Willy Seidel
Der Gott im Treibhaus
Willy Seidel

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Siebentes Kapitel

Zwei Tage sah Rupert nichts von dem Mädchen.

Am Morgen des dritten Tages wurde er plötzlich geweckt durch ein metallisches Geräusch. Das Knirschen seines Messingbettes, das er gerade mit einem Sprung verlassen hatte, tönte ihm noch im Ohr. Er stand auf dem Teppich und rieb sich die Augen. Er war im Hotelzimmer. Die Uhr zeigte auf sieben. Noch war es halb finster. Draußen lag dicker Nebel, von vereinzelten Lichtern durchstochen. Ein grauer Hauch der Frühe erfüllte das Zimmer mit totem Licht. Die Gegenstände waren schwach erkennbar.

Was hatte ihn geweckt? Wie kam er dazu, im Schlafe aus 76 dem Bett zu springen? – Er setzte sich auf einen Stuhl. Unabweisbar, alles in ihm ausfüllend wie Gegenwart eines Dauerfiebers, dessen man sich am Morgen wieder bewußt wird und das nicht nur Körper, sondern auch das ganze Wesen durchtränkt, trat das Mädchen vor sein inneres Gesicht. – Sie war da. Sie hatte ihn aus dem Schlafe geschüttelt. – Sie hatte gerufen, wollte ihm etwas mitteilen; das war klar. – Denn kaum daß das Tagesbewußtsein ihm wiedergekehrt war, war ihr Antlitz allbeherrschend in den Vordergrund getreten. Sie hatte gesagt: »Auf Wiedersehen;« heute sollte es sich ereignen. Er stand dem rätselhaften Ereignis, das ihm ein leises Grauen verursachte, ratlos gegenüber. Sein Verstand lächelte diese Deutung nieder, aber sein Herz sprach ein brünstiges »Ja«.

Er kleidete sich an, frühstückte und ging dann durch die schon von einigen Passanten und dahinklirrenden Trambahnen belebte Stadt langsam der bekannten Straße zu. Dort war die Ecke, dort mußte er einbiegen, von dort würde er sie zuerst sehen, wenn sie heraustrat. Auf dem Wege sagte er sich noch unzählige Male, er laufe einer Schimäre nach; es sei lächerlich, auf eine bloße Vermutung, die er höchstens metaphysisch begründen könne, so fest zu bauen.

Als er an die Ecke kam, prallte er mit ihr zusammen.

Er war unsicher. Er war überzeugt, sie werde einen erstaunten Ausruf tun, ihm durch Zufall zu dieser unmöglichen Stunde zu begegnen. Zweifellos hatte sie etwas Eiliges vorgehabt, und nun drängte er ihr seine Gesellschaft auf. Aber sie zeigte keine Spur von Verwirrung. Sie reichte ihm einfach die Hand und sagte:

»Ich danke Ihnen für Ihre Pünktlichkeit.«

Rätsel über Rätsel. Konnte man das denn einfach 77 hinnehmen? Unendliche Fragen drängten sich ihm auf die Zunge . . . Sie fuhr jedoch schnell und leicht fort: »– Ich habe mich diesen Vormittag für Sie frei gemacht; ich hatte Lust, mich einmal etwas gründlicher mit Ihnen zu unterhalten. Der Oheim braut an seinem Werk, da merkt er's nicht, wenn ich länger fortbleibe. Ich bin ja ohnehin immer da, wenn er mich nötig hat.«

»Sie haben es weit in der Gedankenübertragung gebracht,« bestätigte Rupert sinnend. »Sonst wäre es nicht möglich, daß Sie Leute im Schlafe am Kragen packen und aus dem Bett hinausbefördern.«

»Wir scheinen aufeinander abgestimmt zu sein,« lachte sie. »Ich habe heute früh, ungefähr um sieben Uhr, einfach den Wunsch gehabt, mit Ihnen für ein paar Stunden durchzubrennen. Sonderbar, daß mir gar nicht der Gedanke kam, Sie könnten taub für diese Botschaft sein.«

Diese Selbstverständlichkeit erzeugte ihm ein Gefühl süßen Grauens vor dem Übermaß des Zusammenklangs an Empfindung. Zweifellos hatte sie Kräfte, von denen sie nichts wußte, und sie spielte damit wie ein Kind, das nichts anderes kennt. Sie setzte dieselben Kräfte ganz naiv bei ihm voraus und wunderte sich nicht im leisesten, daß sie zufällig nicht danebentraf. Oder sollte sie, dachte er ganz berauscht, erkannt haben, daß ich im weiten, weiten Umkreis der Einzige bin, der empfindlich genug ist, um als »Empfänger« für solche Botschaft zu dienen?

