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VIII.

Neben dem großen Saale mit den Masken- und Karikaturfiguren, in welchem Friedrich heute mit Selim gesprochen, lag ein kleinerer Raum, der zum Billardzimmer diente. Um die Zeit, wo Friedrich sich noch oben auf den Höhen von Tusculum umhertrieb, hatte Graf Brechtal mit seiner Frau die sämmtlichen Gemächer des »Kasino« oder Villagebäudes, in dem sie sich für den Sommer eingerichtet, durchschritten, um sich darin zu orientieren, und hatte dann in dem Billardzimmer eine specielle Prüfung des großen alten Möbels vorgenommen, das in der Mitte stand. Die Prüfung war ziemlich befriedigend ausgefallen, und der Graf hatte nun nach Selim verlangt, um eine Partie zu machen.

»Soll ich Dir nicht erst die Anlagen der Villa zeigen, Rudolph?« fragte die Gräfin.

»Ich denke, mein Schatz, es hat Zeit bis morgen … ich bin nicht neugierig mehr auf Villen, denn sie sehen sich alle verzweifelt ähnlich, eine der andern.«

Die Gräfin war nicht ganz dieser Ansicht, aber sie widersprach dem mit einer Queue bewaffneten Gatten nicht, der sehr ungeduldig war, daß die alte Kreide, die er vorgefunden, wie Staub zerbröckelte. Als Selim eintrat, entfernte sich die Gräfin.

»Nimm eine Queue, Schwarzkopf, und laß sehen, ob Du noch etwas davon versteht«, sagte der Graf.

Selim that, wie ihm befohlen, und während der Graf das Spiel begann und gleich für geraume Zeit sich desselben ausschließlich bemächtigte, beobachtete der Mohr das Aussehen seines Herrn.

Der Graf war ein hochgewachsener Mann, mehr mager als voll, mit einem schönen Kopfe, gekrümmter Nase, stolz geschlossenen Lippen und einer Stirn, die bis sehr hoch hinauf kahl war; ganz oben stand ein dünnes, dunkles Haar kammartig auftoupirt; an den Schläfen war das Haar hinter das Ohr zurückgestrichen, was einen Eindruck von Eitelkeit hervorruft, … es erfordert eine fortwährende Beschäftigung der Hand damit. Da der Graf außerdem einen starken, im ersten Stadium des Ergrauens stehenden Bart hatte, den er mit den Fingerspitzen beständig durchkämmte, und einen Schnurrbart, der an den Enden fortwährend gekräuselt sein wollte, so war die gräfliche Rechte fast unausgesetzt in einer ähnlichen Weise von einem Haarwuchs in Anspruch genommen, wie Donna Teresa's Hände von ihren widerspenstigen Zöpfen.

Selim fand, daß seines Herrn und Gebieters Züge nicht frischer, seine Wangen nicht voller, sein Toupet da oben nicht imponierender geworden, trotz der milden Südluft von Nizza.

»Wie hat der gnädige Herr Nizza in der letzten Saison gefunden?« fragte Selim.

»Nicht sehr amüsant, Selim. Fremde genug. Viel Plebs darunter. Schweizer Plebs. Holländer Plebs. Deutscher Plebs. Verdammt gemischt!«

»Und das Spiel?«

»Ach, frag' mich nicht; Du stößt, Selim.«

Selim doublierte einen Ball und verfehlte den zweiten. Der Graf legte sich wieder zum Stoße aus. »Das heißt«, hub Selim aufs Neue an, »Sie haben verloren?«

»Verloren … Du hast schon unwahrere Dinge gesagt, Schwarzkopf; ich habe verloren – verdammt viel verloren. Aber ich hoffe, Ihr hier habt unterdeß gespart und keinen unnützen Aufwand gemacht?«

»Ich denke nicht, gnädiger Herr; so viel ich's habe kontrollieren können, nicht! Die gnädige Gräfin haben den Winter sehr eingezogen gelebt und wenig Menschen bei sich gesehen; nur ein paar Bilder angekauft –«

»Bilder angekauft? Das war grenzenlos überflüssig, sein Geld für Bilder zu verschwenden … weshalb hast Du's nicht verhindert?«

Selim zuckte die Achseln.

»Die Frau Gräfin interessiert sich so für die Künstler«, sagte er mit einem Tone, der den Grafen aufschauen machte.

»Sie interessiert sich so für die Künstler? Das ist mir neu. Seit wann?«

»Nun, seit wir in Rom waren und hier in Frascati sind.«

»Hier in Frascati? Giebt's denn hier Exemplare dieser leidigen Menschensorte?«

»Sie kommen ab und zu. Einer wohnt uns ganz nahe, drüben in der Villa Piccolomini.«

»Und für den interessiert sich meine Frau ebenfalls? Ich hoffe nicht, daß sie auch ihm seine Versuche im Rafaelfache abkauft?«

»Davon weiß ich nichts«, versetzte Selim. »Sie hat mir nur den Auftrag gegeben, genau nach den Verhältnissen des jungen Mannes zu forschen und zu dem Ende seine Bekanntschaft zu suchen. Und dann habe ich ihn veranlassen müssen, in unsere Villa zu kommen.«

Der Graf hörte auf zu spielen; die Queue, die er auf den Billardrand stützte, aufgerichtet in der Hand, fragte er gespannt:

»Und was sollte der Mensch hier?«

»Nichts als die Erlaubniß haben, alte Bäume abzumalen.«

»Zum Teufel, ich meine, alte Bäume giebt's genug auch außerhalb dieser Gartenmauern.«

