterhalte sie sich mit einem Dritten. – Der alte Dux hatte 159 sich wieder umgedreht und schüttelte dabei den Kopf. Ein Brümmeln war dabei vernehmbar, als amüsiere sich der Geist. – Eine schauerliche Erkenntnis überfiel Rupert: – er hatte es ja hier gar nicht mit dem Vater zu tun, sondern mit einem von ihm selbst künstlich gezüchteten Phantom. Er hatte sich mit äußerster Willenskraft dies Gespenst dort geschaffen. Es hatte ihm den Gefallen getan, sich zu zeigen; aber es war nur leere Schale. Es fehlte aller Sinn in jenem Gefasel.

Nun bettete sich das Ding langsam auf das Bett, mit einer Art befriedigten Lächelns. Es war ein schauderhaftes Lächeln; – das Phantom äffte alles nach, was der Alte in seiner Sterbestunde getan; doch clownhaft-skurril. Rupert fühlte es wie eine kalte Hand im Nacken, und fiel ächzend auf seinen Stuhl zurück, denn das Gespenst, das still dort lag zwischen den intensiv flammenden Kerzen, die kein Lufthauch traf, ließ das Lächeln erstarren; es ward sardonisch und fand den Übergang ohne weiteres in die Grimasse des Todes. – So lag es da und sank langsam in die Decke hinein, fiel sichtbar in sich zusammen. – Dieser grauenvolle Vorgang brachte Rupert dazu, die Hände vors Gesicht zu schlagen. Aber als seien seine Handflächen gläsern geworden, sah er immer diesen Vorgang vor sich, sechs- bis achtmal wiederholt, und im Übermaß seines Entsetzens sprach er laut, mit aller Kraft der tiefsten Sehnsucht, den Namen Verbenas aus. – Kam auch sie? – Wenn sie kam, so durfte es kein Schattentheater werden, kein fragwürdiges, schlimmes Marionettenspiel. – War das Gift stark genug, um auch sie zu entstellen? Es schien nicht so. – Sie ward dort sichtbar auf dem Bett. Der Alte lag nicht mehr darauf. Es war wie eine schlimme Täuschung gewesen. Aber dafür formte sich etwas an seiner 160 Stelle, als ob das Kerzenlicht sich leuchtend balle und Formen gewinne: – langgestreckte, runde Glieder, die zum Körper wurden. – Auf einmal sah er sie dort liegen. Sie hatte sich halb aufgestützt, ihr goldbraunes Haar flimmerte. Das eine Knie ausgestellt, so ruhte sie dort, und ihr Lächeln blühte kühl und verheißungsvoll in dem sinnenden Gesicht auf. – »Verbena,« murmelte er. Es war eine unendliche Erlösung, sie dort an Stelle jener fürchterlichen Puppe zu sehen. Es war der Triumph süßen Lebens auf der Stätte der Verwesung. Und wieder wollte er sich erheben und zu ihr hinübergehen, ganz trunken von Glück. Ihre Arme breiteten sich langsam aus. Er sah die feinen Finger spielen, die knappen Brüste von einem tiefen Atemzug zitternd gehoben . . . Sein ganzes Wesen war ausgefüllt von dieser vollkommenen Schönheit, deren Perlmutterglanz ihn in sich aufnahm und ihn durchtränkte, wie das silbrige Licht eines frühen Morgens . . . Seine aufgepeitschten Sinne trieben ihm Purpurwellen durchs Hirn . . .

Aber nun empfand er, daß er gelähmt war. Er konnte sich nicht vom Platze rühren. Wütende Anstrengungen machte er, um zu ihr hinüberzugehen, und immer verlockender erschien sie ihm, wie ein Edelstein, der immer neue Fazetten erblitzen läßt.

