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XII.

Friedrich Hild hatte in der That Frascati verlassen. Er hatte Donna Teresa ein rasch und leicht zusammengepacktes Hab und Gut mit dem Auftrag übergeben, es zu einem Vetturin Lohnkutscher ( vetturino). – Anm.d.Hrsg. zu bringen, der sehr oft Fremde, die mit der Eisenbahn kamen, nach Albano fuhr. Im Gasthof dort solle es für ihn abgegeben werden. Er selbst hatte sich zu Fuß auf den Weg gemacht und war am Abend in Albano. Aber im Gasthof hier fand er alte Bekannte, deutsche und dänische Künstler aus Rom einquartiert – er wollte allein sein und schritt am andern Morgen, ohne sein Gepäck abzuwarten, fürbaß, dem nahen Ariccia zu, dann nach Genzano und endlich nach Nemi. Hier gedachte er zu bleiben. Es war sein Lieblingspunkt in dem ganzen herrlichen Albanergebirge. Er war da am schönsten Fleck der Welt und doch wie außer der Welt.

Es ist in der That ein prachtvoller Punkt. Tief in Berg und Fels eingelenkt liegt der dunkelblaue Seespiegel inmitten seiner hohen, schroff abgeschnittenen Gestade. Am westlichen Ende beherrscht ihn das malerische Genzano mit seinen grauen Mauern, und am östlichen das noch malerischere Nemi mit seinen grauen Thürmen und Zinnen. Er ist wie ein riesiges Becken, Genzano und Nemi sind die Handgriffe an diesem Becken.

Die Berge sind mit der üppigsten Vegetation bedeckt; vulkanische Felsbildungen durchbrechen mit zackigem Gestein das tiefe, saftige Grün der südlichen Pflanzenwelt, die Alles zu überwuchern strebt. Unterhalb Nemi stürzt sich in wundersamen Windungen, Kaskaden und Sprüngen ein Gewässer die steilen Hänge hinab, hohen Korkeichen und Kastanienbäumen, wilden Reben und Laurus, Cytius und was sonst da alles in wilder Urkraft wuchert, neue Säfte zuführend.

Neben dem Gewässer windet sich der Weg. Es kann keinen steileren, schwieriger zu wandelnden Bergweg in der Welt geben, aber auch keinen entzückenderen. Man ist wie in einer rund umhegten abgeschlossenen Welt für sich; träumend liegt der schöne kleine See da, träumend vom holden Bilde Dianens, der keuschen Göttin, die einst zum Baden in diese silbernen Fluthen niederstieg; träumend liegt das stille, sonnige Genzano da auf einer Höhe, träumend das in seltsamen Mauerlinien sich aufbauende Nemi.

Das ist keine Stadt für nüchternes Menschenleben, nicht aufgebaut, hinter Wänden und unter Dächern fleißiges Volk bei Handel und Gewerbe zu schützen und jedem bei seiner Hantirung und alltäglichen Lebensmüh' den häuslichen Herd zu gewähren … es ist die Schöpfung einer Künstlerphantasie, es ist nur um der Poesie willen da, in diese Gegend hineingedichtet, weil es hineingehörte; es war ein Poet, der es dahin stellte, dieses unvergleichlich malerische Nemi!

Friedrich miethete sich bei Signor Mattei, dem einzigen Gastwirth des Ortes, ein. Den ersten Tag brachte er damit zu, daß er auf der Pergola vor dem Hause sitzend auf den See niederblickte oder weit hinüber auf den Streifen schimmernder Meerfluth, den man von diesem Punkte aus, über eine Einsenkung der Ränder des Seekraters fortblickend, weit am Horizont blauen sieht.

Am zweiten Tage erinnerte er sich, daß er an die Fortsetzung seiner Arbeiten denken müsse, und sandte einen Boten um ein Gepäck nach Albano. Es wurde ihm am Abend richtig überbracht.

Am dritten Tage sah er, daß er zur Arbeit völlig unfähig sei. Es war ihm nicht möglich, seine Gedanken darauf zu wenden. Und wenn es ihm möglich gewesen wäre, er hätte es nicht gewollt. Denn seine Arbeit war ihm ganz unsagbar gleichgültig.