Sie trug heute ein nilgrünes Kleid aus schwerer gewirkter Seide, das denselben Schnitt hatte, wie jenes mausgraue aus Samt. – Er hatte seinen dicken Ulster übergezogen.

»Frieren Sie nicht?« fragte er fassungslos. Arme und Schultern waren wie damals nackt, aber ihm war, als könne 78 diese Haut nie frösteln. Sie war nicht einmal von der Kühle gerötet. Sie schimmerte in stumpfem Weiß, makellos rein, wie bachüberronnenes Perlmutter. Dabei schien es, als ob dies ganze Wesen von innen heraus vibriere vom sanften, mächtigen Puls einer unvorstellbaren Gesundheit. Kälte hatte ihr nichts an. Sie war gefeit wie ein Steppentier.

»Es ist frisch,« sprach sie, »aber ich habe das gern. Sehen Sie, in genau dreiviertel Stunden wird der Nebel verschwunden sein, und dann haben wir wieder trockene Sonne. Ich habe mich noch nie vor Kälte gefürchtet, höchstens vor geschlossenen Räumen. Die konnte ich nie vertragen. Ich reiße jedes Fenster auf. Ich fühle oft, ich gehöre nicht zwischen Mauern.«

»Ja, und im Winter? – wenn es wirklich kalt wird?« warf er ein.

Sie waren unterdessen weitergeschritten und hatten die Gegend durchquert, wo ehemals der »Neue Garten« und die Parklandschaften der Monarchenzeit sich gedehnt hatten.

»Es muß schon wirklich Stein und Bein frieren,« sagte sie, »um mich zu veranlassen, mehr anzuziehen. – Höchstens gibt es noch eine Flausjacke. Dann aber gehe ich nicht mehr; dann renne ich. So bleibt man warm.«

– Ihr Atem verwehte wie unfaßbarer silbriger Dampf in der Luft. Das Blau vertiefte sich, der Tag badete beide mit hellem Gold. Ihre Schatten waren noch lang. Es war kaum acht Uhr geworden, als sie die Strandpromenade am Jungfernsee erreichten. – Die Sonne meinte es barmherzig mit diesem Gewässer. Sie entlockte ihm schüchterne Farben, wie in seiner Frühzeit. Und im Gefunkel, das gesprenkelte Wellchen warfen, vergaß man den Anblick endloser schmutziger Inseln aus zerpulverter Kohle und der 79 Petroleumspritzer auf der ganzen Oberfläche. – Mehrere Morgen im Umkreis dehnte sich hier eine geschorene Wiese, von wellblechbedeckten Hangars umrandet. Dies war der Landungsplatz für die Verkehrsflugzeuge, deren eine ganze Reihe noch auf der Wiese hockte und auf das Aufstiegsignal wartete.

»Nun, was wollen wir machen?« fragte das Mädchen und sah ihn unternehmungslustig an. »Ich glaube, wir spazieren ein wenig in die Mark hinein. Die nächste Station ist Lindow, da läßt es sich rudern. Da gibt es auch noch Wälder und Schilf.«

Der Führer dieses Flugzeugs machte sich gerade am Propeller zu schaffen; er begann zu schnurren. Sie ereilten es in großen Sprüngen. Kaum hatten sie darin Platz genommen, als sie nach kurzem Anlauf im steilen Winkel aufschwebten. Die Fabriken, der Jungfernsee, der Flugplatz, Potsdam, und am Schluß Berlin ballten sich zu übersichtlichem Knäuel, der sich in der Tiefe farbenbunt verdichtete.

Sie waren bereits fünfhundert Meter hoch, kaum daß man sich's versah, und Groß-Berlin lag unter ihnen wie ein Fleck schmutziggrauer Ölfarbe; wie ein waschechter Makel, den keine Macht der Welt vom Antlitz der Erde löschen könne. Die hingesprenkelten rötlichen und schwarzen Tupfer hörten geraume Zeit nicht auf. Die Geräusche waren längst in der Luft verbrodelt und erreichten sie nur mehr als fernes Sieden. Da und dort lockte die Sonne schneidend scharfe Funken aus Kanälen oder gläsernen Dächern. – Nach drei weiteren Minuten begann die sanfte Parzellierung von Feldern sich langsam aus dem Grunde zu entfalten. Moosige Flecken entstanden darauf. Es begann das »freie Land«. War es in Wirklichkeit »frei«? Bei näherer Betrachtung sah es aus, als habe man tauglitzernde Spinnennetze darüber gebreitet. 80 Das war die Unzahl von Schienensträngen, die es auch hier noch durchfurchte. Aber diese verschwanden allmählich; das moosige Grün, das sattere Braun behielten die Oberhand, und rings am Horizont, zinnschimmernde Pfützen, zeigten sich die Uckermärkischen Seen.