»Aber es sind so ausgezeichnete hier – die Frau Gräfin mußte sie wohl abgemalt zu sehen wünschen – sie ging deshalb in das Atelier des jungen Herrn …«

»Sie ging zu ihm?«

»Mit Fräulein Charlotte; und dann kam der Herr ein paar Abende und trank den Thee mit der Herrschaft und unterhielt sie sehr lebhaft und angenehm. Und dann schickte die gnädige Gräfin das Fräulein Charlotte gestern und vorgestern zu dem Maler hinüber, damit sie ihm Modell sitze für seine Arbeit …«

»Sie sandte Charlotte hinüber, damit sie dem Maler als Modell diene? Selim, Du lügst!«

»Auf Ehre, gnädiger Herr!«

»Zum Teufel, das sind seltsame Geschichten!« rief Graf Brechtal aus. »Dazu ist uns das junge Mädchen von ihren Eltern nicht anvertraut, daß wir sie als Malermodell verwenden lassen!«

Der Graf runzelte eine Stirne und blickte wüthend Selim an, der mit der Miene unbefangenster Aufrichtigkeit seinem Blicke begegnete.

»Wie sieht der Mensch aus?«

»Es ist ein sehr stattlicher junger Mann … der Herr Graf werden ihn sicherlich bald genug selbst sehen; er war heute um die Mittagsstunde noch hier, und da die Frau Gräfin ihn ein- für allemal zu ihren Theestunden eingeladen hat, so wird er ohne Zweifel bald sich einstellen …«

»Um von mir zur Thür hinausgeworfen zu werden«, murmelte der Graf zornig zwischen den Zähnen.

Der Graf war so aufgeregt von dem, was er gehört, daß ein Stoß auf die Karoline, so dicht sie vor ihm stand, abglitt. Aber er schwieg. Er setzte das angefangene Gespräch nicht fort. Als die Partie zu Ende war, warf er die Queue heftig von sich auf das grüne Tuch.

»Ich denke, Du hältst mir diesen Menschen im Auge, Selim!« sagte er. Damit wandte er sich und verließ den Raum. Selim blickte ihm lächelnd nach.

»Nun geh' und mach' ihr eine kleine Eifersuchtsscene, wenn Du die Courage hast«, murmelte er: »sag ihr, was Selim Dir anvertraut hat, zieh' dann dem Selim das Wetter über den Kopf; Selim ist ja auch Plebs, schwarzer Plebs! Schelte und drohe und tobe und laß Dein Gemüth sich ausdampfen, wenn Du Courage hast; hast Du? Nein, Du hast sie nicht, die Courage; Du hast Geld nöthig, schweres Geld, und wir, wir haben, während Du praßtest, gespart und keinen unnützen Aufwand gemacht, und wieder einzubringen gesucht, was Du den Croupiers in den Rachen warfst! Du hast unser Geld nöthig und wirst Dich in Acht nehmen! Geh, ich kenne Dich!« lachte Selim schadenfroh auf. – – –

Die Nacht war gekommen, eine weiche warme Nacht ohne Mondschein, aber sternenhell, so daß Friedrich Hild, als er seine Wohnung verließ, ohne Schwierigkeit seinen Weg fand. Es war noch lange vor der ihm bestimmten Stunde.

Er schritt im Dunkel der Mauern, unter den Wipfeln der überhängenden Bäume den Weg, der zwischen den beiden Villen in die Höhe führte, hinan. Nach einer Weile fühlte er von der Spannung und Aufregung, in welcher er sich befand und von diesem Bergansteigen zugleich so heftig sein Herz klopfen, daß er inne hielt; er trat zur Seite und lehnte sich mit auf der Brust verschlungenen Armen an die Mauer, um seinem Herzen Ruhe zu lassen, seinen Schlag zu dämpfen.

Als er eine Weile so gestanden, hörte er Schritte. Es waren die Schritte von zwei Personen, welche von oben her nahten, lässig schlendernd, wie es schien. Als sie näher kamen, unterschied er einen schweren und einen leichteren Schritt – es mußte ein Mann und eine Frau sein … und in der That, er vernahm jetzt eine tiefere männliche und eine jugendliche weibliche Stimme, die zusammen sprachen.

»Also zwischen vier Uhr und Ave Maria?« sagte die männliche.

»Um drei Uhr nehmen sie das Mittagsmahl«, antwortete die Stimme des jungen Weibes oder Mädchens. »Dann nehmen die Signora's den Kaffee unter der Loggia und nachher tritt die jüngere mit den zwei Kindern ihren Spaziergang an … zuweilen bis weit hinter Camaldoli, oder rechtsab in den Wald unter Tusculum …«

»Und der schwarze Teufel?«

»Der schwarze Teufel ist zuweilen bei ihnen, aber nicht immer …«

» Il diavolo è un poco
Covardo e assai vile,
E non ama mai il fuoco
Di un colpo di fucile
«,

begann sie zu fingen.

»Still, lehnt dort nicht. Jemand an der Mauer?« fragte die männliche Stimme.

Friedrich Hild hatte die beiden Gestalten schon seit einigen Augenblicken wahrgenommen; er sah, wie sie stehen blieben und mit einander flüsterten. Um einem Zusammentreffen mit ihnen auszuweichen, begann er langsam den Weg wieder hinabzuschreiten. Nach einer Weile hörte er den leichteren Schritt hinter sich herabkommen; der Mann mußte seine Begleiterin verlassen haben und zurückgegangen sein. Die letztere kam raschen Ganges an Friedrich vorüber; so viel er erkennen konnte, war es eine »Ragazza«, ein junges Mädchen mit einem Korbe am Arme.