Bisher hatte er für seine Arbeit, für seine Kunst ausschließlich gelebt; nicht künstlerisch thätig zu sein, wäre ihm vor wenigen Tagen noch so viel gewesen, wie nicht athmen zu sollen. Heute war es anders. Er athmete wie immer, aber Malen, Farben, Bilder, Motive, Staffage, Beleuchtung, Lichteffekte, Wolkenbildungen, Alles, Alles war ihm so vollständig gleichgültig, wie einem Seekranken die politischen Zustände Hinter-Indiens.

Das einzige Bild, welches er vor sich sah, war die Gestalt Charlottens, die einzige Farbe der feine, durchsichtige, mild nüancierte Teint ihres ausdruckvollen Gesichtes; die einzigen Wolkenbildungen, die ihn interessierten, waren die Träume von Glück, die er gehegt; und die einzigen Motive, über welche er nachsann, waren die Motive ihres Handelns – die Fragen, ob reine Gleichgültigkeit und Kälte des Herzens sie eine Bewerbung hatte zurückweisen lassen, oder der verletzte jungfräuliche Stolz in ihr – ihre Entrüstung über die Keckheit seiner Voraussetzungen und die verwegene Deutung, welche er ihrem Entgegenkommen gegeben?

Und dabei war ein wunderliches Schwanken in ihm. Zuweilen glaubte er in einer Stimmung tiefer Demuth, daß Charlotte recht gehabt, ihn zurückzuweisen, daß er sein Schicksal verdient, daß er in thörichter Eitelkeit sein Glück verscherzt und daß er ein Wesen wie Charlotte gar nicht verdiene; daß er die Strafe, die er leide, verdient habe durch den anmaßenden Gedanken, die in seine beschränkte, unsichere und dunkle Künstler-Existenz herabziehen zu wollen.

Ein anderes Mal kochte heller Zorn in ihm. Nach der Art und Weise, wie man ihm entgegengekommen, fand er seinen Irrthum durchaus natürlich und völlig zu rechtfertigen. In dem raschen Umschwung von Charlottens Benehmen gegen ihn fand er eine abscheuliche Launenhaftigkeit, ein unverantwortliches, gewissenloses Spiel mit seinem Herzen, eine kalte Grausamkeit, die das Unheil, welches sie angerichtet, gar nicht weiter beachtete, sondern es sich leicht machte und ihn einfach entfernte.

»Gehen Sie fort, wir sind in eine schiefe Stellung gerathen. Sie genieren mich hier, ich wünsche Sie nicht länger hier zu sehen!«

Friedrich Hild konnte diese Worte zähneknirschend im höchsten Zorn, in halber Raserei sprechen.

Aber der Zorn trug nichts zur Heilung des Zustandes, in dem er sich befand, bei. Er machte ihn für die Arbeit, die Lichteffekte und die Wolkenbildungen, das schöne Landschaftsbild um ihn her und die Menschen darin, die Kunst und die Welt nicht wieder empfänglich. Er gab seinen Gedanken keine andere Richtung, zauberte vor sein Auge kein anderes Bild als immer das eine und einzige, das Charlottens.

Zuweilen stiegen tolle Pläne in ihm auf; seine Phantasie baute sie aus und durchträumte sie, bis sie sich verflüchtigten und in Nichts auflösten. Einmal wollte er zurückkehren und sie um Verzeihung bitten, um ihre Freundschaft werben und dann durch langen, langen Liebesdienst ihr Herz zu gewinnen suchen. Ein anderes Mal hätte er sie gewaltsam entführen mögen.

Dieser thörichte Gedanke flog ihn an, als er eines Tages unwillkürlich einzelne Worte auffing, die Signor Matteo Mattei, ein Wirth, mit seiner Tochter, der siebenzehnjährigen Chichina, wechselte und Friedrichs Auge dabei auf verdächtige Putzgegenstände von übergroßer Eleganz fiel, welche Chichina in ihrem Besitz hatte – eine Damenuhr an emailliertem Haken in zierlicher Schlangenform, ein Halsband von geschnittenen Steinen – das waren Dinge, die der kleine, dicke Signor Matteo, der so genau mit seinen Gästen abzurechnen pflegte, seinem Töchterchen schwerlich auf dem Markte zu Albano eingehandelt hatte. Aber Chichina hatte einen Bewerber und antwortete in ein wenig unbestimmter, ausweichender, sich nicht ganz gleich bleibender Art, wenn sie nach dem Berufszweige desselben gefragt wurde.