Das Flugzeug hielt auf eine dieser Lachen zu, an deren einem Ende wie Würfelzucker ein Städtchen lag, und begann sich zu senken. Der Fall des Apparates bremste und fing sich in kurzem, schrägem Gleitflug. Plötzlich saß er auf einer glattgeschorenen Wiese auf. So mild und behutsam ließ er sich nieder, daß beide nicht einmal das Empfinden endgültiger Landung deutlich verspürten. Man war einfach da; man war hingepustet worden aus Berlin, wie eine Flaumfeder.

Sie verschmähte seine Hilfe beim Aussteigen. Sie stand bereits draußen und reichte ihm die Hand hinein. Er bezahlte den Führer, und dann gingen sie ans Seeufer. – Trotz seiner Nähe war der Ausflugsort heute menschenleer. Sie setzte sich im Boot ans Steuer, und er ruderte. Es war auf einmal fast warm geworden. Seinen Ulster hatte er ausgezogen. – Es herrschte Kirchenstille auf dem Wasser, und er vernahm etwas, was er seit unzähligen Jahren nicht mehr vernommen: – knarzendes Geschrei von Vögeln. Ein Möwenschwarm umkreiste in der Ferne ein Badehaus. Das gegenseitige Ufer war von stiller Monotonie schwarzgrüner Föhrenwälder gesäumt, aus deren kahlen Stämmen die Sonne rötlichen Schimmer lockte; deren pinienhafte Wipfel scharfgezackt gegen das Kristallblau des Herbsthimmels standen. Diese Föhrenwälder, in ihrer wimmelnden Gesamtheit, hatten etwas majestätisch Makelloses.

Er ruderte weiter, ihm war, als fahre er traumerfüllter Stille entgegen. Eine kleine Bucht öffnete sich wie ein Tor. Durch 81 das Schilf, das sie versperrte, wand sich ein Wasserpfad, von früheren Rudern geöffnet. Diesem folgte er. – Sie glitten ganz in das Schilf hinein. Das Mädchen saß reglos wie ein Bild am Steuer, und ließ sich hineintragen in den raschelnden Tempel. Die Wirrnis schlanker Blätter regte sich und flüsterte. Ja, es war wie erstaunt anschwellendes Raunen darin, als Rupert mit seiner kostbaren Fracht hindurchglitt. Die spitzen Blätter schwankten und bebten, obwohl kein Wind zu spüren war. Wäre nicht der leise Wellenschlag am Boot gewesen, so hätte man vermeinen können, sie neigten sich in Begrüßung..– Er ließ die Ruder ins Boot zurückgleiten und sagte:

»Hier lasset uns Zelte bauen.«

»Es ist immer schön hier,« sagte sie und warf die Haare nach hinten. »Ich kenne diesen See. Wie Sie sehen, kennt man auch mich.«

»Wie meinen Sie das?« fragte er erstaunt.

»Nun, machen Sie doch die Augen auf. Haben Sie schon jemals gesehen, daß ein Wasserhuhn der Menschen Nähe standhält – statt schon in großer Entfernung Reißaus zu nehmen?«

Das Wunder ereignete sich vor seinen Augen. Die Vögel, die man sonst nur durch ein Fernglas als schwarze Punkte betrachten kann, schaukelten geruhsam auf dem Wasser. Sie hielten die Köpfe in possierlicher Einmütigkeit dem Boot zugewandt. Das Mädchen neigte sich und schob ihren nackten Arm halb ins Wasser, während sie langsamen Lockton ausstieß. – Die Gruppe der Wasserhühner verwirrte sich; sie schwammen wie erregt durcheinander, noch immer am Platze schaukelnd. – Endlich, mit plötzlichem Entschluß, hob sich die Schar; sauste prasselnd ins Schilf.