Sie grüßte mit einem Bona sera! im Vorübergehen und eilte, sehr harmlos ein Ritornell trällernd, weiter.

Friedrich war von dem Gehörten beunruhigt. Das war ja gerade, als ob man Charlottens Lebensgewohnheiten ausspionierte, um einen Anschlag darauf zu bauen! Doch war es denkbar, daß eine Brigantenbande auf einen so kühnen Plan verfallen sollte? War in solcher Nähe von Rom je etwas Derartiges vorgekommen? Lag in Frascati nicht eine französische Garnison, welche es den Briganten unmöglich machte, sich auf dieser Seite des Gebirges blicken zu lassen? Freilich; aber jedenfalls nahm Friedrich sich vor, Charlotte sogleich zu warnen.

Als er beim Herabwandeln an das Thor der Villa Falconieri gekommen, hielt er es nicht mehr zu früh, hineinzugehen. Er fand das Thor nur angelehnt. War das seinetwegen oder wurde das alte eiserne Gitter in der Nacht nicht geschlossen? Jedenfalls war es desto besser; er brauchte nun nicht, worauf er gefaßt gewesen, über die Mauer zu klettern, die weiter oben, wo sie die Höhe hinanstieg, allerdings kein ernsthaftes Hinderniß entgegenstellte. Im Schatten der Bäume und Gebüsche kam er auf die Rückseite des Hauptgebäudes. Er konnte überzeugt sein, daß kein Menschenauge ihn entdeckt. In einem Dickicht von Laurus und jungen Lorbeern setzte er sich auf eine moosige alte Steinbank; er hatte hier die ganze hintere Front des Gebäudes im Auge.

Licht zeigte diese hintere Front wenig – nur unten an der Seite, die nach Osten lag, wo sich die Küchen- und Gesindezimmer befanden, waren ein paar Fenster erleuchtet.

Die Minuten vergingen langsam schleichend. Es war, wie gesagt, sternenhell, aber nicht genug, um nach der Uhr sehen zu können … und was die Thurmuhren unten in der Stadt schlugen, daraus wurde Friedrich nicht klug – diese Stundenberechnung nach dem Ave-Maria-Läuten, dies Neubeginnen der Rechnung, sobald die sechste Stunde vorüber, waren ihm seit je zu verwickelt gewesen, um damit ins Reine kommen zu können.

Es schlug endlich drei Uhr unten in der Stadt. War das nicht so ungefähr was unser Elf? Nein, schwerlich, denn das Licht erschien noch immer nicht in dem bezeichneten Eckzimmer – noch wenigstens zehn Minuten vergingen und es blieb dunkel wie zuvor … aber jetzt … jetzt endlich tauchte der erwartete Schimmer auf – die beiden Fenster des westlichen Eckzimmers glänzten plötzlich hell durch die Nacht.

Friedrich sprang auf und eilte an den Fuß der schmalen, von einem Eisengeländer geschützten und mit einer kleinen Gitterthür von Eisen abzusperrenden Treppe, die aus dem Garten auf den Balcon des ersten Stockwerkes führte, der am ganzen Gebäude entlang lief. Die Thür stand offen und oben öffnete sich jetzt auch die Glasthür, die aus dem Eckzimmer auf den Balcon führte – eine Dame trat auf die Schwelle – die war's, Charlotte, in einen dunklen Shawl gehüllt – aber bevor Friedrich sie noch anreden konnte und sobald sie ihn entdeckt, hatte sie sich schon wieder gewandt und war ins Innere zurückgetreten.

Friedrich Hild folgte ihr … in einen mittelgroßen Raum, in dessen Mitte ein runder Tisch mit zwei brennenden Wachslichtern stand. Die plötzliche Helle blendete Friedrich einen Augenblick – er fuhr mit der Hand über die Augen, dann blickte er die eben in einem Fauteuil neben dem Tische sich zurücklegende Charlotte an und sah – zu einer unbeschreiblichen Ueberraschung – daß es nicht Charlotte war, die Dame, die da vor ihm sich so bequem niedergelassen hatte und jetzt ihren Shawl an sich zog … sondern die Gräfin.

Die Gräfin, die ihn mit ihrem freundlich herablassenden Lächeln anblickte.

Was war das!

Friedrich's Sinne verwirrten sich fast, es schwirrte ihm vor den Augen, er hatte ein Gefühl, als sei eine grenzenlose Demüthigung über ihn ausgegossen. In dem Lächeln der Gräfin sah er ein Lächeln des Spotts, des Hohns … spottete sie seiner wirklich, hatte Charlotte ihr seinen Brief gegeben, hatte die Gräfin übernommen, an ihrer Statt seine Bewerbung zurückzuweisen, ihn für seine Verwegenheit zu strafen, und hatte man ihm nur deshalb das Billet geschrieben, um ihn zu der Lection, die er erhalten sollte, zu locken?

»Frau Gräfin!« war Alles, was er hervorbringen konnte, und er rief es ziemlich laut, zornig und vorwurfsvoll.