Friedrich Hild kannte genug von Land und Leuten, um auf den Gedanken zu kommen, daß Giuseppe Tosti, dieser Bewerber, wenn er solche Freigebigkeit übte, die Quelle dazu in einem lichtscheuen und bedenklichen Handwerk finde, das eigentlich mehr Vorsicht erforderte, als Giuseppe zu nehmen schien. Friedrich wurde in seinem Verdachte bestärkt durch den Umstand, das Giuseppe trotz seiner Liebesflamme oft sehr lange Zeit hindurch versäumte, Abends auf der Pergola vor Signore Matteo's Hause zu erscheinen, wo doch Chichina ihn regelmäßig erwartete. Seine Abwesenheit mußte also von unregelmäßiger Dauer und nicht vorher zu berechnen sein. Giuseppe mit einem Wort schien ein Manutengolo Helfershelfer, Kuppler. – Anm.d.Hrsg. zu sein, das heißt ein Handreicher, ein Vermittler zwischen der heimischen Romantik des Brigantaggio Räuberei. – Anm.d.Hrsg. und der Prosa des seßhaften Philisterthums, dessen die Romantik doch zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse und zur Unterstützung in ihren Unternehmungen bedurfte.

Giuseppe hatte vielleicht eine ganze Räuberbande zu seiner Verfügung, und man durfte sich nur seine Gunst sichern, um die verwegensten Pläne ausführen zu lassen – Ueberfälle, Entführungen, Wegschleppungen in eine einsame, verlassene Burg tief in den öden Schluchten der Volsergebirge, in eine geheime Grotte in den Felsen der Abruzzen, wo man dann plötzlich als Retter auftauchen könnte, als Held und Befreier.

Ach, es waren Pläne voll Thorheit, Chimären, kindische Träume, die sich bald wieder in Rauch auflösten, und Friedrich Hild war dann, wenn er sich selbst gestand, über welchem Unsinn er eine Weile gebrütet, so tief unglücklich, daß er aufstöhnte vor tiefem Weh … das Bewußtsein seiner völligen Hoffnungslosigkeit überwältigte ihn zuweilen so, daß er einen lauten Schrei des Schmerzes ausstoßen mußte … er konnte nicht anders, es hätte ihn sonst erstickt.

Seine Natur war nicht die eines Werther. Er dachte nicht daran, sich todtzuschießen, so gleichgültig ihn auch ein auf seine Stirn gerichteter Revolver gelassen hätte. Er suchte auch nicht Trost in der Resignation; er verachtete jene Philosophie der Entsagung, welche häßliche Ketten mit sanften und frommen Gedanken vergoldet, die Freiheit der Seele verketzert und die That und die Stärke, die Entschlossenheit und die Energie zu Gunsten einer angefaulten Moral um ihren Werth bestiehlt. Er hatte kein Organ für eine solche Philosophie der Weiberseelen in sich, sondern nur die Leidenschaft, die unbezwingliche Leidenschaft. Und neben ihr nur noch einen Rest von Vernunft.

Diese Vernunft ließ sich nicht ganz und gar und vollständig unterdrücken von der Leidenschaft. Es gab Augenblicke, wo diese Vernunft so hell in ihm wurde, daß er sich selbst ein Gegenstand der Beobachtung war und sich staunend des Dualismus der Menschennatur bewußt wurde.

»Ich bin mir selbst ein Räthsel«, sprach er dann. »Ich sehe vollständig klar ein, daß ich ein Thor bin, daß ich zu Grunde gehe auf diesem Wege, daß ich verderbe und verkomme. Sie ist nicht das einzige Wesen auf der Welt. Es giebt gewiß tausend andere, die ihr gleichstehen. Weshalb denn in ihr Alles, Alles sehen? Das ganze Leben liegt fast noch vor mir und kann mir noch Glück und Freude bringen. Ich sehe das ein so klar, wie es mir nur der nüchternste Mensch sagen könnte. Und doch, es hilft mir nichts. Es ändert auch nicht das Geringste an meinem Zustande. Der Verstand, der Mann in mir spricht es, aber ein Weib, die Seele hört nicht darauf. Sie ist taub für das, was der Mann spricht. In dem Kampfe beider mit einander behält sie, sie allein das letzte Wort. Sie ist ein echtes Weib, sie ist unzugänglich für Gründe. O, das entsetzliche Weib! Und welch' seltsame Welt ist der Mensch!«

Endlich, im Laufe der Tage, wurde der Verstand mit seinen männlichen Gründen in so fern der Herr im Hause, als Friedrich die Ruhe gewann, sich stundenlang wieder seinen Arbeiten hingeben zu können. An etwas Größerem, an einer Composition zu arbeiten, dazu war er freilich nicht fähig. Aber er konnte Skizzen machen; er schweifte in der Gegend von Nemi umher, suchte Motive, begann sie unter einem aufgespannten Nomadenzelt, dem riesigen Sonnenschirm, zu fixieren, zerriß das eine, wenn es halb vollendet war, und brachte anderes vollendet heim.