82 »Man kennt Sie hier noch nicht;« meinte sie bedauernd. »Sonst wären sie wohl herangekommen.«

Schwingenknattern erhob sich über ihnen; eine große Lachmöwe saß neben ihr auf dem Rand des Hecks. Rupert wagte sich nicht zu rühren. Sein Atem ging gepreßt. Langsam näherte sie ihre Hand mit beweglichen Fingern, die auf der Seide ihrer geschlossenen Schenkel entlang krochen, dem Tier. Dann auf einmal verloren sich ihre Fingerspitzen in dem weißen Flaum. Sie kraulte der Möwe den Kopf mit unendlicher Schnelligkeit. – Zwischen Rupert und ihr, hin und her, zuckten die glänzend schwarzen, gelbgeringten Augen, von Zweifeln gepeinigt. Der Vogel entfaltete die Schwingen, schloß sie wieder und dann, als habe er sich zum Entschluß durchgerungen, saß er in der entbreiteten Handfläche des Mädchens. – Dieses hob ihn mit sakraler Geste in die Höhe, um ihm einen Schwung zu geben; das Tier hatte genug Gegendruck in der Luft, und strich zaudernd ab. –

Rupert fand keine Worte. Das Mädchen sah ihn fast feindlich an. Dann trat ein spitzbübisches Lächeln an ihren Mund. – »Ich glaube Ihnen gern, daß Sie so etwas zum erstenmal sehen. Aber ich wundere mich gar nicht mehr darüber. Diese Tiere kennen mich. Auch mit fremden Tieren geht es mir so. Ich könnte einem Löwen einen Nasenstüber geben. Er würde sich bedanken. Es ist mir so, als müsse dies so sein.«

»Aber nur bei Ihnen,« rief Rupert leidenschaftlich, »muß das so sein.«

»Nur bei mir,« wiederholte sie sinnend. »Unser Freund hat mir eine ›empfehlende Erinnerung‹ mitgegeben. Das ist doch wohl der Ausdruck von den anderen?«

83 »Ja, das sagt man so. Aber was meinen Sie mit ›anderen‹?«

»Euch,« sprach sie mit plötzlicher Schärfe. »Ein Zufall, daß Sie vielleicht . . .«

Er blickte atemlos auf ihre Lippen. ». . . nicht ganz zu diesen gehören, wie?«

»Sie haben Recht. Sonst wäre es Ihnen ja auch gar nicht gelungen, mich kennenzulernen.«

»Aber nun sagen Sie mir, wer er ist, den Sie mit ›Unser Freund‹ betiteln. Sie sprechen in Symbolen, scheint mir.«

»Unser Freund,« sagte sie nach einigem Nachdenken und sah ihn schwärmerisch an –: »Unser Freund hat keinen Titel; deshalb nenne ich keinen Namen. Ich könnte auch keinen nennen. Ich könnte Ihn mit vielen Titeln belegen, mit einem prunkhaften Schwanz von Namen wie einen indischen Fürsten. Aber das leidet Er nicht. Er ist eben ›Unser Freund‹; und damit hat es ein Ende.« – Sie sann nach und plötzlich wurde sie lebhaft und sprach schneller: – »Er lebt bei uns, wissen Sie. Aber Er hat es nicht gern, wenn man viel Wesens von Ihm macht und eigentlich hätte ich auch gar nicht von Ihm reden dürfen; es ist mir nur so herausgefahren. Sie haben etwas an sich, das mich an Ihn erinnert. Er guckt einen so ähnlich an wie Sie. Wenigstens kommt es mir so vor. – Aber was rede ich für einen Unsinn.« – Sie stand plötzlich auf, als sei sie ungeduldig mit sich selbst geworden. Das Boot schwankte bedenklich. – »Rudern Sie weiter,« sprach sie plötzlich hoheitsvoll. »Was brauche ich mich zu verplappern. Sie haben sich in mein Vertrauen gedrängt.«

Er hielt inne, zu Tode erschrocken. – »Aber ich bitte Sie, wie soll ich dazu kommen, Ihnen Dinge abzupressen, die 84 Ihnen heilig sind. Ich bin ja so dankbar, daß Sie mich in Ihrer Gesellschaft dulden.« – Er wurde pathetisch. – »Wirklich, Sie tun mir hier großes Unrecht.« Sie stand hoch aufgerichtet, und blickte ihn klar und lange an.

»Ja,« sagte sie endlich, »ich habe mir allein etwas vorzuwerfen. Verzeihen Sie mir.«

»Sie müssen sich doch auch sagen,« rief Rupert, der nun die halbe Oberhand spürte, »daß mich diese Dinge höchst verblüffen. Ich müßte ein Idiot sein, wenn ich dazu schwiege. Sie nehmen mich hier hinaus, zu Ihren dressierten Möwen und Wasserhühnern, machen sich bei den Tieren beliebt und ich soll ruhig dabeisitzen und das selbstverständlich finden? – Ich selbst habe es noch nicht einmal fertiggebracht, eine Maus an mich zu fesseln.«

»Das Leichteste von der Welt,« sagte sie fast entrüstet. »Überhaupt, man stellt sich alles so verwickelt vor. Freilich, man muß in der richtigen Schule sein. Wenn Sie vernünftig sind und mich nicht zu oft befragen, dann erleben Sie noch dies oder das. Ich bin schon sehr unvorsichtig gewesen, ich hoffe, daß das mir gut bekommt.«