»Setzen Sie sich dort, mein lieber Herr Hild«, sagte die Gräfin, »und suchen Sie Ihre Stimme ein wenig zu dämpfen. Wir sind nicht allein in diesem Hause, aber es ist mein Wunsch, daß wir in diesem Zimmer allein bleiben, während ich mit Ihnen zu sprechen habe … Sie sind überrascht, mich hier zu finden statt meiner Gouvernante …«

»Das bin ich allerdings!«

»Ich kann es mir denken«, versetzte die Gräfin, »aber ich hoffe, Sie werden am Schlusse unserer Unterredung nicht mehr so unzufrieden über diese Verwechslung sein, wie jetzt, wo Sie mich allerdings ein wenig zornig anblicken. Sind Sie im Stande, Ihre Gedanken einen Augenblick von Fräulein Charlotte abzuwenden und mir ruhig zuzuhören?«

Friedrich Hild nickte schwer aufathmend mit dem Kopfe. Er sah, daß er sich geirrt haben mußte, die Worte und das Wesen der Gräfin waren nicht so, als ob sie vorhätte, ihm eine Predigt zu halten.

»So setzen Sie sich endlich.«

Friedrich nahm der Dame gegenüber an der andern Seite des Tisches Platz.

Sie rückte die beiden in der Mitte stehenden Lichter zur Seite, um ihn ungehinderter anzusehen.

»Ich beginne damit, Ihnen von mir zu erzählen, und ich werde dann zu Ihnen kommen, um Ihnen die Erklärung zu geben, weshalb ich Sie von Charlotte hierher bescheiden ließ … und zwar schon heute, da ich sah, daß eine gewisse Gefahr im Verzuge war.«

Die Gräfin sprach dies allerdings mit einem gewissen spöttischen Lächeln.

»Hören Sie also. Ich bin eine geborene Gräfin von Thürheim – ist Ihnen der Name bekannt?«

Friedrich blickte auf die Gräfin in einer Weise, daß sich behaupten ließ, er sei ganz Auge. Der Gräfin mußte es fraglich erscheinen, ob er auch ganz Ohr sei, denn sie wiederholte die Frage:

»Ist Ihnen der Name bekannt?«

»Der Name Thürheim?« sagte Friedrich, aus einer Zerstreutheit auffahrend.

»Ja, Thürheim!«

»Ich weiß nicht, ja, ich denke, ich hörte ihn von meinem alten Kuratus aussprechen, dem Landpfarrer, bei dem ich aufwuchs.«

»Ganz richtig! Ich bin die einzige Tochter zweiter Ehe des Grafen Thürheim. Ich habe meinen Vater im vorigen Herbste verloren. In seiner Nachlassenschaft habe ich Papiere, Briefe und Schriftstücke verschiedener Art gefunden, die mir Kunde von einer mir früher völlig unbekannt gebliebenen Geschichte gaben und mir die dringende Pflicht auferlegten, dieselbe völlig zu ergründen. Ich glaube, ich habe sie ergründet, und auf dem Grunde derselben habe ich – Sie gefunden!«

»Mich, Frau Gräfin!?« rief Friedrich aus.

»Ja, Sie, oder sagen wir lieber, ich habe in Ihnen den Helden dieser kleinen Geschichte entdeckt. Sie werden bald sehen, wie. – Mein Vater war, wie ich Ihnen andeutete, zweimal vermählt. Seine erste Gattin war eine sehr vornehme, mit unendlich vielen Rücksichten erzogene, im Schooße eines großen Reichthums aufgewachsene, nervöse, reizbare kleine Dame, von eben so viel Schönheit wie Anmuth. Mein Vater liebte sie über Alles, er trug sie auf den Händen, wie sie vom Schicksal stets auf Händen getragen war. Sie gebar ihm einen Sohn. In Folge der Entbindung wurde sie leidend, sehr leidend; es trat ein nervöser Zustand ein, der den Arzt oft einen Uebergang in eine ausgesprochene Geistesstörung fürchten ließ. Nach und nach erholte sie sich, und der Arzt schrieb nun eine Reise in ein Seebad vor, in welchem sie zwar nicht baden, aber die Seeluft athmen sollte. Sie widerstrebte, weil sie sich nicht von ihrem Kinde trennen wollte; der Arzt wünschte nicht, daß sie es mitnehme, das Kind war schwächlich, die Reise konnte für dasselbe verhängnißvoll werden – er bestand deshalb darauf, daß die Gräfin allein reisen solle. Man gehorchte ihm. Die Gräfin reiste ab, obwohl sie versicherte, daß die Unruhe um ihr Kind, die Sehnsucht nach ihm alle guten Wirkungen der Seeluft wieder zu nichte machen werde.

Und doch war es ein Glück für sie, daß sie reiste. Als sie drei Wochen fort war, starb ihr Kind in einem heftigen Anfall von Krämpfen.

Man kann sich die Verzweiflung meines Vaters denken. Nicht allein, daß der Verlust eines Sohnes ihn mit den größten Schmerzen erfüllte, dachte er auch mit Entsetzen an die Wirkung, welche die Nachricht von diesem Verlust auf seine Gattin machen werde. Diese klagte über die Wirkung, welche die Reise, das Leben im Seebade auf sie übe; sie fühlte sich angegriffener wie je; sie verlangte stürmisch nach ihrem Kinde. Der Arzt konnte deshalb die Sorgen meines Vaters nicht beschwichtigen; er konnte sie nur erhöhen; er gestand offen, daß er von der Todesnachricht das Allerschlimmste für die Gräfin befürchte. Wenn sie zurückkommt und ihr Kind in die Arme zu schließen verlangt, sagte er, so müssen wir ein Kind ihr in die Arme zu legen haben, oder wir haben eine unheilvolle Katastrophe zu erwarten. Bei ihrer krankhaften Reizbarkeit, die mit so viel Heftigkeit verbunden sein kann, wird die Nachricht, ihr Kind sei todt, die mit einem Schlage tödten oder sie wird … verrückt!