Er suchte dabei möglichst den Begegnungen mit Menschen auszuweichen; er wandte meist dem See den Rücken und vertiefte sich in die ostwärts von Nemi liegenden Schluchten des Gebirgsrückens, den oben der Gipfel von Monte Cavo krönt. In diesen Schluchten und auf diesen Halden war er sicher, höchstens einem Ziegenhirten mit seiner Herde zu begegnen. In diese wilde Gestrüpp- und Waldwelt drang ihm sicherlich kein civilisierter Mensch nach. Er konnte da vergessen, daß es Menschen gab. Aber vergessen?

Ist es überhaupt möglich, zu vergessen? Einer leidenschaftlichen Natur wie Friedrich Hild wenigstens nicht. Er vergaß nicht. Er saß oder lag oft stundenlang auf einem Felsstück, unter dem Wipfel einer Kastanie, im Schatten des hohen Ufers eines trockenen Gießbachs. Andere Menschen holen sich, wenn sie in den Ländern des Südens lange auf dem Boden sitzen, alle möglichen Fieber; Skorpionen drohen ihnen mit ihrem giftigen Stich, allerlei Schlangen lauern unter den Sträuchern und im hohen Riedgras. Friedrich focht das Alles nicht an. Er war gefeit wie ein Trunkener.

Er hatte recht gehabt, als er seinem Freunde geschrieben, daß das Abenteuer ihn fliehe. Nicht das Geringste stieß ihm in diesen Wäldern und Bergschluchten auf, was seinen Gedanken gewaltsam eine andere Richtung gegeben hätte. Und diese Gedanken, sie zogen alle, alle dem einen Ziele zu. Er war ihrer so wenig Herr, wie er Herr der Strömung seines Blutes war. Er war seelisch so krank, wie es ein Mensch physisch ist, dem alles Blut nach einer Richtung, nach dem Haupt oder der Brust strömt. Er litt an Gedanken-Congestionen; sein Haupt war voll von dem Gedanken an sie, zum Zerspringen voll und ließ nichts Anderm Raum, und das Uebel war so hartnäckig, so unheilbar hartnäckig, daß er sich mehr als einmal sagte: »Du bist auf dem Wege, verrückt zu werden.«

Und zuletzt – zuletzt ging auch derselbe kalte und nüchterne Verstand, bei dem er anfangs Beistand und Trost gefunden gegen die unbezwingliche Sehnsucht und den Schmerz der Seele, ins feindliche Lager über. Der treulose Verstand, der ihm anfangs zornig gesagt, es sei ja helle Thorheit, sich so zu grämen, schlug sich ganz unverholen auf die Seite der Seele, des Herzens, mit dem er früher gehadert. Er sagte:

»Du hast recht, dich so zu grämen. Mag es ihrer noch viele Tausend in der Welt geben, wo findest du Eine, deren ganzes Wesen und Sein das ist, was das ihre? So ganz das Ideal dessen, was du je dir erträumtest? bei der du das Gefühl haben würdest das zu besitzen, was dir wie von Anbeginn an verheißen ist, jene getrennte Hälfte deiner Seele In Platons Dialog ›Symposion‹ wird das Konzept der Seelenverwandtschaft dargelegt: Zunächst als Kugelseele geschaffen, erfolgt eine gewaltsame Trennung, so dass die Menschen lebenslang nach ihrer »zweiten Hälfte« suchen. Wenn dieser andere Teil der Kugelseele gefunden wurde, entsteht eine tiefe Verbindung der beiden Menschen, die sich durch nichts wieder trennen lässt. – Anm.d.Hrsg.? Nirgendwo, und wenn du die Welt durchwandertest bis an ihre Pole! Und so mußt du jetzt einsam durch's Leben gehen. Du wirst nie für Weib und Kind zu sorgen haben. Du wirst nie dich zu angestrengter Arbeit zusammennehmen, weil du nicht für sie zu schaffen brauchst. Du wirst deshalb nie ein tüchtiger Künstler werden. Sie würde es verstanden haben, dich zum Beharren, zur Ausdauer, zum Concentrieren deiner Kraft zu bringen, die Dinge, die dir am meisten fehlen. Du hättest eine wahre Gehülfin in Allem an ihr gefunden; du bist wirklich, auch wenn man's mit den nüchternsten Augen ansieht, sehr unglücklich gefahren, armer, armer, zum Unglück vorherbestimmter Mensch!«