Seine wütende Qual war vergebens. Er rang mit dem Wunsch. Sie schüttelte langsam die goldbraune Kappe ihres Haares. Sie dehnte sich und ließ ihre Schönheit wechselnd vor ihm erstehen. – Da auf einmal verdunkelte die purpurne Welle vollständig sein Bewußtsein und er sprang, wie vom Schlag getroffen, in die Höhe. Seine Hände waren kalt und naß; noch trieb der Giftrausch sein Blut hämmernd durch die Schläfen. Alles war wie sonst, nichts hatte sich ereignet. 161 – Die Zimmer waren zusammengeschrumpft zur gewöhnlichen Größe. Das Bett dort hinten war so, wie er es hergerichtet, und die letzten Kerzenstümpfe zuckten im flüssigen Wachs. Ein Schleier von bläulichem Qualm hing unter der Zimmerdecke, und durch die Vorhangspalten blickte der blaugraue Wintertag herein. – Ein würgender Schmerz überkam ihn. Er legte den Kopf zwischen die Arme und schluchzte so heftig wie noch nie zuvor in seinem Leben, bis dies Schluchzen in den Schlaf einer traumlosen Ermattung überging.


Als er erwachte, fiel sein Blick auf das Fläschchen, aus dem er sich dieses Erlebnis gestohlen. Er ergriff es und zerschmetterte es an der Wand.

Die Halluzination, die sich vor ihm mit so schreckhafter Deutlichkeit abgespielt, gab ihm tief zu denken. Wie in solch gesteigertem Zustand stärkste Wahrheiten lebendig werden, so schien es ihm, habe sich auch hier ein unabweisliches, grausiges Gesetz gerührt und sich in sinnfälligste Symbole gekleidet: Das Gesetz der Auflösung des Individuums; der Vernichtung der Persönlichkeit zu Gunsten des beseelenden Gedankens, der allem Naturgeschehen zugrunde liegt. – Der alte Dux war unwiederbringlich tot. Er konnte nicht beschworen werden. Tat man es dennoch, so beschwor man eine Larve; so stahl sich diese Larve den Anschein des Lebens aus der Verwesung und sank wieder spurlos darin unter. – Aber man konnte das Leben beschwören, das es noch gab, das siegreich atmende Leben, dessen Zirkel zwar bemessen war, wie der einer Pflanze, das aber sich behaupten und dem Tode die Zähne zeigen durfte: – Das war die Unsterblichkeit des Organischen, die in der Gestalt eines jungfräulich-unerschloß'nen Leibes den Thron keck erklommen und sich's 162 darin wohl sein ließ; – die das sardonische Feixen des Vergänglichen zunichte gemacht durch das warme, fruchtbar Lächeln der Lebensbejahung. Und von diesem durfte Rupert nicht abgeschnitten werden, ohne selbst zugrunde zu gehen.

Monate schleppten sich dahin. – Leben konnte er's nicht nennen und auch nicht sterben. – Sein Körper war widerstandsfähig; aber er fühlte, wie sein Geist, mehr und mehr vom Erdboden abgeschnitten, verkümmerte. – An Stelle elastischen Lebens trat stumpfes Brüten über den Verlust.– Dies Brüten fruchtete ihm nichts. Alles erschien ihm bedeutungslos. Nächtelang irrte er umher und blickte den Menschen ins Gesicht. Eine Frau nach der anderen trieb über seinen Weg, doch keine vermochte ihn zu reizen. Alle Diskussionen erschienen ihm farblos und überflüssig. Und mit dem alten Örvandill war's ein Ringen gewesen, ein gemeinschaftliches Erstürmen von Lebenshöhen. Nun tummelte er sich wieder mitten unter den Zwergen, die so eifrig an der Oberfläche zu basteln verstanden und deren Tun und Treiben, das sie ›Zeitgeist‹ betitelten, ein Rasseln mit tauben Nüssen war. – Schweren Herzens entschloß er sich endlich einen Brief zu schreiben voller Selbstanklage, und doch war der Brief von dem Bewußtsein getragen, daß er imstande sei, die Verantwortung für das Damalige voll auf sich zu nehmen. – Er wolle, wenn sie ihn ablehnten, auch keiner der ihren sein in dem Sinne, wie sie das auffaßten. Er wolle nur von ihnen geduldet werden und beisteuern helfen, damit das große Werk keine Verzögerung erleide. Dieser Teil des Briefes war an beide gerichtet. Er hatte jedes Wort an Örvandill abgewogen. – Aber in einem Brief, den er an Verbena selbst beifügte in geschlossenem Umschlag, stand ein fassungsloser Aufschrei, aus dem seine Eifersucht auf den 163 Alten deutlich zu erkennen war. Eine Woche lang überlegte er sich, ob er den Brief abschicken solle. Endlich tat er's und hatte ihn nach einigen Stunden bereits wieder uneröffnet in Händen.