›Gerechter Himmel‹, sagte mein Vater, ›was ist dann zu thun … wo ist da ein Ausweg? Wir können sie doch nicht immer im Bade zurückhalten.‹

›Nein … aber es denn nicht irgend ein Kind, das dem Ihrigen gleichaltrig, das ihm ein wenig ähnlich sieht? Das muß doch zu beschaffen sein. Man hält die Gräfin dann so lange es irgend möglich ist, von der Rückkehr ab, und kommt sie endlich, so kann es ihr nicht auffallen, wenn ihr das Kind ein wenig fremd geworden, wenn es ein wenig anders aussieht wie das gestorbene – sechs Wochen verändern viel an einem so kleinen Kinde.‹

Der Rath des Arztes widerstrebte meinem Vater aufs Aeußerste; er sollte lügen, eine Comödie spielen, ein fremdes Kind als das seine unterschieben – es empörte sich Alles in ihm wider diese Zumuthung! – Und doch mußte er diese Wallung des Ehrgefühls in sich bekämpfen und sich fügen und dem Arzt einräumen, daß sein Vorschlag der einzige sei, durch den man das Schreckliche, das sonst zu befürchten, abwenden könne.

›Es kommt darauf an, schnell ein solches Kind zu finden‹, sagte der Arzt.

›Ein solches Kind ist gefunden, denk' ich‹, versetzte mein Vater … ›ich habe unlängst Pathe gestanden bei dem Söhnchen eines meiner Pächter; ich will ihn bitten, es mir zu unsern Zwecken zu überlassen und ich zweifle nicht, daß er es thut …‹

›Er wird es thun … wahrscheinlich, fiel der Arzt ein – aber die Mutter?‹

›Sie muß sich drein ergeben, antwortete mein Vater … es ist ja nicht für immer; man wird sehen, was sich thun läßt, um die Gräfin nach und nach von dem Kinde zu entwöhnen; erstarkt dabei ihre Gesundheit, so kann man ihr endlich die Wahrheit gestehen und den Pächtersleuten ihr Kind zurückgeben – das heißt, wenn sie es zurückverlangen und nicht vorziehen, es der sorgfältigeren Pflege und Erziehung in meinem Hause zu lassen. Jedenfalls wird man meiner Frau die Wahrheit sagen können, sobald der Himmel uns ein zweites Kind schenken sollte …‹

Der Arzt fand das Alles sehr wahr und richtig, und mein Vater ließ sein Pferd satteln, um zu einem Pächter hinüber zu eilen. Ob es ihm leicht oder schwer geworden, diesen einwilligen zu machen – ich weiß es nicht, ich weiß nur, daß er einwilligte und daß in einer der nächsten Nächte die Wärterin meines verstorbenen Brüderchens auf den Pachthof fuhr, um das Kind zu holen. Natürlich mußte die Dienerschaft mit ins Geheimniß gezogen werden – mein Vater wußte durch Drohungen und Versprechungen sich ihre Discretion zu sichern; die Gräfin wurde nun von dem Vater aus dem Bade abgeholt, sie kam zurück, sie flog ihrem Kinde entgegen, sie fand es verändert, aber sie war selig darüber, es war so viel größer, stärker und kräftiger geworden!«

»Und nichts verrieth den Umtausch?« unterbrach Friedrich, der mit immer größerer Spannung zugehört hatte, hier die Erzählende.

»Nichts. Die Gräfin lebte schon wegen ihres leidenden Zustandes eingezogen, auf die Berührung mit wenigen Personen beschränkt. Im Winter wohnten meine Eltern in der entfernten Stadt, wohin nur ein kleiner Theil der Dienerschaft folgte; die Freunde des Hauses waren in das Geheimniß nicht eingeweiht … nicht zu verwundern, daß sie niemals etwas von dem, was man gethan, vernommen haben.

Meine Hauptquelle für das, was ich Ihnen bis jetzt erzählte«, fuhr die Gräfin Brechtal fort, »ist der Briefwechsel, den mein Vater mit dem Pächter, dem Vater des Kindes, führte. Dieser verlangte, als etwa ein Jahr verflossen, das Kind zurück und wurde im Verlauf der Zeit immer stürmischer. Es scheint, daß seine Frau immer schmerzlicher die Trennung von ihrem Kinde empfand … denn zum Unglück wurde auch sie jetzt leidend; die armen Leute scheinen wirklich vom Unglück verfolgt worden zu sein; durch das Siechthum der Frau, die ihrem Manne bei der Ausbeutung des Pachthofes beigestanden hatte, kamen sie in ihren Verhältnissen zurück.«

»Die Frau verzehrte sich in der Sehnsucht nach ihrem Kinde?« warf Friedrich mit düster gerunzelter Stirne ein.