Es war, als ob Friedrich Hild, sich selber unbewußt, Entschuldigungsgründe vor sich selber suche, daß er sich so von seinem Schmerze beherrschen lasse; Vorwände, wohinter es ihn drängte, sich vor dem Selbstvorwurf der Unmännlichkeit zu verstecken; eine Zuflucht vor der Selbstanschuldigung des thörichten Versinkens in Kummer und Harm über eine nicht zu ändernde Thatsache.

Eines Tages war er in seine Berg- und Waldeinsamkeit geschritten und hatte sich sehr tief darin verloren. Er war in nordöstlicher Richtung den Bergpfaden nachgegangen, die ihn bald auf-, bald abwärts führten. So kam er in eine Lichtung, auf eine kleine, mit kurzem, sonnverbranntem Graswuchs bedeckte Halde, über die der Pfad lief, um jenseits derselben in dichte, schattige Waldung niederzusteigen. Obwohl die Sonne sehr stark auf den lichten Fleck brannte, blieb er doch stehen, um seine Blicke der wunderbar schönen Fernsicht zuzuwenden, die sich ihm hier bot. Er sah unter sich und links hin den Albanersee und Castelgandolfo und andere malerische Punkte des Gebirges, drüber ein weites Stück der Campagna und noch weiter die silberhelle Lichtfluth des mittelländischen Meeres; rechts unter sich Grottaferrata und Marino und zur Seite die Berghöhe von Tusculum; Tusculum, das Frascati überragt, an dessen Fuß die Villa Falconieri liegt – nur ein breiter Thalgrund lag zwischen ihm und dieser Welt, der er entflohen war. Wenn er fürder schritt – in einer Stunde konnte er dort sein.

Er schritt nicht fürder, sondern er wandte sich. Er ging zurück bis zum nächsten Baumstamm, auf dessen Wurzel er sich niederließ, und das Kinn auf seine Hand stützend, schaute er in den Thalgrund unter der kahlen Höhe Tusculums hinab.

Der Anblick mußte etwas eigenthümlich Belebendes und Beflügelndes für seine Phantasie haben. Er sah Charlotte lebhaft vor sich, als schreite sie über die kleine Lichtung vor ihm auf ihn zu. Es war ein seltsames Gefühl wie ihrer Nähe … er blickte schärfer auf die Höhe von Tusculum, ob er sie etwa da umherwandeln sehen könne – über das alte Amphitheater fort auf die vorspringenden Aussichtspunkte zu – ja endlich wurde diese Illusion einer Phantasie so mächtig, daß er ihre Stimme in einem lauten Ausruf hörte.

Er erzitterte bei diesem Tone, er saß in starrer Unbeweglichkeit, wie um zu lauschen. Dann fuhr er plötzlich hastig mit der Hand über seine Stirn und schüttelte sich, wie um solche Hallucinationen von sich abzuwehren.

»Das ist doch zu seltsam«, sagte er sich; »ich wollte darauf schwören, ich hätte sie rufen hören … vollständig ihre Stimme – wie kann die Phantasie so mit uns spielen!«

Da scholl der Ruf, derselbe Ruf noch einmal.

»Hild! Herr Hild!«

»Was war das? Mein Name!« rief er entsetzt auffahrend.

Graute ihn oder durchfuhr ihn eine plötzliche unsägliche Freude bei dem Gedanken, das könne keine Sinnestäuschung sein – Charlotte sei wirklich in der Nähe? … er wußte es selbst nicht. Er stürzte vorwärts, dem Pfade über die Lichtung nach … als er etwa die Mitte derselben erreicht hatte, sah er aus der Tiefe des Weges und aus dem Schatten, da wo der Pfad sich wieder in den Wald verlor, Charlottens Gestalt auftauchen.