Inzwischen war es Anfang März geworden. – Nach einem ganzen Nachmittag, den er allein im Kahn auf dem See bei Lindow verbrachte, schien es ihm das beste, sich auszulöschen. – Er war wiederum allein zu Hause. Sein Weiterleben kam ihm so verfehlt und überflüssig vor, daß, nachdem alle Hoffnung auf Verständigung vergebens schien, der Entschluß ihm nicht das kleinste schwermütige Bedenken mehr kostete. – Ein letztes Mal noch wollte er versuchen, sie zu sehen. War auch dieser Versuch vergebens, so war alles, was er empfunden, Täuschung und Unfug; so gab es kein Gesetz mehr in dem mystischen Zusammenhang zweier Menschenwesen, sondern nur launischen Zufall, unberechenbar wie das Zusammentreffen von Regentropfen, die zu Hagelkörnern verschmelzen. – Er ordnete alles, was ihm zur Ausübung der selbstgewählten Todesart zustatten kommen konnte, und fuhr dann noch einmal nach der Station »Potsdam« hinaus.

Ihm war, als sei er vor tausend Jahren einmal hier gewesen, als gehe er auf dem Friedhofe spazieren und lege hier und da einen Strauß nieder an Stätten, wo teure Tote schliefen. Jede Ecke, an der er geharrt, bei der Verfolgung der Seltsamen einmal gezögert; jeder Schritt, den er damals getan, wurde wiederholt. Einen ganzen Vormittag stand er reglos am Eingang der Seitenstraße mit den Kontorhäusern. Wie ein Nachtwandler ging er einher. Sein Herz schwoll und kostete dieses herbe, süße »Du« bis zur Neige aus..

Er sah sie nicht, irgendwie war ihm, als könne er sie auch 164 nicht sehen, als passe dies nicht recht mit der monatelangen Resignation zusammen; als habe er eine Stufe überwunden, und als würde der Anblick ihn wieder zurückreißen zu neuer Qual. – Vielleicht war es gut so, daß er sie nicht sah. So blieb ihm noch die schöne Erinnerung, die ihm bis in die letzte Minute hinein folgen würde. Sein Tod würde ein Untertauchen sein im Grün, vor dem sie sich so hold bewegt. Und um den herben Stoß der ernüchternden Tatsächlichkeit einer Begegnung zu vermeiden, entschloß er sich zurückzufahren.

Zu Hause rang er die Hände, daß ihn die Finger schmerzten. Den Mut, umzukehren, brachte er nicht auf. Und doch war die Wunde da, die offene, die konnte nur mit ihrem Lächeln geschlossen werden. – Er verfiel auf den letzten Ausweg. Er wollte sie ans Telephon rufen lassen und dort auf dem Fernbild, bevor sie ihn erkenne, wollte er noch einmal ihre stillen Züge trinken und dann den Tod erwarten. – Beim Amt wurde ihm der Bescheid, »Professor Sebaldus Schuster« habe eine geheime Rufnummer. Mit viel Überredung gelang es ihm, diese zu erfahren. Unter dem Vorwand, es handle sich um eine Bestellung, in der ein Irrtum untergelaufen sei, verlangte er sie zu sprechen.