»Es ist nicht nöthig, gerade das anzunehmen«, versetzte die Gräfin: »sie sah ihr Kind von Zeit zu Zeit, mein Vater ließ es, als die Frau leidender wurde, bei Spazierfahrten den Pachterhof berühren und dort sich aufhalten … auch sah die Mutter des Kindes ja, wie gut es aufgehoben war! Es scheint, sie war eben eine kränkliche Person, und nach zwei oder drei Jahren starb sie. Der Pächter selbst überwand diesen Schlag und den Druck der Verhältnisse nicht. Obwohl mein Vater ihm alle möglichen Anerbietungen von Erleichterung seiner Pacht, von Vorschüssen bedeutender Summen machte, die er ihm zur Verfügung stellte, der eigensinnige Mann wollte nichts annehmen.«

»Er war vielleicht zu stolz, sich ein Kind abkaufen zu lassen, zu erzürnt auf Ihren Vater, der sein Ansehen dazu mißbrauchte, ihm sein Kind vorzuenthalten?«

»Gott weiß es, ich weiß nur, daß der Pächter in den zerrüttetsten Vermögensverhältnissen anderthalb Jahre nach seiner Frau ebenfalls starb.«

»Das ist eine sehr traurige Geschichte!« sagte Friedrich mit einem Seufzer.

»Es ist eine traurige Geschichte«, entgegnete die Gräfin, »und der erste Theil derselben endet mit noch einem Trauerfall, der bald darauf eintrat … die Gemahlin meines Vaters starb an einer Gehirnaffection.«

»Auch sie!« fiel Friedrich Hild ein. »Und der Knabe? Seine Rolle als Grafenkind war nun zu Ende? Der kleine Mohr hatte seine Schuldigkeit gethan … er konnte gehen?«

»Es scheint«, sagte die Gräfin, ohne den ironischen Ton, womit Friedrich Hild dies sprach, zu beachten – »es scheint, mein Vater liebte dieses Kind nicht sehr. Er hatte sich im Gegenwart seiner Gattin wohl zu oft zu der Vorstellung herablassen müssen, es als sein eigenes zu behandeln, und es hatte in ihm den fortwährenden Gedanken an den Verlust seines eigenen wach gehalten …«

»Und den Gedanken an die Eltern des Knaben!« sagte Friedrich Hild fast bitter. »Freilich«, fuhr die Gräfin Brechtal fort, »die Beziehungen zu den Eltern des Knaben waren für ihn auch nicht erfreulicher Natur gewesen; aber er war nicht der Mann, sich den Verpflichtungen zu entziehen, welche er gegen den Knaben hatte. Er gab ihn zu einem Pfarrer auf dem Lande, dem er die ganze Sachlage mittheilte, und gab diesem die Vollmacht, für die Erziehung des jungen Menschen zu sorgen, und ihn in die seinem Talente oder seinen Neigungen am Meisten zusagende Lebenslaufbahn zu bringen. Er wies die nöthigen Geldmittel, bis der junge Mensch vierundzwanzig Jahre alt geworden, dem Pfarrer an. Aber er sprach den Wunsch aus, daß die Lage der Dinge für den jungen Mann ein Geheimniß bleibe. Es konnte diesem nichts nützen, daß er von seinen Eltern erfuhr, die ohne nahe Verwandte, ohne alles Vermögen gestorben waren; der junge Mann konnte sich verführen lassen, weitere Ansprüche an meinen Vater zu erheben; er konnte in den Verpflichtungen meines Vaters einen Rückhalt sehen, der ihn abhielt, durch eigene Anstrengung sich ein unabhängiges Schicksal zu gründen …«

»Freilich«, bemerkte Friedrich Hild ironisch, »es empfahl sich in jeder Beziehung, den jungen Mann über seine Herkunft im Dunkel zu lassen!«

»Und das ist geschehen«, sagte die Gräfin; »auch hat mein Vater nie meiner jetzt in Wien lebenden Mutter, seiner zweiten Frau, etwas von der Angelegenheit gesagt, und wie ich Ihnen angab, bin ich erst durch den Nachlaß meines Vaters über alles das, was ich Ihnen mitgetheilt habe, in Kenntniß gesetzt worden. Ich habe daraus auch den Namen des Pächters, den Wohnort des Pfarrers ersehen und mich sofort entschlossen, den Pfarrer, wenn er noch leben sollte, aufzusuchen, um zu erfahren, wohin der Knabe gekommen, was aus ihm geworden, ob die gute Absicht meines Vaters gewissenhaft ausgeführt sei, und ob es noch Pflichten gegen ihn zu erfüllen gebe. Ich habe, um offen zu sein, geglaubt, es gebe noch Pflichten gegen ihn zu erfüllen. Und deshalb habe ich Nachforschungen anstellen lassen. Der Pfarrer war todt; aber es gab Leute genug in jenem Dorfe, die sich des Knaben erinnerten; Einige wußten, er sei auf eine Klosterschule gesendet, Andere, daß er Briefe aus Venedig geschrieben – der alte Schulmeister behauptete, vom seligen Herrn Kuratus gehört zu haben, der Friedrich sei Zeichner einer Tapetenfabrik geworden, er habe zum Zeichnen seit je eine besondere Neigung verspürt und alle Wände mit seinen Kohlenzeichnungen bedeckt. Also er war ein Stück Künstler geworden und hatte sich längere Zeit in Venedig aufgehalten – das war das Ergebniß meiner Fahrt in jenes Dorf, nach jenem Hellstetten, wo der alte Pfarrer Streifler gelebt hatte … es war aber auch Alles, denn den Namen des Knaben erfuhr ich nicht … daß er Helfenstein wie sein Vater, der Pachter, hieß, genannt worden, davon wußte Niemand etwas; Alle, die sich seiner erinnerten, betheuerten, er habe nie einen andern Namen als Friedrich gehabt.