»Ist Ihr Oheim denn so ein Tyrann?«

»Ich sagte Ihnen schon bei unserer ersten Begegnung, daß er eigenartig ist. – Das ist aber sein gutes Recht,« fügte sie hinzu. »Er darf eigenartig sein. Sehen Sie, ich weiß, er hat mich sehr lieb, und deshalb ist er zuweilen brummig.«

»Er traut Ihnen nicht ganz?«

Sie erwiderte diese Unterbrechung mit einem unerwartet klaren Blick, ohne jede Befangenheit:– »Er möchte mich nicht gerade einsperren, wissen Sie. Aber im Hause will er mich behalten und im Garten, und auf keinen Fall will er die 85 Leine zu locker lassen. Ich werde wohl einen Sturm zu bestehen haben, wenn ich heute heimkomme. Er kann sehr laut sein.«

»Nun gut; Sie wissen ja, wie man ihn behandelt.«

»Er kennt mich,« sagte sie schlicht, »und ich kenne ihn. Andere Leute fürchten sich vor ihm; er sei ungeschlacht, sagen sie. Wenn er so dahockt und vor sich hinbrütet, kann er Fremden Furcht einjagen.«

»Nun, ein schrullenhafter, alter Mann, ein Gelehrter.«

»Ein alter Mann . . .?!« echote sie, sehr erstaunt. »Er war noch nie alt! – Er sieht jetzt noch genau so aus wie damals, als ich zum erstenmal einen Begriff von ihm bekam: rotes Gesicht, ganz dicke, blonde Brauen; Brauen verstehen Sie, wie Baumflechten im Urwald. Zottig-blondes Haar. Er hat die schönsten Augen der Welt. Er kann mich durchschauen wie Glas. Da bleibt kein Fäserchen, was ihm entgeht. Eines nur kann ich ihm nicht abgewöhnen; einen furchtbaren, ganz, ganz altmodischen schwarzen Rock.«

Rupert lauschte betroffen auf. Eine Erinnerung, ein Gespräch: sein Vater vorgebeugt im Lehnstuhl mit den Händen in der Luft, die etwas zu modellieren sich mühten . . . Er riß seine Brieftasche hervor. – »Warten Sie, warten Sie,« rief er aufgeregt.

Sie setzte sich nieder mit plötzlichem Ruck. Das Boot geriet ins Schwanken. Sie stützte das Kinn auf die Hände.

»Heißt Ihr Onkel,« fragte er langsam, bevor er seine Brieftasche aufklappte, »etwa . . . Örvandill?«

Ihre Lippen teilten sich, ihre Arme fielen zu beiden Seiten herab, ihre Schultern zogen sich wie im Frost zusammen. – »Ja, so heißt er,« rief sie plötzlich schrill, beinahe klagend. Es war wie ein Möwenschrei. – »Aber das weiß niemand 86 auf der weiten Welt. Das ist sein eigentlicher, sein geheimer Name. Sagen Sie mir um Gottes willen, wie kommen Sie dazu, ihn zu kennen?«

Er nahm das Notizbuchblatt hervor und entfaltete es. »Ole Örvandill,« las er . . . Der Mann, den zu suchen sein Vater ein Vermögen geopfert; der Mann, dem er dreißig Jahre unablässig auf der Spur gewesen, dieser Mann also war es, bei dem das Mädchen wohnte. – Erfüllung über Erfüllung. – Und er nahm das Pflanzenblatt, das noch nicht ganz eingetrocknet war, bedachtsam heraus und hielt es ihr mit zitternden Fingern hin. »Hier. Dies stammt von ihm.«

Sie rührte sich nicht und starrte darauf, als fürchte sie sich davor. – »Ja,« sagte sie endlich fröstelnd, »es stammt von ihm.«

»Und von welcher Pflanze?«

»Von unserer Verbena im Treibhaus. Verbena ist auch mein Name . . . Wenn Sie,« fuhr sie nach einer Pause fort, »mit diesen beiden Dingen zu ihm kommen, ist es möglich, daß er Ihnen nicht die Tür weist. Ich werde dafür sorgen . . . Nun lassen Sie mich rudern, denn wir müssen zurück, unverzüglich zurück. – Reden Sie heute nicht mehr mit mir.«

Sie wechselten auf dem Heimweg wenig Worte. Er teilte ihr noch mit, wo er wohnte.

»Sie werden von uns hören,« sagte sie beim Abschied. »Sehr bald.« 87


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