Die Milchglasplatte blieb dunkel. Auf einmal war es, als ob ein sanftes grünes Licht darin aufblitze. Er hatte sein eigenes Antlitz unkenntlich gemacht, damit sie über den Sprecher zunächst im Unklaren sein solle. Ihre Züge begannen sich abzuzeichnen, fein und scharf. Sie trug das grüne Kleid; ihre Haut leuchtete, als empfange sie Licht von oben her. Etwas wie Mondsilber lag darauf. – Er murmelte einige unverständliche Sätze, und das Gesicht sah ihn voll unendlicher Ruhe und aufmerksam an. Sie sah ihm geradewegs 165 in die Augen, obwohl sie, entsprechend seiner Vorbereitung, in unerkannte Ferne blickte. – Jede Sekunde war kostbar. Er sättigte sich an den reinen Zügen; dann sah er, wie die kleine Falte zwischen ihre Brauen trat und wie sie mit ungeduldiger Bewegung des Halses, um besser lauschen zu können, den Kopf ins Profil drehte. Plötzlich war alles wie weggewischt und schwarz auf der Glastafel, sie hatte eingehängt. Mit heißen Augen trat er zurück und hielt krampfhaft dies Bild in seinem Gedächtnis fest.

Die Methode, die er sich ausgedacht, war der Hungertod. Er wußte um ein Präparat, das nagendes Hungergefühl und jeden Schmerz hob und vollkommen auslöschte, so daß der physische Verfall eine langsam fortschreitende Ermattung mit sich brachte und immer längere Schlafperioden, bis der letzte endgültige Schlaf ein Erwachen vor dem Ausklang hintanhielt. – Er legte sich nicht auf das Bett des Vaters, denn ihm war, als ob die Vision noch darin brüte und es verpeste. Er richtete sich die Ottomane im Arbeitszimmer her, versah sich mit einigen Büchern, die er leicht zur Hand haben würde, und deren abstrakte Gedankenfolge ihm kein Interesse an der Umwelt wachzurufen versprach; – stellte eine Wasserkaraffe neben sich und jenes Präparat, und bettete sich, nach reiflicher Überlegung alles Nötigen und nach Erledigung der schriftlichen Bestimmungen, ruhevoll darauf. Er blickte starr zur Decke und zwang seinen Körper zu vollständiger Passivität.

Nach Verlauf von vier Tagen hatte eine gewisse Müdigkeit sich seiner schon bemächtigt und eine Unlust, sich zu bewegen. Es kostete ihn keine Überwindung mehr, ruhig zu liegen. Die Fenster hatte er verschlossen und die schweren Portièren ließen keine Helle hindurch. Künstliches Licht flammte 166 ununterbrochen seit der Minute, da er sich hingelegt. So sah er keinen Wechsel mehr von Tag und Nacht, sondern eine ewige Gleichheit in der Umgebung. – An der Tür hatte er außen ein Schild angebracht, daß er verreist sei, so daß er keine Störung zu befürchten brauchte. Zum Überfluß hatte er die Klingel mit Watte erstickt. Das einzig Lebende im Hause war der Chronometer unter der Glasglocke, der dort mit einem Aufblitzen von gelbem Messing wie unablässiger Puls vibrierte.

Die Zeit schien stillzustehen. – Es war nur ein großes Sausen in seinen Ohren und um ihn herum. Ganz vereinzelt, in großen Pausen, klangen irgendwelche Geräusche durch die schallsicheren Wände; doch mit der Zeit verlernte er es, darauf zu achten. Er war im Mittelpunkt eines großen, weichen Wirbels von Stille, der ihn langsam und unnachsichtlich hinunterzog. Dann würde sich die Tiefe oben über ihm schließen. Er konnte kein zarteres und schöneres Dahingleiten in das Nichts erhoffen.