Ich beabsichtigte den Winter in Rom, den Sommer in Sorrent oder auch hier in Frascati zuzubringen. Der Entschluß, die Reise über Venedig zu machen und dort Nachforschungen anzustellen, lag nahe. Ich war im vorigen Spätherbst zwei Monate in Venedig. Die Erkundigungen, die ich dort in den zwei oder drei untergeordneten Tapetenfabriken anstellen ließ, führten zu keinem Ergebniß. Aber etwas gewann ich dadurch, daß ich meinen Wunsch dem Statthalter mittheilte. Er ließ einen Beamten der Polizei kommen, und dieser berichtete nach wenig Tagen, daß sich ein Maler Friedrich Hild, mit einem Paß aus St. Florian versehen, dort mehrere Jahre aufgehalten habe, der nach den Polizeiregistern aus Hellstetten daheim sei, und bei dessen Namen sich der weitere Vermerk: Paßvia zur Reise nach Florenz und Rom 19. September 1860 finde.

Friedrich Hild also hieß er, und sein Aufenthalt mußte Rom sein. Ich kam nach Rom. Ich erkundigte mich bei den Künstlern, die ich aufsuchte, nach dem Maler Friedrich Hild. Er war in Ostia und machte dort Wasser-, Licht- und Wolkenstudien – dann hieß es plötzlich, er sei schon lange zurückgekehrt gewesen, und jetzt eben nach Frascati gezogen. Ueber seine Verhältnisse wußte man mir nur anzugeben, daß er schon mehrere Jahre in Italien lebe, aber nie einem Freunde über Angehörige geredet habe; er sei über Alles, was seine Herkunft angehe, verschlossen und schweigsam. Das konnte mir nur bestätigen, daß ich auf der rechten Fährte sei. Als ich mir die Sicherheit verschafft, daß Sie wirklich hier in Frascati seien, gab ich den Gedanken an den Sommeraufenthalt in Sorrent auf, wandte mich hierher, fand die Villa Falconieri miethfrei und bezog sie … und was seitdem geschehen, wissen Sie – lieber Hild!«

Die Gräfin sagte diese Worte fast in zärtlicher Weise und legte ihre offene Hand auf den Tisch, um sie dem Maler zu geben.

»Was seitdem geschehen, weiß ich«, sagte dieser in einem Tone, der nichts von seiner früheren Bitterkeit verloren hatte, und ohne die ihm dargebotene Hand zu nehmen. »Sie handelten mit aller empfehlenswerthen Vorsicht, gnädigste Gräfin.«

»Das that ich«, fuhr sie, ein wenig verwundert über diese seltsame Kälte, fort. »Ehe ich dazu überging, mit Ihnen zu reden, wie ich heute mit Ihnen rede, mußte ich meiner Sache sicher sein; es wäre gewissenlos gewesen, Ihnen Hoffnungen zu erregen, die sich bei näherer Ergründung der Sache chimärisch erwiesen hätten. Es konnte mehr als ein Hellstetten in der Welt geben, es konnte mehr als ein Maler aus diesem Orte hervorgegangen sein, und wenn auch der Vorname Friedrich, der mir schon aus den Papieren meines Vaters bekannt war, mit dem Ihrigen stimmte, so …«

»So war es doch möglich«, fiel Friedrich Hild ein, »daß sich dieser Friedrich als ein Mensch erwies, mit dem es räthlicher war, keine Berührungen zu suchen! Ihr Mohr, der zuerst meine Bekanntschaft machen mußte, hat mir, wie es scheint, ein befriedigendes Sittenzeugniß ausgestellt!«

»Sie sagen das in einem Tone, als nähmen Sie mir meine Vorsicht übel«, sagte die Gräfin mit einem gnädigen Lächeln – »aber Sie, haben darin Unrecht. Als Frau, die in dieser Sache ganz für sich allein handeln mußte, war Besonnenheit doppelte Pflicht für mich. Ich habe nur Fräulein Charlotte, der ich in Allem völlig vertrauen kann, dabei ins Geheimniß gezogen; sie hat der Sache ihr größtes Interesse zugewandt und gern meine Bitte erfüllt, die Hauptaufgabe zu übernehmen, nämlich Ihr Vertrauen zu gewinnen und Ihnen Angaben über Ihre Verhältnisse zu entlocken, die uns die Ueberzeugung verschaffen konnten, daß ich mich nicht geirrt hatte. Sie ist so klug und einsichtig, – sie konnte ja auch viel unbefangener mit Ihnen verkehren, als ich es vermochte – und so war sie schon gestern im Stande mir zu sagen: Es ist kein Zweifel … er ist es, den Sie suchen!«

Die Gräfin legte ihm bei diesen Worten noch einmal in herzlichster Weise die offene Hand hin.

Friedrich Hild nahm diese Hand abermals nicht. Er bemerkte sie gar nicht, wie es schien. Er schüttelte den Kopf und dann sagte er seufzend:

»Also deshalb hatte Fräulein Charlotte die Güte, so herzlich und freundschaftlich mit mir zu plaudern … um mich auszuhorchen!«

Er sprach diese Worte mit einem Ton äußerster Bitterkeit; auf einen Zügen lag ein Ausdruck schmerzlichster Enttäuschung; ein Ausdruck, als ob er sich selber tief beklage, daß man ein Spiel mit ihm habe treiben können; ein Zucken der Mundwinkel wie das eines Menschen, der eine große Hoffnung untergehen sieht.