War sie's, oder war es ein Trugbild, das eine Phantasie geschaffen? Doch nein, eine Phantasie wäre bei dieser Schöpfung anders verfahren. Sie hätte Charlottens ganzes Gesicht nicht so unnatürlich gefärbt, sie hätte ihr nicht diese hellen Schweißperlen auf die Stirn gelegt, sie hätte ihr nicht so schrecklich von Disteln und Dornen das Kleid zerrissen; sie hätte sie nicht so ohne Hut und Schirm allein in die Wälder laufen lassen.

»Um Gotteswillen, Herr Hild!« rief Charlotte, außer sich auf ihn zueilend, aus.

»Charlotte … Fräulein Charlotte!« stammelte er … »Sie … Sie hier … in dieser Wildniß …«

»Ich falle um vor Erschöpfung«, sagte sie und rang nach Athen.

»Was ist Ihnen zugestoßen? … ich bitte Sie um des Himmels willen …«

»Gleich, gleich!« versetzte sie mühsam, kaum hörbar die Worte hervorstoßend, »führen Sie mich in den Schatten zurück.«

Er geleitete sie zurück, indem er sie unterstützte, und als sie wieder im Schatten des Waldes waren, ließ Charlotte seinen Arm, an dem sie sich aufrecht erhalten, fahren, lehnte sich an den nächsten Baumstamm, an den sie Stütze suchend ihr Haupt neigte, und dann brach sie in einen Strom von Thränen aus und rief mit dem Tone rathloser Verzweiflung:

»O gerechter Gott … o gerechter Gott … und an Allem, Allem tragen nur Sie die Schuld, nur Sie!«

Dabei schlug sie beide Hände vor ihr Gesicht, daß die hellen Zähren an ihren Fingern niederliefen.

»Ich … ich eine Schuld?« stieß Friedrich in seiner Aufregung ebenfalls athemlos heraus.

Sie nickte heftig, wie von plötzlichem Zorn erfaßt, mit dem Kopf und dann sagte sie, die Hände niedersinken lassend, wild um sich blickend:

»O sagen Sie mir, wo sind die Kinder – die Kinder?«

»Die Kinder? Sie haben die Kinder verloren?«

»Sie sind fort, gestohlen, geraubt, mit Selim – es ist ein entsetzliches Unglück – es ist mein Tod – mein Tod!«

»Die Kinder geraubt? Wie ist das möglich, wie ist das zugegangen?«

»Ich habe sie am Vormittag ausgehen lassen … in Selim's Begleitung … der Graf und die Gräfin sind nach Rom gefahren für heute und morgen … unterdeß achtete ich meiner Pflicht nicht, versank in meine elenden, unnützen Träumereien, ließ Selim mit den Kindern allein gehen, und nun sind die Kinder geraubt, und ich bin das unglücklichste Geschöpf von der Welt. Ich überlebe es nicht.«

Sie begann aufs Neue zu weinen und ihre Hände zu ringen.

»Die Kinder sind entführt, von Briganten geraubt?« fragte Friedrich. »O, sagen Sie mir Alles!«

»Sicherlich von Briganten«, versetzte sie. »Ich hatte sie ausgehen lassen und ihnen versprochen, nachzukommen; an einer Felsenquelle unterhalb Tusculums, rechtsab im Gebirge wollte ich sie treffen; es ist so schön dort, wir hatten die Stelle vor einigen Tagen entdeckt. Aber ich achtete der Zeit nicht, die verging, bis ich mich aufmachte, ihnen zu folgen. Als ich bei der Quelle ankam, fand ich sie nicht; ich fand Niemand, als eine Frau mit einer Tracht Schilf, die da rastete und mir erzählte, daß sie eben vier oder fünf Briganten begegnet sei, welche die Kinder und den Neger zwischen sich geführt hätten … ins Gebirg hinein … sie deutete mir den Weg an; ich stürzte in wahnsinniger Angst ihnen nach, um sie zu erspähen, um wo möglich zu sehen oder zu erkunden, wohin sie sich wendeten … was sollte ich anders thun in meiner Noth. als ihnen nacheilen, wenn auch nur, um mit ihnen unterzugehen und zu sterben? O, ich verdiene den Tod … mir sind die Kinder anvertraut …«

Friedrich fiel sofort jene Begegnung am Abend seiner Unterredung mit der Gräfin ein, und schwer, centnerschwer fiel ihm aufs Herz, daß er es über allem dem, was darauf gefolgt war, völlig vergessen hatte.