Sein Leben, das vergangene, vor jenem entscheidenden Schicksalsmoment, wollte sich von Zeit zu Zeit mit leiser Klage rühren; wie Bettler, die Einlaß heischen, kamen vertraute Gedanken seiner Jugendzeit und pochten ans Tor. Aber er hatte sich verriegelt, und so verklang ihr unablässiges Rufen. – Das Schwerste war zu überwinden; – das war jene enge, schwindelnde Brücke, über den Abgrund gespannt. Noch mußte er taumeln wie ein Seiltänzer, der mit unendlicher Vorsicht die Schritte wählen muß. – Rechts und links gab es noch Ausblicke, die entsetzten; aber wandte man den Blick geradeaus, so war man gefeit; denn dort blauten schon die Wäldermassen des Jenseits. – Dort am fernen Ufer würde ihn jemand erwarten, das wußte er; vorgebeugt 167 würde ihn ein Greis an seine Brust ziehn, wenn er den letzten entscheidenden Schritt wage; und dieser Greis müsse souverän dort herrschen. – Es war nicht jene Larve, die er zu ihm gesandt und die ihn wie eine Ausgeburt der Hölle geschreckt; nein, das werde er selber sein, der alte Dux; in einem geschäftigen Frieden würde er weben, leise mit seinem seidenen Mantel rascheln und dort zu Hause sein, wo auf sein Geheiß die Quellen sprudelten. Er würde bei den »Wurzeln« und dorthin vorgedrungen sein, wo das Wort Natur seinen eigentlichsten Sinn offenbarte. – Vielleicht auch war am anderen Ufer der Schlaf zu Hause, der immerwährende Schlaf, der die vollkommene Stille ist. Das Nichts, das ihn erwartete, würde kein absolutes sein. Seine Leere würde trächtig sein, denn über den Wassern hatte von je der Geist geschwebt.

Die Zeitrechnung war ihm abhanden gekommen. Er fühlte sich kaum mehr. Er sah an seinem Körper herab, wie an etwas Fremdem, was nicht zu ihm gehörte. Seine Finger waren ihm entfremdet, seine Knie. – Noch hob und senkte sich die Brust; noch lief das Uhrwerk. Aber bald überwand die Reibung die Bewegung, und alles geriet unmerklich ins Stocken.

So lag er da, taub, blind, schon aufgegeben; und hier geschah es, daß das Seil über dem Abgrund plötzlich ins Schwanken kam, so stark, daß er jeden Halt zu verlieren wähnte. Jemand hatte an dem Seil gezerrt, rhythmisch daran gezupft, als ob man ihn zurückrufe. So empfand er. – Mit einer ungeheuren Anstrengung wandte seine Seele sich um auf dem schwankenden Pfad und blickte zurück ins Dasein: schon trüben Auges und wider Willen; denn dort hinten stand eine Gestalt, die nicht der Vater war. Eine 168 Gestalt, die seiner Umgebung angehörte, mit seinem eigenen, noch atmenden Körper verwandt, und die zu denken gab. Er zuckte zusammen und riß die Augen auf. – Mitten im Zimmer stand Verbena.

Plötzlich herausgerissen, an die Oberfläche gespült, vom nackten Wind der Wirklichkeit umpfiffen, krampfte er den Leib, um sich aufzusetzen, denn er glaubte nicht dem, was er sah. – Doch schon war sie bei ihm und legte ihre Arme über seine Knie, die er willenlos wieder fallen ließ, als strecke er sich in lauem Bad. – Sie legte ihre Hand auf seine Stirn. Alles war geglättet. Und mit diesem letzten Anblick ihrer lieblich andringenden Gestalt, der perlmutternen Haut, die so nahe seinem Antlitz atmete, der durchdringenden Augen, die so forschend in den Grund der seinen spähten, sank er in tiefe Ohnmacht. – Es war die Ohnmacht der Genesung, in der neue Kräfte sich leise regten. – Und als nach einer Ewigkeit diese Ohnmacht sich behob, traf sein erster Blick wieder ihre Brust und ihre Schultern. Ihr Antlitz war weggewandt im Profil und hatte einen grübelnden Ausdruck. Als sie merkte, daß er erwacht sei, schob sie ihm eine Tasse mit Kraftbrühe hin, die sie inzwischen beschafft. Zu matt, um die Tasse an die Lippen zu führen, ward er von ihr unterstützt. – Sie hob seinen Kopf mit der einen Hand und speiste ihn mit der anderen; und als dies vorüber war, sank sie mit dem Gesicht auf das seine und blieb eine Weile regungslos so liegen. – Sie schenkte ihm alles zurück, was sie ihm genommen, und noch viel mehr dazu. – Sie überschüttete ihn mit ihrer Nähe und ihrer Berührung. – Er sog sich voll an dieser Gnade und sie wich nicht, bis er sich erheben konnte. 169


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