»Allerdings«, antwortete die Gräfin, »Sie haben ein wenig rasch dem freundlichen Entgegenkommen Charlottens eine Deutung gegeben, welche wir nicht in den Kreis unserer Voraussicht gezogen hatten, obwohl sie vielleicht ganz natürlich war. Charlotte hat mir Ihren Brief an sie gezeigt, ein wenig beunruhigt, bestürzt, verletzt …«

»Ein wenig bestürzt und verletzt!« versetzte Friedrich Hild unsäglich gedemüthigt.

»Und ich habe ihr die Antwort ohne Unterschrift, die Sie erhielten, dictirt. Ich sah, daß es Gewissenspflicht war, keinen Augenblick länger ein verhängnisvolles Mißverständniß bestehen zu lassen und Ihnen die Wahrheit zu enthüllen. Ich war es Ihnen schuldig und ich war es Charlotten schuldig, die mein Auftrag einer solchen Mißdeutung ausgesetzt hatte. Sonst hätte ich Sie nicht schon heute zu dieser heimlichen Unterredung herbeschieden. Ich muß wünschen, unsere Angelegenheit ohne persönliches Eingreifen meines Gemahls zu ordnen. Mein Gemahl würde das Gefühl der Theilnahme und der bleibenden Verpflichtungen, die ich gegen Sie zu haben glaube, nicht begreifen, und deshalb störend, hindernd zwischen uns treten. Ich aber weiß, ich habe Verpflichtungen gegen Sie. Was mein Vater gethan, hat vielleicht, wer weiß es, den ersten Grund zu dem unglücklichen Ende Ihrer Eltern gelegt; vielleicht wäre sonst für Sie Alles anders gekommen, Ihre Mutter hätte sich von ihrem Leiden erholt, Ihr Vater wäre wohlhabend geblieben, er hätte Ihnen ein kleines Vermögen hinterlassen, und Sie hätten eine Heimat gehabt, die Sie, wie Charlotte mir sagt, so schmerzlich vermissen. Ich habe das Alles sehr wohl überdacht und mit Charlotte oft durchsprochen. Ich habe die Pflicht, Sie zu entschädigen, so viel ich kann. Ich bin die einzige Erbin meines Vaters und verwalte mein Vermögen selbstständig. Das ist ein großes Glück für mich und für Sie, denn ich bin nun im Stande, Ihnen eine gesicherte Zukunft zu schaffen. Sie sollen in allen Lagen eine Zuflucht wie zu einer Verwandten bei mir finden; ich werde ein Kapital von 50 000 Gulden für Sie bei Ihrem Bankier niederlegen …«

»Halten Sie ein, halten Sie ein, Frau Gräfin!« unterbrach sie Friedrich Hild, dem, während sie sprach, eine Fluth von Gedanken durch den Kopf gegangen war, – »ich bin Ihnen dankbar für Ihre gute Absicht, aber ich werde sie nicht annehmen können.«

»Und weßhalb nicht?« fragte die Gräfin, die sich in eine gewisse Aufregung hineingeredet hatte, mit dem Tone äußerster Ueberraschung.

»Weßhalb – weßhalb nicht?« fuhr Friedrich fort, indem er seinen Hut nahm … »ich könnte sagen, weil ich nicht in der Stimmung bin, mir 50 000 Gulden schenken zu lassen … aber es ist mehr als das, ich bin überzeugt, daß Sie im Irrthume sind. Ich bin nicht der, den Sie suchen, es ist das eine falsche Annahme … eine reine Chimäre!«

»Unmöglich!« rief die Gräfin jetzt ebenfalls aufspringend aus, »es trifft ja Alles aufs Genaueste zu …«

»Es trifft nichts zu!« fiel Friedrich Hild ein, in dem er zornig seine Handschuhe anzog, »nichts, gar nichts! Als ich sah, daß Fräulein Charlotte so neugierig sich nach meinen Verhältnissen erkundigte, habe ich ihr natürlich Dinge vorgeplaudert, wie sie mir just einfielen, wie sie just die leichtgläubige Neugier einer solchen Dame am Besten spannen und befriedigen konnten. Ich habe mir eine abenteuerliche Herkunft angedichtet … Du lieber Gott, ich habe damit kokettiert, wenn Sie wollen … ich war zu eitel, zu gestehen, daß ich der richtige eheliche Sprosse von Gevatter Schneider oder Handschuhmacher sei. Durch eine unglückselige Aehnlichkeit zwischen meinem Märchen und der Geschichte, welche Sie mir mittheilen, ist dieser Irrthum entstanden … ich bedaure das aufs Tiefste, Frau Gräfin, und …«

»Aber, mein Gott!« fiel die Gräfin ganz verwirrt ein, »wer, woher wären Sie denn?«

»Nehmen Sie immerhin an, ich sei aus Sanct Florian daheim, der Sohn eines ehrlichen Seifensieders … was kann Sie meine Genealogie weiter interessiren? … es ist spät, Frau Gräfin, sehr spät … ich danke Ihnen für die Güte, welche Sie mir erwiesen … ich werde mit Verehrung an Sie denken … leben Sie wohl … leben Sie wohl!«

Er warf seinen Hut auf den Kopf und stürmte davon.

Die Gräfin stand sprachlos.

Hatte sie sich wirklich geirrt? Unmöglich! Oder war dieser Mensch verrückt?!



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