»O mein Gott!« rief er aus … »aber beruhigen Sie sich, um Gotteswillen, beruhigen Sie sich, Charlotte … die Kinder werden nicht untergehen und nicht sterben. Sie werden sie wieder erhalten, ungehärmt und unverletzt. Ich kann Ihnen dafür stehen … die Briganten werden ein Lösegeld verlangen und ihre Beute dann unverletzt zurückgeben … und daß dies rasch und ohne Schwierigkeiten geschehe, dafür kann ich etwas thun, viel thun vielleicht …«

»Sie? Was könnten Sie thun?«

»Ich kenne ihren Hehler, ihr Werkzeug diesseits des Gebirges … darum beruhigen Sie sich, ich bitte Sie, Charlotte; was Sie betroffen hat, ist beängstigend und schmerzlich genug, ich räume es ein, aber es ist nichts, was Sie in diese Verzweiflung zu setzen braucht … glauben Sie es mir, vertrauen Sie mir – eilen wir nur, die rechten Maßregeln zu ergreifen …«

»Und welche Maßregeln, o sprechen Sie!«

»Zuerst, das ist das Nöthigste, will ich Sie heimbringen – Sie müssen daheim sein, wenn der Graf … und die Gräfin zurückkehren, damit Niemand anders als Sie ihnen die Sache berichtet …«

»Sie werden erst morgen Abend zurückkehren; die Gräfin hat mit einer aus Neapel zurückreisenden und Rom berührenden Verwandten, einer Gräfin Palfi, zu reden …«

Friedrich sah sie eine Weile nachdenklich an, ohne fortzufahren; dann sagte er:

»So wäre das Beste … ich weiß nicht, ob ich es Ihnen vorschlagen darf … aber es wäre das Beste … o gewiß, das Beste … kommen Sie mit mir … nach Nemi … reden Sie selbst mit Chichina … sie selbst werden am Besten verstehen, sie zu rühren … und mit Giuseppe … Chichina ist die Tochter meines Wirths … Giuseppe ist ihr Geliebter, ihr Sposo, und ein Manutengolo, der Unterstützer und Hehler dieser Briganten … vielleicht just der, in dessen Hand zunächst das Lösegeld gelangen wird … wollen Sie mir vertrauen und mir folgen?«

»Gewiß, augenblicklich!« rief Charlotte aus, voranschreitend.

Friedrich eilte, sein im Schatten des Baumes, unter dem er gesessen, liegendes Malgeräth zusammenzuraffen und verbarg es rasch hinter einem Strauch.

»Nehmen Sie jetzt meinen Arm«, sagte er dann, an Charlotte herantretend – »der Weg ist voll schlimmer Stellen – ermüden Sie sich nicht durch diese Hast …«

»Ich fühle nichts von Ermüdung!« versetzte sie, seinen Arm ablehnend und mit eiligen Schritten den Waldweg, der bald durch vorstehende Felskanten, bald durch labyrinthische Geflechte mächtiger Baumwurzeln schwer gangbar war, voraufschreitend.

Friedrich folgte ihr schweigend, fast über eine Viertelstunde lang. Dann glitt sie an einer schwierigen Stelle über eine Steinkante aus und mußte sich an einem Baumzweige halten, um nicht zu fallen.

»Sie muthen sich das Uebermenschliche zu«, rief Friedrich aus. »Sie sollen meinen Arm nehmen, und nicht so rasch gehen!«

Er legte ihren Arm in den seinen, unterstützte sie und zwang sie, sich zu mäßigen. Nach einer Weile gab sie sich dieser Unterstützung, wie willenlos geworden, wie ganz und gar darein ergeben, hin; sie schloß eine Weile sogar schwer athmend die Augen und senkte ihren Kopf auf seine Schulter. Ihre Kräfte waren offenbar völlig erschöpft.

Der Weg, auf dessen Länge Friedrich vorher gar nicht geachtet, schien ihm jetzt sich entsetzlich zu dehnen. Da Charlotte nicht ausruhen wollte, mußte er sogar an schwierigen Stellen ihre Taille umfassen, um sie aufrecht zu erhalten. Endlich, nach mindestens zwei Stunden, kamen sie in Nemi an.



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